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Styler Ornament

Rolf Peter Sieferle: Epochenwechsel und Merkelrepublik

Styler Ornament

Es lohnt, Rolf Peter Sie­fer­le zu lesen – gera­de für den Kon­ser­va­ti­ven, der gemein­hin latent fas­sungs­los vor vie­len poli­ti­schen wie welt­an­schau­li­chen Ent­wick­lun­gen der bun­des­deut­schen Gegen­wart steht. Als Hoch­schul­pro­fes­sor gesät­tigt mit dem Bil­dungs­ka­non des aka­de­mi­schen Nach­kriegs­mi­lieus, wen­det er des­sen kri­ti­sches Instru­men­ta­ri­um nicht nur, wie es der intel­lek­tu­el­len Mode ent­spricht, auf das “alte Euro­pa” an, son­dern auch auf die Ent­wick­lun­gen der Gegen­wart. Sie­fer­le gelangt so zu einer sub­stan­zi­el­len Gegen­warts­ana­ly­se, die für eine kon­struk­ti­ve Kri­tik sehr viel mehr zu leis­ten ver­mag als der oft gehör­te hilf­lo­se Ver­weis auf den “gesun­den Men­schen­ver­stand” oder gar dem Auf­wär­men von Begrif­fen und The­sen der Wei­mar-Kon­ser­va­ti­ven der 1920er Jah­re, deren Radi­ka­li­tät oft nur not­dürf­tig ihr eben­so hilf­lo­ses Aus-Der-Zeit-Gefal­lens­ein kaschiert.

Sie­fer­le dage­gen hat nicht zuletzt auch die spe­zi­fi­schen Ver­wer­fun­gen der Nach­kriegs­ge­schich­te, der bun­des­deut­schen Nach­kriegs­men­ta­li­tät direkt vor Augen, der fun­da­men­ta­le Bruch vor allem, den die Deut­schen 1945 erle­ben und den Cha­rak­ter der deut­schen Gesell­schaft grund­le­gend ver­än­dern – die­sen erfährt, durch­lebt und durch­denkt er als Ange­hö­ri­ger sei­ner Gene­ra­ti­on, wäh­rend Libe­ra­lis­mus­kri­ti­ker wie Carl Schmitt oder Ernst Jün­ger noch eine voll­kom­men ande­re Gesell­schaft beschrei­ben und damit eine poli­tisch-gesell­schaft­li­che Kri­tik, die auf ihrer Rezep­ti­on beruht, in der Regel nur in über­for­der­te Fun­da­men­tal­kri­tik mün­den kann, sofern es um die Aus­ein­an­der­set­zung mit zeit­ge­nös­si­schen Phä­no­me­nen wie den Erfolg Ange­la Mer­kels oder den Auf­stieg der Grü­nen geht.

I.

In die­sem Sin­ne soll hier kei­ne umfas­sen­de Werk­schil­de­rung ver­su­chen, son­dern viel­mehr den Blick auf ein ein­zel­nes, aber doch hoch­gra­dig bezeich­nen­des Phä­no­men len­ken: die deut­sche Will­kom­mens­kul­tur und dem damit ver­bun­de­nen Begriff von Huma­ni­ta­ris­mus, von Moral und Ver­ant­wor­tung. Seit 2015 wei­sen Kri­ti­ker auf die Sinn­lo­sig­keit die­ser Poli­tik, sogar bei Aner­ken­nung ihrer eige­nen Prä­mis­sen, hin. Von 20 Mil­lio­nen Syrern sind unge­fähr 10 Mil­lio­nen auf der Flucht, davon hat Deutsch­land in einem bei­spiels­lo­sen Kraft­akt, dem kein ande­res euro­päi­sches Land auch nur annä­he­rungs­wei­se sich anschlie­ßen woll­te, ca. 500 000 auf­ge­nom­men. Das sind, in Zah­len aus­ge­drückt: 5 Pro­zent. Die­sen 5 Pro­zent, zu denen auf­grund der wei­ten, teu­ren Anrei­se nicht etwa die Ver­zwei­fel­ten, Armen oder Kran­ken zäh­len, son­dern im Gegen­teil mehr­heit­lich die wohl­ha­ben­de, syri­sche Ober­schicht, die vor­her bereits jah­re­lang im Liba­non, der Tür­kei oder Jor­da­ni­en ein auf­grund der eige­nen Ver­mö­gens­ver­hält­nis­se rela­tiv akzep­ta­bles Leben führ­te, ermög­licht nun die deut­sche Gesell­schaft ein para­die­si­sches, neu­es Leben in einem der reichs­ten Län­der der Welt.

Woh­nung, Lebens­un­ter­halt, Umschu­lung, Aus­bil­dung, Sprach­kurs – alles kom­plett vom deut­schen Staat finan­ziert. Ein Traum für die rei­che Eli­te, wäh­rend 95% der syri­schen Flücht­lin­ge wei­ter­hin viel­fach in Armut und Ver­zweif­lung in unter­fi­nan­zier­ten Flücht­lings­camps dahin­sie­chen – was aber eigen­ar­ti­ger­wei­se kaum von einem deut­schen Jour­na­lis­ten the­ma­ti­siert zu wer­den scheint. Im Gegen­teil: ein Sturm der Empö­rung bricht nur los, wenn inner­halb des deut­schen Bin­nen­kos­mos bei­spiels­wei­se ein Zahn­arzt kei­ne kopf­tuch­tra­gen­de Mus­li­ma ein­stel­len will. Falls dage­gen in der Tür­kei arme syri­sche Fami­li­en ihre Töch­ter an tür­ki­sche Poly­ga­mis­ten als Zweit- oder Dritt­frau­en ver­scha­chern müs­sen, um über die Run­den zu kom­men (vom Geld für einen Schlep­per nach Deutsch­land kön­nen die­se Fami­li­en nur träu­men), bleibt das ledig­lich eine Rand­no­tiz, obwohl die Schick­sa­le dahin­ter weit­aus schreck­li­cher sind.

Es wäre kei­ne gro­ße Her­aus­for­de­rung gewe­sen, hät­ten die Deut­schen ihre Mil­li­ar­den und ihre fana­ti­schen NGO-Akti­vis­ten in die Flücht­lings­la­ger des Nahen Ostens geschickt, um dort die wirk­li­che Unzahl an Ver­trie­be­nen, an Alten, an Kran­ken, an Armen bis Kriegs­en­de men­schen­wür­dig zu ver­sor­gen. Daß die­se oder ver­gleich­ba­re Optio­nen nicht ein­mal dis­ku­tiert wur­den, obwohl es objek­tiv der klü­ge­re Ansatz wäre, ist zunächst ein­mal durch­aus rätselhaft.

Dar­über­hin­aus, was hier nicht unbe­ach­tet blei­ben soll, weil es durch sei­ne struk­tu­rel­le Ähn­lich­keit frap­piert: auch die deut­sche Kli­ma­ret­tungs­s­stra­te­gie wie­der­holt aktu­ell das Hand­lungs­sche­ma der Flücht­lings­kri­se: durch einen innen­po­li­ti­schen Kraft­akt, des­sen undurch­dach­te Destruk­ti­vi­tät durch Beschwö­run­gen des Mensch­heits­wohls auf­ge­wo­gen wird, will ein win­zi­ges Land das Welt­kli­ma ret­ten. Die Pro­zent­zah­len sind sogar ver­gleich­bar: wo in der “Flücht­lings­kri­se” ca. 5% der syri­schen Flücht­lin­ge auf­ge­nom­men wur­den, arbei­ten sich die Deut­schen in der Kli­ma­kri­se nun wacker an den von ihren selbst ver­ur­sach­ten 4% des welt­wei­ten CO2-Aus­sto­ßes ab – im stol­zen Bewusst­sein, damit zur Ret­tung der Mensch­heit beizutragen.

II.

Die­se fast schon schi­zo­phre­ne Ver­schrän­kung zwi­schen einem glo­bal-soli­da­ri­schen Anspruch, einer hohen, uni­ver­sel­len Moral und der Fixie­rung auf wir­kungs­lo­se, dafür hoch­emo­tio­nal auf­ge­la­de­ne Bin­nen­kon­zep­te ist nur schwer erklär­bar. Doch in sei­nem bereits 1994 erschie­nen Werk “Epo­chen­wech­sel” bie­tet Rolf Peter Sie­fer­le dafür einen Erklä­rungs­an­satz. Denn die­se Absur­di­tät ist nicht neu, Sie­fer­le selbst erleb­te sie bereits Anfang der 90er bei 2 mitt­ler­wei­le his­to­ri­schen Kri­sen: dem Bal­kan­krieg und dem Irakkrieg.

“Wel­che Pro­ble­me den Deut­schen die­se Men­ta­li­tät berei­tet, wird in dem sprach­lo­sen Ent­set­zen erkenn­bar, das sie ergreift, wann immer der Gro­ße Behe­mo­th das Haupt erhebt, zuletzt anläss­lich des Golf­kriegs und der jugo­sla­wi­schen Sezes­si­ons- und Anschluß­krie­ge. Sofort arti­ku­liert sich das Bedürf­nis, in sol­chen Kon­flik­ten nicht das Ele­ment poli­ti­scher Gegen­sätz­lich­keit zu sehen, son­dern sie in Begrif­fe der Sonn­tags­schu­le zu über­set­zen. Vor allem müs­sen die Böcke von den Scha­fen geschie­den wer­den, man muss sich zumin­dest men­tal auf die Sei­te der guten gegen die bösen Buben stel­len. Es kam dabei zu recht amü­san­ten Defi­ni­ti­ons­que­re­len: Die einen sahen in Sad­dam Hus­sein nichts ande­res als einen “zwei­ten Hit­ler”, also eine Reinkar­na­ti­on des Bösen schlecht­hin. Die ande­ren ver­däch­tig­ten eher die Alli­ier­ten der Schlecht­heit, “Blut für Öl” ein­set­zen zu wol­len, ohne aller­dings den kon­se­quen­ten Schluß zu zie­hen, im Namen des Anti­im­pe­ria­lis­mus offen Par­tei für den­je­ni­gen zu ergrei­fen, der sich bereits (fast) ohne Blut­ver­gie­ßen in den Besitz des Öls gebracht hat­te. Das Moral­la­ger kipp­te jedoch dann sofort in rei­ne lar­moy­an­te Neu­tra­li­tät um, als Sad­dam Hus­sein den pro­pa­gan­dis­ti­schen Feh­ler beging, mit Hil­fe einer Ölpest unschul­di­ge See­vö­gel zu ersti­cken. Mit einer sol­chen Bes­tie woll­te man nun nichts mehr zu tun haben. Also ließ man die wei­ßen Laken der bedin­gungs­lo­sen Kapi­tu­la­ti­on wehen.

Auf die Spit­ze der Absur­di­tät wur­de die­ses Ver­fah­ren ange­sichts des neu­en Bal­kan­kriegs getrie­ben. Einer­seits schlug das Herz jedes guten Men­schen für die Opfer die­ses grau­sa­men Natio­na­li­tä­ten­kon­flikts, und man mach­te sich fie­ber­haft dar­an, die “wah­ren Schul­di­gen” zu iden­ti­fi­zie­ren. Sobald man die­se in den Ser­ben fest­ge­stellt zu haben glaub­te, wur­de sogleich die For­de­rung laut, den von ihnen bedroh­ten Unschul­di­gen zu “hel­fen”. Wie hilft man aber einer Par­tei inner­halb eines Par­ti­sa­nen- und Bür­ger­kriegs? Beschwö­run­gen von “fried­li­chen Lösun­gen auf dem Ver­hand­lungs­weg” wie­der­ho­len zwar das Erfolgs­re­zept der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Außen­po­li­tik; inner­halb einer Wirk­lich­keit aber, in der für die Bür­ger­kriegs­kom­bat­tan­ten offen­sicht­lich der Krieg nicht das größ­te aller Übel ist, son­dern wei­ter­hin als legi­ti­me Ulti­ma Ratio der Poli­tik gilt, ist die Behaup­tung, Krieg sei kein Mit­tel der Poli­tik, ein­fach nur sach­lich falsch, wenn auch nor­ma­tiv ver­ständ­lich. Die Ulti­ma Ratio der “huma­ni­tä­ren Hil­fe” müss­te sich somit als mili­tä­ri­sche Inter­ven­ti­on herausstellen.

Man konn­te nun in der Tat beob­ach­ten, daß gleich­zei­tig eine sol­che die Streit­häh­ne tren­nen­de Inter­ven­ti­on gefor­dert und eine Betei­li­gung Deutsch­lands dar­an aus­ge­schlos­sen wur­de. Hier han­del­te es sich zunächst um eine blo­ße Repri­se alter bun­des­re­pu­bli­ka­ni­scher Denk­ge­wohn­hei­ten: Für den Ernst­fall sind eben die Sie­ger­mäch­te zustän­dig. Deutsch­land selbst geht von der Erfah­rung aus, daß Krie­ge nur unnö­ti­ge Opfer kos­ten und schließ­lich in einer Nie­der­la­ge enden. Es begnügt sich also damit, mora­li­sche Pos­tu­la­te auf­zu­stel­len, Geschäf­te zu machen und publi­zis­tisch mit frem­den Säbeln zu rasseln.”

Dabei belässt Sie­fer­le es natür­lich nicht bei die­ser fast schon ans Sati­ri­sche gren­zen­den Schil­de­rung, son­dern forscht in “Epo­chen­wech­sel” der Men­ta­li­täts­ge­schich­te des zeit­ge­nös­si­schen Deutsch­land nach.

Sie­fer­le denkt die Nati­on von sei­ner Gren­ze, sei­ner Sou­ve­rä­ni­tät, sei­ner Not­wen­dig­keit zur Selbst­er­hal­tung her, die ihm sowohl poli­ti­schen wie gesell­schaft­li­chen Stil zu gene­rie­ren schei­nen. Nach Kriegs­en­de fin­det sich Deutsch­land aller­dings in einer para­do­xen Situa­ti­on wie­der: es ist nicht län­ger sou­ve­rän, und da die Sie­ger­mäch­te das Land in zwei Pro­tek­to­ra­te auf­ge­teilt haben und hier nun ihren Kon­flikt des “Kal­ten Krie­ges” aus­tra­gen, sind sie gar nicht instand gesetzt, die poli­ti­sche Ebe­ne zu betre­ten, wor­in Anstren­gun­gen zur Selbst­er­hal­tung auf sich genom­men wer­den müssten.

“Gro­ße poli­tisch-mili­tä­ri­sche Funk­ti­ons­be­rei­che fie­len jetzt aus, da ihre Defi­ni­ti­on jen­seits der Ent­schei­dungs­ge­walt der Bun­des­re­pu­blik lag. Der Stil des Gemein­we­sens wur­de ent­mi­li­ta­ri­siert und ent­po­li­ti­siert. […] Die poli­ti­schen Groß­st­uk­tu­ren, die Kon­tu­ren der Kräf­te­ver­tei­lung, des mili­tä­ri­schen Gleich­ge­wichts und der Sor­ge um die glo­ba­len Ein­fluß­sphä­ren lagen weit jen­seits der Dis­po­si­ti­on deut­scher Poli­ti­ker. Die Poli­tik konn­te zur rei­nen Innen­po­li­tik wer­den, zur Insti­tu­tio­na­li­sie­rung und Ritua­li­sie­rung von Ver­tei­lungs­kämp­fen, der von grö­ße­ren, nur indi­rekt beein­fluß­ba­ren Kräf­ten gesetzt und garan­tiert war. Zu die­sem Mus­ter paß­te die weit­ver­brei­te­te Über­zeu­gung, Außen­po­li­tik sei nichts ande­res als ein Reflex der Innenpolitik.”

Gleich­zei­tig führt die Auf­ar­bei­tung des Drit­ten Reichs zu einer umfas­sen­den mora­li­schen Neu-Defi­ni­ti­on, was durch den Import anglo­ame­ri­ka­ni­scher Poli­tik­sti­le, die im Gegen­satz zur deut­schen Poli­tik­tra­di­ti­on den Staat eher als Frei­heits­be­dro­hung denn als Sta­bi­li­täts­ga­ran­ten betrach­ten, wei­ter ver­tieft wird.

“Macht- und Außen­po­li­tik gerie­ten in der intel­lek­tu­el­len Sze­ne zuneh­mend in den Ruch des Unmo­ra­li­schen. […] Es bil­de­te sich eine cha­rak­te­ris­ti­sche Kom­ple­men­ta­ri­tät von sys­te­mi­scher Struk­tur der “bür­ger­li­chen Gesell­schaft” und dem gren­zen­lo­sen Aus­schwei­fen des eman­zi­pier­ten, auf Selbst­ver­wirk­li­chung set­zen­den Indi­vi­du­ums, das sämt­li­che Ansprü­che einer auf Dis­zi­plin und Gemein­wohl­ori­en­tie­rung ver­pflich­ten­den poli­ti­schen Tugend empört von sich wies. […] Die­se Ent­po­li­ti­sie­rung im Schat­ten der bei­den ein­an­der feind­lich gegen­über­ste­hen­den Hege­mo­ni­al­mäch­te hat sich in einer merk­wür­di­gen Kar­rie­re des Uni­ver­sa­lis­mus  nie­der­ge­schla­gen, das in der Bun­des­re­pu­blik zum unbe­frag­ten, selbst­ver­ständ­li­chen Daseins­prin­zip wer­den konnte.”

Im letz­ten Satz nun for­mu­liert Sie­fer­le eine eigen­wil­li­ge, dia­lek­ti­sche Keh­re, die er im bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen (es ist nur der West­teil, den Sie­fer­le betrach­tet – das soll­te, auch vor dem Hin­ter­grund aktu­el­ler Ost-West-Pola­ri­sie­run­gen, in Betracht blei­ben) Cha­rak­ter ent­deckt. Sei es Dia­lek­tik, sei es psy­cho­pa­tho­lo­gi­sche Sub­li­mie­rung, doch: umso stär­ker die poli­ti­sche Sphä­re ent­po­li­ti­siert wird, des­to mehr ent­deckt der Deut­sche den Uni­ver­sa­lis­mus – wo ein Eige­nes im Inne­ren und Äuße­ren auf­grund der durch Besat­zung, Libe­ra­lis­mus und Kal­tem Krieg erzwun­ge­nen Ent­po­li­ti­sie­rung nicht mehr mög­lich ist, beginnt der West­deut­sche sei­nen poli­ti­schen Taten­drang auf die Ebe­ne eines all­ge­mei­nen mora­li­schen Uni­ver­sa­lis­mus zu heben, sei­ne Idea­le auf die gan­ze Mensch­heit zu projizieren.

“Die­ser Uni­ver­sa­lis­mus spe­zi­fisch deut­scher Prä­gung hat zwei Facet­ten, die ein­an­der feind­lich gegen­über­ste­hen, aber inso­fern Gemein­sam­keit besit­zen, als bei­de auf der Prä­mis­se beru­hen, von wirk­li­chen poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen ent­bun­den zu sein: Öko­no­mie und Protest.”

Die öko­no­mi­sche Sei­te ist bekannt, und wird mitt­ler­wei­le als “Glo­ba­li­sie­rung” und “Neo­li­be­ra­lis­mus” viel­fach dis­ku­tiert. Hier kann uns Sie­fer­le nichts Neu­es erzäh­len. Doch wenn er beginnt,  den “Pro­test” zu schil­dern, wer­den wir einer Aktua­li­tät gewahr, die hell­hö­rig macht.

“Wie der Waren­ex­por­teur nur den abs­trak­ten, kauf­kräf­ti­gen Kon­su­men­ten sieht, so sieht der mora­li­sche Pro­test­ler nur den abs­trak­ten Men­schen jen­seits aller inter­me­diä­ren, ein­bin­den­den Gewal­ten. Die­ser Mora­lis­mus ist inso­fern unpo­li­tisch, als er die Welt unter­schei­dungs­los mit sei­nen abs­trak­ten For­de­run­gen über­zieht. Er kann dies umso bes­ser, als er ins­ge­heim weiß, daß sei­ne gren­zen­lo­sen For­de­run­gen ohne Kon­se­quenz blei­ben wer­den. Er kann daher buch­stäb­lich “alles” wol­len: Frie­den, Wohl­stand und Glück für jeden, und zwar hic, nunc und subi­to. Da der Pro­tes­tie­ren­de fern von jeder wirk­li­chen Macht ist, kann er das klas­si­sche, gesin­nungs­ethi­sche Pro­gramm ent­fal­ten. Für die poli­ti­sche Kul­tur West­deutsch­lands hat­te dies aber schwer­wie­gen­de Kon­se­quen­zen: In dem Maße, wie sei­ne Poli­ti­ker sich in einem Rah­men beweg­ten, der für sie die Mög­lich­keit fol­gen­schwe­rer poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen aus­schloß, wan­der­ten Ele­men­te des abs­trak­ten gesin­nungs­ethi­schen Mora­lis­mus auch in die Staats­po­li­tik ein.”

Die Bun­des­re­pu­blik, die Sie­fer­le hier beschreibt, zeich­net sich durch ein cha­rak­te­ris­ti­sches Nichts­tun aus, in des­sen Schat­ten eine ver­win­kel­te Kunst mora­li­schen Appel­lie­rens ent­wi­ckelt wird, einer dem Pro­fa­nen ent­ho­be­nen Pries­ter­kas­te ähn­lich, die als eif­ri­ger Mah­ner stolz die Ver­in­ner­li­chung der Leh­ren aus der Ver­gan­gen­heit prä­sen­tiert, und dar­aus ein post-heroi­sches, avant­gar­dis­ti­sches Eli­te­be­wusst­sein zieht. Auch auf die Rol­le des Natio­nal­so­zia­lis­mus, des­sen Auf­ar­bei­tung auf qua­si-reli­giö­se Wei­se ein neu­es Koor­di­na­ten­sys­tem von gera­de­zu kos­mi­scher Unbe­dingt­heit erzeugt, wor­auf die west­deut­sche Nach­kriegs­ge­sell­schaft sich nun for­miert, wer­tet und iden­ti­fi­ziert, weist Sie­fer­le hin:

“Jede Geschichts­kon­struk­ti­on ist das Werk einer Gegen­wart, die damit bestimm­te ideo­lo­gi­sche Zie­le ver­folgt, nach Sinn und Ori­en­tie­rung sucht oder kon­kre­te Freund-Feind-Ver­hält­nis­se fest­stel­len möch­te. […] “Ausch­witz” bil­det inso­fern einen Mythos, als es sich bei dem in die­sem Namen evo­zier­ten Mas­sen­mord an den euro­päi­schen Juden um eine Wahr­heit han­delt, die der Dis­kus­si­on ent­zo­gen ist. Dadurch wird inmit­teln einer mora­lisch fluk­tu­ie­ren­den Welt ein neu­er archi­me­di­scher Punkt fixiert, der die Funk­ti­on eines sinn­stif­ten­den Mythos gewin­nen kann.”

“Als Holo­caust steht der natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Völ­ker­mord für einen fun­da­men­ta­len und extre­men Ver­stoß gegen das Prin­zip des huma­ni­tä­ren Uni­ver­sa­lis­mus. Die Ulti­ma ratio einer Leug­nung des Prin­zips uni­ver­sa­ler Men­schen­rech­te wird sicht­bar, wenn ein Teil der Mensch­heit einen ande­ren Teil der Mensch­heit zu Un-Men­schen erklärt und an des­sen phy­si­sche Aus­rot­tung geht. […] “Ausch­witz” oder “Hit­ler” ste­hen für die tota­le, his­to­risch real gewor­de­ne Nega­ti­on der Men­schen­wür­de. […] Gera­de die­ser Ver­such der Ver­nich­tung einer (völ­kisch-ras­si­schen) Beson­de­rung, der Juden, im Namen einer ande­ren (völ­kisch-ras­si­schen) Beson­de­rung, der Deut­schen, ist aber das extrems­te Demen­ti des huma­ni­tä­ren Uni­ver­sa­lis­mus bzw. der Idee der Mensch­heit und ihrer unver­äu­ßer­li­chen Rech­te. Mit dem “Faschis­mus” ist daher der Anti-Mensch auf­ge­tre­ten, so daß der “Anti-Faschis­mus” zur Reli­gi­on des Men­schen wer­den kann, die ihre Sym­bo­le in eben die­ser Nega­ti­on des Men­schen findet.”

Als expli­zi­ter Gegen­pol zur Ras­sen­leh­re der Natio­nal­so­zia­lis­ten gewinnt der mora­lisch-poli­ti­sche Uni­ver­sa­lis­mus sei­ne exis­ten­zi­el­le Rele­vanz. Als Rück­grat des west­deut­schen Dis­kur­ses, als “archi­me­di­scher Punkt”, der dem plu­ra­lis­ti­schen Wer­te­re­la­ti­vis­mus der Nach­kriegs­zeit Sta­bi­li­tät und Ori­en­tie­rung ver­leiht. Mit die­ser scho­nungs­los ana­ly­ti­schen Dekon­struk­ti­on des Holo­caust als blo­ßes Funk­ti­ons­sys­tem brach­te Sie­fer­le sich womög­lich um sei­ne aka­de­mi­sche Kar­rie­re. Doch jen­seits der Fra­ge, ob nicht objek­tiv tat­säch­lich ein uni­ver­sa­lis­ti­sches Den­ken not­wen­dig ist, um dem Völ­ker­mord in der theo­re­ti­schen Auf­ar­bei­tung zu begeg­nen – was er sich als His­to­ri­ker kom­plett spart -, legt er damit ein Denk­sche­ma frei und dringt so zu einer hoch­in­ter­es­san­ten Fra­ge durch, mit der wir uns lang­sam der Gegen­wart annä­hern: Denn – wie ist ein staat­li­ches Han­deln beschaf­fen, das einer­seits nur Innen­po­li­tik kennt, ande­rer­seits aber als poli­ti­sche Richt­schnur das Wohl der Mensch­heit über natio­na­les Eigen­in­ter­es­se stellt? Das also aus­schließ­lich Innen­po­li­tik betreibt, weil es Außen­po­li­tik als unmo­ra­lisch und reak­tio­när betrach­tet – und doch im Rah­men die­ser Bin­nen­po­li­tik nur uni­ver­sa­lis­ti­sche Idea­le des Mensch­heits­wohls pflegt, da ein genu­in deut­sches Eigen­in­ter­es­se eben­falls als unmo­ra­lisch, gera­de­zu als gefähr­lich gilt?

Noch 1994 kon­sta­tiert Sie­fer­le, das gro­tes­ke Para­do­xon bun­des­deut­schen Den­kens auf­schlüs­selnd, iro­nisch eine blo­ße “Poli­tik­si­mu­la­ti­on”, eine umfas­sen­de “Ent­po­li­ti­sie­rung” der Poli­tik, ein pene­tran­tes Maul­hel­den­tum, das unent­wegt inter­na­tio­na­lis­tisch pro­kla­miert und for­dert, weil es, ähn­lich dem puber­tie­ren­den Teen­ager, ja ins­ge­heim weiß, daß von ihm kei­ne Eigen­ver­ant­wor­tung erwar­tet wird.

III.

Das ist mitt­ler­wei­le 25 Jah­re her. Die­ser Zeit trau­ert der heu­ti­ge Kon­ser­va­ti­ve iro­ni­scher­wei­se mitt­ler­wei­le bit­ter hin­ter­her, es ist eine Zeit, in die noch die Ver­schär­fung des Asyl­rechts durch die Regie­rung Hel­muth Kohls fällt, um die Flut von Asyl­be­wer­bern und Flücht­lin­gen aus dem Bal­kan sinn­voll ein­zu­schrän­ken. In der auch die mitt­ler­wei­le zur Berühmt­heit gekom­me­ne paläs­ti­nen­si­sche Groß­fa­mi­lie Che­b­li noch zwei Mal zurück in den Liba­non abge­scho­ben wird, da es sich dabei um ein siche­res Dritt­land han­delt – in der also noch immer ein prak­ti­zier­ter Unter­schied zwi­schen der uni­ver­sa­lis­ti­schen Gesin­nungs­ethik der Mei­nungs­ma­cher und poli­ti­scher Ratio­na­li­tät besteht.

Jedoch: dadurch, daß die Deut­schen sich dar­an gewöhn­ten, sich poli­tisch in einem abs­trak­ten, mora­li­schem Raum von Appel­len und Pro­tes­ten zu bewe­gen, deren Rea­li­sie­rungs­po­ten­ti­al nie­mals anskiz­ziert wer­den muss­te, weil es kei­nes gab, ver­fes­tigt sich nach Sie­fer­le bereits Anfang der 90er ein neu­er Poli­tik­stil, in des­sen Mit­tel­punkt das so pas­si­ve wie pathe­ti­sche Beschwö­ren theo­re­ti­scher, uni­ver­sel­ler Wer­te steht. Und nun – wir bewe­gen uns über Sie­fer­le lang­sam hin­aus – wächst also eine neue Gene­ra­ti­on her­an, wächst hin­ein in jene bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Sphä­re, auf­ge­la­den und defi­niert von lei­den­schaft­lich mah­nen­der Gesin­nungs­ethik, die zuneh­mend zum guten Ton gehört, zum Hand­werks­zeug gera­de­zu, jedes auf­stre­ben­den Poli­ti­kers, Jour­na­lis­ten oder Kolum­nis­ten wird, des­sen Stim­me nach Aner­ken­nung und Gehör ver­langt. Um so, als neue ideo­lo­gi­sche Avant­gar­de die noch bestehen­den Res­te von Prag­ma­tik, von Ver­ant­wor­tungs­ethik und Real­po­li­tik auf­zu­stö­bern, zu skan­da­li­sie­ren und so die deut­sche Dis­kurs­sphä­re immer wei­ter in eine ritua­li­sier­te Beschwö­rung von Prin­zi­pi­en und Maxi­mal­for­de­run­gen zu treiben.

Die­se neue Gene­ra­ti­on hat mit Sie­fer­le etwas gemein­sam: auch sie nimmt schmerz­lich die fun­da­men­ta­le Kluft zwi­schen Wort und Tat wahr. Doch im Gegen­satz zu ihm, bei dem das Mach­ba­re die Richt­schnur bil­det und damit die man­geln­de Rea­li­täts­taug­lich­keit der deut­schen Nach­kriegs­ideo­lo­gie die feh­ler­haf­te Ent­wick­lung dar­stellt, hat die Gene­ra­ti­on, die nach Sie­fer­le kom­men wird, den huma­ni­tä­ren Uni­ver­sa­lis­mus, die abs­trak­te Gesin­nungs­ethik, mitt­ler­wei­le fest ver­in­ner­licht. Was ihm noch lächer­lich scheint, erscheint den jun­gen Deut­schen empö­rend – für sie ist es die Rea­li­tät, die nun end­lich den Idea­len fol­gen muss, sie neh­men die ritua­li­sier­ten Sonn­tags­re­den, in denen die deut­sche Nach­kriegse­li­te sich für den Man­gel an Ent­schei­dungs­ge­walt mit uto­pi­schen Appel­len ent­schä­digt, für bare Münze.

“Wir kön­nen nicht alle auf­neh­men”, sagt Ange­la Mer­kel im März 2015 nun zum wei­nen­den paläs­ti­nen­si­schen Flücht­lings­mäd­chen Reem. Die­ser Satz ist objek­tiv wahr – den­noch wird er in der Fol­ge das aus­lö­sen, was man mitt­ler­wei­le als “Shit­s­torm” bezeich­net: die deut­schen Medi­en fal­len wütend über die Kanz­le­rin her, beti­teln sie als “empa­thie­los” und “Eis­kö­ni­gin”. Im Herbst dann hat sie, die man als rei­ne Prag­ma­ti­ke­rin der Macht wohl schlicht als gesichts­lo­sen Aus­druck der Zeit anse­hen kann, bereits aus die­ser nega­ti­ven Reso­nanz gelernt. “Wir schaf­fen das.” Der Groß­teil Euro­pas fasst sich ent­setzt an die Stirn, die Rest­welt beob­ach­tet fas­zi­niert das Gesche­hen, und die deut­sche Pres­se jubelt, fei­ert und applau­diert, gerät in eine bis dato kaum gekann­te fie­ber­haf­te, enthu­si­as­ti­sche Akti­vi­tät, als eine nicht-enden­de Völ­ker­wan­de­rung vom Nahen Osten nach Deutsch­land ein­setzt, die erst ver­ebbt, als die ver­zwei­fel­ten ost­eu­ro­päi­schen Län­der im Früh­jahr 2016 die maze­do­ni­sche Gren­ze abriegeln.

“End­lich tun wir etwas!” – “Deutsch­land geht vor­an” – es scheint fast, als wür­de sich das jahr­zehn­te­lang ange­stau­te Nichts­tun in einer gigan­ti­schen Befrei­ungs­ges­te ent­la­den, mit denen die Deut­schen nun end­lich die pein­li­che Kluft zwi­schen ihren inbrüns­tig ver­foch­te­nen huma­ni­tä­ren Prin­zi­pi­en und der untä­ti­gen Pra­xis schlie­ßen kön­nen. Sowohl sich selbst, dem Anspruch des eige­nen Selbst­bil­des als auch der Welt gegen­über, die nach Wahr­neh­mung des selbst­gei­ße­lungs­freu­di­gen Nach­kriegs­deut­schen noch immer ein sehr dunk­les, nega­ti­ves Bild Deutsch­lands pflegt, kann Deutsch­land nun­mehr die inner­lich schon längst ersehn­te und intel­lek­tu­ell vor­be­rei­te­te Ver­wand­lung voll­zie­hen. Aus dem Kokon des demo­kra­tie­un­fä­hi­gen, gewalt­tä­ti­gen Nach­hil­fe­schü­lers schlüpft die strah­len­de huma­ni­tä­re Avant­gar­de und öff­net stolz die far­ben­präch­ti­gen Flü­gel. Das Land macht sich nun selbst zum Ver­suchs­la­bor eines uni­ver­sa­lis­ti­schen Gesell­schafts­expe­ri­men­tes, wobei auf dem beschränk­ten Gebiet des deut­schen Staa­tes eine Minia­tur-Uto­pie errich­tet wer­den soll, die glo­ba­le Gerech­tig­keit im Klei­nen gewis­ser­ma­ßen, wor­in alle Mar­kie­run­gen, die Deut­sche von Nicht-Deut­schen schei­den, über­wun­den sind. Viel­mehr soll die kraft­vol­le Syn­the­se aller Ver­schie­den­hei­ten unter der Prä­mis­se einer eini­gen­den, prin­zi­pi­el­len Gleich­heit als huma­ni­tä­res Erfolgs- und Zukunfts­mo­dell einer ver­blüff­ten Welt vor­ge­führt wer­den, der aus Sicht des von sei­ner Visi­on ergrif­fe­nen Deut­schen dazu bis­lang lei­der der Mut, der Weit­blick, die mora­li­schen Prin­zi­pi­en feh­len. Die Deut­schen sind zurück.

Und nicht nur die Migra­ti­ons­po­li­tik, auch in der Umwelt­po­li­tik lässt sich die­se Cha­rak­te­ris­tik aus­ma­chen. Denn das mul­ti­kul­tu­rel­le Gesell­schafts­trans­for­ma­ti­ons­expe­ri­ment wird flan­kiert von zwei umwelt­po­li­ti­schen Groß­the­men: der Ener­gie­wen­de, dem Aus­stieg aus der Atom­ener­gie, und der Kli­ma­kri­se, der Reduk­ti­on des CO2-Aus­sto­ßes, um die Erd­er­wär­mung zu ver­hin­dern. Auch hier wird Deutsch­land zum Pro­jekt­la­bor umfunk­tio­niert, wo im Bin­nen­rah­men all­ge­mei­ne Mensch­heits­pro­ble­me gelöst wer­den sol­len. Und auch hier pri­mär unter dem Gesichts­punkt einer abs­trak­ten Gesin­nungs­ethik, wäh­rend zen­tra­le prak­ti­sche Pro­ble­me – bei­spiels­wei­se, daß ein Kom­plett-Umstieg auf erneu­er­ba­re Ener­gien tech­nisch bis­lang gar nicht mög­lich ist – eine bloß mar­gi­na­le Rol­le spie­len. Viel­mehr, so zei­gen Ener­gie­wen­de wie Will­kom­men­kul­tur glei­cher­ma­ßen, haben die deut­schen Eli­ten  aus der über­hitz­ten Appell­kul­tur, wie Sie­fer­le sie noch schil­dert, mitt­ler­wei­le eine bei­na­he schon mär­ty­rer­haf­te Ver­ach­tung von Mach­bar­keit, Ratio­na­li­tät oder mög­li­chen Fra­gen nach nega­ti­ven Fol­gen ent­wi­ckelt. “Wenn nicht wir, wer dann?” – da der Deut­sche jede Form natio­na­ler Inter­es­sens­po­li­tik und letzt­lich jede Form natio­na­ler Selbst­de­fi­ni­ti­on zuguns­ten uni­ver­sa­lis­ti­scher Idea­le über­wun­den hat, kennt Deutsch­land für sein eige­nes Volk mitt­ler­wei­le womög­lich kei­nen ande­ren Daseins­sinn mehr als sich selbst als pro­gres­si­ves Ver­suchs­la­bor zuguns­ten abs­trak­ter, uni­ver­sa­ler Zie­le aufzuopfern.

Der eige­ne Wohl­stand, die eige­ne, inne­re Sta­bi­li­tät, Bil­dung und Gesund­heits­sys­tem – all das prak­tisch Funk­tio­na­le ist von einer Errun­gen­schaft zur Last gewor­den, zum Anlaß von Scham gera­de­zu, da damit ein genu­in Deut­sches mar­kiert wird, eine Unter­schie­den­heit Deutsch­lands zu ande­ren Län­dern, beson­ders den armen, auf­recht­erhal­ten. Der glü­hend-zahn­lo­se Uni­ver­sa­lis­mus der Gene­ra­ti­on Siefer­les mischt sich mitt­ler­wei­le mit vul­ga­ri­sier­ter Kapi­ta­lis­mus­kri­tik und Ein­flüs­sen aus den anglo­ame­ri­ka­ni­schen “Post Colo­ni­al Stu­dies”. Die distin­gu­ier­ten Deut­schen sind damit nicht nur mehr Mah­ner eines uni­ver­sel­len Men­schen­wohls, sie sind qua ihres Reich­tums nun auch noch schuld an der Armut der ande­ren. Ein scho­nungs­lo­ser Raub­bau an den eige­nen Resour­cen zuguns­ten der All­ge­mein­heit erscheint damit gera­de­zu als mora­li­sche Pflicht, um das ver­bre­che­risch Zusam­men­ge­raff­te wie­der zurückzugeben.

IV.

Abschlie­ßend ist es viel­leicht inter­es­sant sich zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, daß Sie­fer­le nur West­deutsch­land beschreibt, was wie­der­um die Mög­lich­keit eröff­net, auch die zuneh­mend offe­ner zuta­ge tre­ten­de Pola­ri­sie­rung zwi­schen Ost und West auf die­se Bruch­li­nie hin zu unter­su­chen. Den Ost­deut­schen war in der Nach­kriegs­zeit ein ande­rer Weg beschert und im Grun­de war­ten sie noch immer auf den kun­di­gen See­len­for­scher, der den spe­zi­fisch ost­deut­schen Men­ta­li­täts­se­di­men­ten nach­spürt. Hell­sich­tig immer­hin stellt Sie­fer­le fest, daß in Ost­deutsch­land “eine Rei­he von Eigen­tüm­lich­kei­ten der deut­schen Klein­stadt­kul­tur über­leb­ten, die im Wes­ten längst hin­weg­mo­der­ni­siert wor­den waren”. “Die DDR reprä­sen­tier­te weni­ger eine bes­se­re Zukunft, als daß in ihr Ele­men­te der deut­schen Ver­gan­gen­heit kon­ser­viert waren.”  Es mag an der offen auto­ri­tä­ren Beschaf­fen­heit der DDR lie­gen, aber im Gegen­satz zum Wes­ten, wo die Intel­lek­tu­el­len oft gera­de­zu roman­ti­sche Vor­stel­lun­gen gegen­über den sozia­lis­ti­schen Län­dern heg­ten, hat die Mas­se der dem real­exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus aus­ge­setz­ten DDR-Bür­ger offen­bar nie­mals die auch im Sozia­lis­mus exzes­siv gebrauch­ten Begriffs­fel­der von “inter­na­tio­na­ler Soli­da­ri­tät” und “Anti­fa­schis­mus” ver­in­ner­licht, son­dern ledig­lich als Rhe­to­rik hin­ge­nom­men. Dadurch prä­sen­tiert der deut­sche Real­so­zia­list des Ostens dem deut­schen Theo­rie­so­zia­lis­ten des Wes­tens iro­ni­scher­wei­se einem dem letz­te­ren gera­de­zu aus der Zeit gefal­len schei­nen­den All­tags­kon­ser­va­ti­vis­mus, und das west­lich exklu­si­ve huma­ni­tä­re Sen­dungs­be­wusst­sein, die gefühl­te Ver­pflich­tung auf das uni­ver­sel­le Mensch­heits­wohl ist ihm weit­ge­hend fremd. Natio­na­le Inter­es­sens­po­li­tik, eine Poli­tik, die sich pri­mär der Meh­rung von Wohl­stand und Lebens­qua­li­tät des eige­nen Lan­des wid­met? Der Wes­ten ver­steht nicht mehr, was der Osten noch immer will.

“Wir kämp­fen hier schon so lan­ge dafür, daß sich für uns etwas ändert. Da kanns­te jetzt nicht auch noch um ein paar Bäu­me kämp­fen.”, meint bei­spiels­wei­se eine Gör­lit­ze­rin im Mai 2019 gegen­über der Spie­gel-Repor­te­rin, nach­dem dort die AfD die bun­des­weit mit stärks­ten Ergeb­nis­se erziel­te. Das ist qua­si der inter­es­sens­po­li­ti­sche Mit­tel­fin­ger ins Gesicht der Gesin­nungs­mo­ral des west­deut­schen Jour­na­lis­ten, der gar nicht weiß, was ihm geschieht, weil die­se rigi­de Ableh­nung alles infra­ge­stellt, was ihm an bun­des­deut­schem Wer­te­fun­da­ment aner­zo­gen wur­de. Halb mit­lei­dig, halb empört – halb ange­ekelt, halb päd­ago­gisch steht der west­lich sozia­li­sier­te Jour­na­list vor einer sol­chen Aus­sa­ge, die aus einer ganz ande­ren Welt stammt, die ihm so ver­schlos­sen und rät­sel­haft bleibt wie dem Gör­lit­zer umge­kehrt des­sen Überzeugungen.

* * *

Anmer­kung: die Erst­ver­öf­fent­li­chung die­ses Tex­tes fand im Juni 2019 im emp­feh­lens­wer­ten Online-Maga­zin Anbruch statt. 

Posted on 27. Januar 202027. Februar 2020

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