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Styler Ornament

Der philosophische Hintergrund der Gender Theorie

Styler Ornament

Woher kommt plötz­lich die Rede von mög­li­cher­wei­se unzäh­li­gen Geschlech­tern? Wie­so sol­len Tex­te mit Gen­der-Stern­chen ver­se­hen, Moh­ren-Apo­the­ken umbe­nannt und Diver­si­täts-Quo­ten an den Uni­ver­si­tä­ten ein­ge­führt wer­den? Wie­so wer­den Män­ner, die Perü­cken auf­set­zen und sich als bezau­bern­de Frau­en bezeich­nen, gefei­ert, wäh­rend die rest­li­chen Män­ner eine toxi­sche Mas­ku­li­ni­tät um sich her­um ver­brei­ten? So enthu­si­as­tisch die Eli­ten in den Medi­en und Uni­ver­si­tä­ten die­se Ideen adap­tie­ren und gesell­schaft­lich zu för­dern ver­su­chen, so groß ist glei­cher­ma­ßen das ableh­nen­de Unver­ständ­nis bei gro­ßen Tei­len der Bevöl­ke­rung. Die einen win­ken bloß lachend ab und bemü­hen die Flos­kel ihres ver­meint­lich “gesun­den Men­schen­ver­stan­des” statt einer Ant­wort. Ande­re reagie­ren zor­nig, wit­tern ange­sichts des mis­sio­na­ri­schen Eifers jener “pro­gres­si­ven” Kräf­te eine neue Form von Tota­li­ta­ris­mus, Orwell stets griff­be­reit auf dem Nacht­tisch. Und wie­der­um ande­re glau­ben dahin­ter eine Ver­schwö­rung bös­ar­ti­ger “glo­ba­lis­ti­scher” Netz­wer­ke und Akteu­re zu erken­nen, die mit­tels die­ser geis­ti­gen Strö­mung den Zweck ver­fol­gen, Fami­li­en, Völ­ker und Natio­nen zu zer­stö­ren, um sie wir­kungs­vol­ler beherr­schen und aus­beu­ten zu können.

Was die­se Stim­men eint, ist die Über­for­de­rung. Sie sind außer­stan­de, auf die Höhe des Gegen­stands, der Axio­me, Argu­men­ta­tio­nen und Fol­ge­run­gen, zu gelan­gen, auf denen die­se Strö­mung fußt. Man­che schei­nen nicht ein­mal zu wis­sen, daß sie über­haupt exis­tiert und seit Jahr­zehn­ten die geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Debat­ten bestimmt. So bleibt ein unter­kom­ple­xes, intel­lek­tu­ell unter­tou­ri­ges Dage­gen­wü­ten, das von den Mei­nungs­füh­rern ver­ständ­li­cher­wei­se kaum ernst­ge­nom­men wird.

Ich wer­de für sie im Fol­gen­den den Über­be­griff “Post­mo­der­ne” benut­zen, da er sich eta­bliert hat und im Gro­ben auch tref­fend ist. Phi­lo­so­phisch zäh­len dazu “Struk­tu­ra­lis­mus” und “Post-Struk­tu­ra­lis­mus”, poli­tisch sind Benen­nun­gen wie “pro­gres­si­ve Lin­ke”, “Kul­tur­mar­xis­mus” oder “Links­li­be­ra­lis­mus” gän­gig, in der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit gesell­ten sich Unter­ka­te­go­rien wie “Gen­der Theo­rie”, “LGBTQ”, “Post­ko­lo­nia­lis­mus” oder “Kri­ti­sche Ras­sen­theo­rie” dazu, die einen aus­ge­präg­ten akti­vis­ti­schen Ein­schlag besit­zen und die zugrun­de­lie­gen­den phi­lo­so­phi­schen Theo­re­me häu­fig nur noch in einer ver­grö­ber­ten, poli­tisch instru­men­ta­li­sier­ten Form adap­tie­ren. “Auch Män­ner kön­nen schwan­ger wer­den” — Was für den Nor­mal­ver­stand wie Schwach­sinn klingt, ist popu­la­ri­sier­ter Aus­druck einer geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Strö­mung, deren Grund­la­gen im Fol­gen­den dar­ge­stellt wer­den sollen.

* * *

A. Zeichen und Bedeutung

Es beginnt mit der Sprach­wis­sen­schaft. Fer­di­nand de Sauss­u­re lebt von 1857 bis 1913, ist also noch Kind des Bil­dungs­bür­ger­tums des 19. Jahr­hun­derts. Im Gegen­satz zu den damals eta­blier­ten sprach­wis­sen­schaft­li­chen Schu­len inter­es­siert sich Sauss­u­re weni­ger für geschicht­li­che Gene­se und Mor­pho­lo­gie diver­ser Sprach­fa­mi­li­en, son­dern sinnt über Mög­lich­kei­ten nach, Spra­che als Phä­no­men in ihrer gegen­wär­ti­gen Erschei­nung wis­sen­schaft­lich zu beschrei­ben. Er nimmt dazu eine Dif­fe­ren­zie­rung vor, die bis heu­te für die Post­mo­der­ne rele­vant ist, näm­lich zwi­schen Signi­fi­kant und Signi­fi­kat. Der Signi­fi­kant ist das Zei­chen in sei­ner phy­si­schen Prä­senz, das Signi­fi­kat die Bedeu­tung, die sich geis­tig sowohl im Sen­der als auch Emp­fän­ger ereig­net. Die Aus­sa­ge “es reg­net” ist als Signi­fi­kant eine von Stimm­bän­dern und Mund­raum geform­te Schall­wel­le, die an das Ohr eines Hörers dringt und dort das Trom­mel­fell sti­mu­liert. Die Bedeu­tung die­ser Schall­wel­le, also die Ver­knüp­fung eines Laut­bil­des mit dem Phä­no­men des Regens, wird geis­tig vollzogen.

Das führt zu zwei Folgerungen:
1. die Bedeu­tung wird als gesell­schaft­li­che Kon­ven­ti­on her­ge­stellt. Denn sowohl der Spre­cher als auch der Emp­fän­ger müs­sen erst ler­nen, eine bestimm­te Laut­fol­ge mit einem Gegen­stand in Ver­bin­dung zu brin­gen und die­ses Wis­sen sowohl beim Spre­chen als auch Hören anzu­wen­den.
2. Das Ver­hält­nis von Signi­fi­kant und Signi­fi­kat beschränkt sich nicht allei­ne auf die Spra­che. Neben der Spra­che exis­tiert die Schrift, womit — wie­der­um als gesell­schaft­li­che Kon­ven­ti­on — die Lau­te der Spra­che mit­tels opti­schen Sym­bo­len auf­ge­zeich­net und über­mit­telt wer­den. Und wäh­rend Sauss­u­re selbst sich zeit­le­bens auf die Sprach­wis­sen­schaft beschränkt, bemerkt er bereits, daß sein Ansatz eigent­lich viel tie­fer reicht: der Mög­lich­keit, mit­tels einer all­ge­mei­nen Zei­chen­leh­re sozia­le Sys­te­me zu analysieren.

“Die Spra­che ist ein Sys­tem von Zei­chen, die Ideen aus­drü­cken, und inso­fern der Schrift, dem Taub­stum­men­al­pha­bet, sym­bo­li­schen Riten, Höf­lich­keits­for­men, mili­tä­ri­schen Signa­len, usw. ver­gleich­bar. Nur ist sie das wich­tigs­te die­ser Sys­te­me. Man kann sich also vor­stel­len eine Wis­sen­schaft, wel­che das Leben der Zei­chen im Rah­men des sozia­len Lebens unter­sucht; die­se wür­de einen Teil der Sozi­al­psy­cho­lo­gie bil­den und infol­ge­des­sen einen Teil der all­ge­mei­nen Psy­cho­lo­gie; wir wer­den sie Semio­lo­gie nen­nen.” (Fer­di­nand de Sauss­u­re, Grund­fra­gen der all­ge­mei­nen Sprachwissenschaft)

Zum Begrün­der des Struk­tu­ra­lis­mus wird Clau­de Levi-Strauss. (1908 — 2009) Er ist Eth­no­lo­ge und erforscht vor allem die indi­ge­nen Völ­ker Süd­ame­ri­kas. Er ist der ers­te, der Sauss­u­res Sprach­theo­rie ver­wen­det, um kul­tu­rel­le Sys­te­me zu beschrei­ben. In sei­nem Werk “Die ele­men­ta­ren Struk­tu­ren der Ver­wandt­schaft” (1949) behan­delt er die Hei­rats­re­geln ver­schie­dens­ter Kul­tu­ren als Zei­chen­sys­tem, womit sozia­le Ord­nun­gen aus­ge­drückt wer­den. “Die­ser in sei­nen Haupt­zü­gen dar­ge­stell­te Beweis konn­te unter einer Bedin­gung gelin­gen: daß man die Hei­rats­re­geln und die Ver­wandt­schafts­sys­te­me als eine Art Spra­che ansah, das heißt als ein Ope­ra­ti­ons­ge­fü­ge, das dazu bestimmt ist, zwi­schen den Indi­vi­du­en und den Grup­pen einen bestimm­ten Kom­mu­ni­ka­ti­ons­typ zu sichern. Daß die “Nach­richt” hier durch die Frau­en der Grup­pe wei­ter­ge­ge­ben wird, die zwi­schen den Clans, den Sip­pen oder Fami­li­en aus­ge­tauscht wer­den (und nicht, wie in der Spra­che, die zwi­schen den Indi­vi­du­en aus­ge­tausch­ten Wör­ter der Grup­pe), ändert in nichts die Gleich­ar­tig­keit des in bei­den Fäl­len beob­ach­te­ten Phä­no­mens.”
“Jede [Hei­rats­re­gel] steht für eine ande­re Art und Wei­se, die Zir­ku­la­ti­on der Frau­en inner­halb der sozia­len Grup­pe zu sichern, das heißt, ein Sys­tem von Bluts­be­zie­hun­gen, ein Sys­tem bio­lo­gi­schen Ursprungs durch ein sozio­lo­gi­sches Sys­tem der Bünd­nis­se zu erset­zen.” (Clau­de Levi-Strauss, Struk­tu­ra­le Anthropologie)

Dadurch kann Levi-Strauss eini­ge bis­lang unklar geblie­be­ne Aspek­te kul­tu­rel­len Ver­hal­tens erklä­ren und sei­ne von ihm “Struk­tu­ra­lis­mus” genann­te Metho­dik in der aka­de­mi­schen For­schung etablieren.

Der Struk­tu­ra­lis­mus ent­wi­ckelt sich zum Post-Struk­tu­ra­lis­mus durch Jaques Der­ri­da (1930 — 2004). Der­ri­da setzt bei der Sprach­phi­lo­so­phie Sauss­u­res, der ähn­lich gela­ger­ten Pra­ger Schu­le und Levi-Strauss an. Levi-Strauss aller­dings ver­wirft den damals durch Sart­re in Frank­reich popu­la­ri­sier­ten Exis­ten­tia­lis­mus als zu sub­jek­tiv, als unge­eig­net “das Sein in Bezug auf sich selbst und nicht auf mich” (Levi-Strauss, Trau­ri­ge Tro­pen) zu begrei­fen, sein Struk­tu­ra­lis­mus also steht noch in der Tra­di­ti­on einer klas­si­schen, objek­ti­vis­ti­schen Wis­sen­schafts­theo­rie. Der­ri­da dage­gen umarmt den Exis­ten­tia­lis­mus, sei­ne Phi­lo­so­phie kop­pelt Sprach­theo­rie mit einer inten­si­ven Aus­ein­an­der­set­zung mit Heid­eg­ger und Huss­erl, wodurch sein Den­ken in eine für die Post­mo­der­ne bis heu­te cha­rak­te­ris­ti­sche Radi­ka­li­tät getrie­ben wird.

Um Der­ri­da zu ver­ste­hen, müs­sen wir zunächst ein­mal Mar­tin Heid­eg­ger (1889 — 1976) ver­ste­hen. Heid­eg­gers Phi­lo­so­phie stellt die Fra­ge nach dem Sein. Mit die­sem “Sein” ist aller­dings gera­de nicht die blo­ße, mate­ri­el­le Exis­tenz gemeint. Viel­mehr trennt Heid­eg­ger zwi­schen “Sein” und “Sei­en­dem”: wäh­rend er die bloß mate­ri­el­le Vor­han­den­heit von Din­gen als “Sei­en­des” bezeich­net, ist das Sein des Men­schen eben gera­de nicht bloß die Zusam­men­stel­lung von gemes­se­nen Zah­len­wer­ten, einer Beschrei­bung der Ana­to­mie oder sei­ner Gen­se­quen­zen. Heid­eg­ger warnt sogar davor, daß die Beschäf­ti­gung mit dem Sei­en­den den Blick auf das Sein droht zu ver­stel­len und ideen­ge­schicht­lich auch zumeist ver­stellt hat.

Das tat­säch­li­che Sein des Men­schen nun nennt Heid­eg­ger das “Dasein”. In die­sem Begriff steckt eine Ver­or­tung: der Mensch ist “da”, er ist ver­or­tet, er lebt aus einem Zusam­men­hang her­aus. Das Wesen des Daseins liegt im “in-der-Welt-sein” — dar­in unter­schei­det sich das Sein des Men­schen als leben­di­ges Agie­ren vom bloß toten Kör­per. Der Tote befin­det sich in der Welt, aber er hat kei­ne Welt mehr, damit kein Dasein im Sin­ne Heideggers.

Dar­aus resul­tiert ein ver­än­der­ter Bezug zu den Din­gen. Denn ein Tisch bei­spiels­wei­se besteht ja ledig­lich aus Mate­rie ohne han­deln­des Bewußt­sein, mehr als ein Sei­en­des kann er für sich genom­men nicht sein. Zum Sein gelangt ein Gegen­stand erst, indem er für einen Men­schen Rele­vanz gewinnt, Teil eines Bedeu­tungs­zu­sam­men­han­ges wird, indem der Tisch bei­spiels­wei­se als Ess­tisch oder Arbeits­tisch in eine mensch­li­che Welt­lich­keit ein­ge­bun­den ist.

Zitat für die Aben­teu­er­lus­ti­gen:
“Der Aus­druck “bin” hängt zusam­men mit “bei”; “ich bin” besagt wie­der­um: ich woh­ne, hal­te mich auf bei … der Welt, als dem so und so Ver­trau­ten. Sein als Infi­ni­tiv des “ich bin”, d.h. als Exis­ten­zi­al ver­stan­den, bedeu­tet woh­nen bei …, ver­traut sein mit … In-Sein ist dem­nach der for­ma­le exis­ten­zia­le Aus­druck des Seins des Daseins, das die wesen­haf­te Ver­fas­sung des In-der-Welt-Seins hat.”

“Das In-Sein ist nach dem Gesag­ten kei­ne “Eigen­schaft”, die das Dasein zuwei­len hat, zuwei­len auch nicht, ohne die es sein könn­te so gut wie mit ihr. Der Mensch “ist” nicht und hat über­dies noch ein Seins­ver­hält­nis zur Welt, die er sich gele­gent­lich zulegt. Dasein ist nie “zunächst” ein gleich­sam in-sein-frei­es Sei­en­des, das zuwei­len die Lau­ne hat, eine “Bezie­hung” zur Welt auf­zu­neh­men. Sol­ches Auf­neh­men von Bezie­hun­gen zur Welt ist nur mög­lich, weil Dasein als In-der-Welt-Sein ist, wie es ist. Die­se Seins­ver­fas­sung ent­steht nicht erst dadurch, daß außer dem Sei­en­den vom Cha­rak­ter des Daseins noch ein ande­res Sei­en­des vor­han­den ist und mit die­sem zusam­men­trifft. “Zusam­men­tref­fen” kann die­se ande­re Sei­en­de “mit” dem Dasein nur, sofern es über­haupt inner­halb einer Welt sich von ihm selbst her zu zei­gen ver­mag.” (Mar­tin Heid­eg­ger, Sein und Zeit)

Zurück zu Der­ri­da. Die­ser setzt, wie erwähnt, bei der Lin­gu­is­tik an, also dem Sche­ma von Zei­chen und Bedeu­tung. Dabei aller­dings wirft er eine grund­le­gen­de Fra­ge auf: bil­det die Schrift an sich bereits ein Zei­chen, das eine Bedeu­tung trans­por­tiert? Der­ri­da kon­sta­tiert einen Auto­ri­ta­ris­mus der Schrift, daß also die abend­län­di­sche Kul­tur dazu neigt, dem schrift­lich Ver­fass­ten bereits für sich genom­men die Auto­ri­tät von Wahr­heit zuzu­spre­chen. Wäh­rend im Sche­ma Sauss­u­res das Zei­chen eine Bedeu­tung besitzt, die wie­der­um ein Abbild der rea­len Welt ist (“Tisch”), nimmt Der­ri­da einen ver­häng­nis­vol­len “Logo­zen­tris­mus” wahr: die Schrift ver­weist nicht auf die Welt, son­dern nur auf die Schrift. Die Schrift selbst erhält eine Bedeu­tung, wäh­rend inner­halb des Tex­tes die Zei­chen Bezo­gen­hei­ten zuein­an­der bil­den, die seri­ell abge­bil­det wer­den. So endet die Schrift als “tran­szen­den­ta­les Signi­fi­kat”, das statt der ver­meint­li­chen Welt­be­schrei­bung ledig­lich einen welt­lo­sen Bedeu­tungs­raum erschafft.

Wir sehen hier also Heid­eg­gers Unter­schei­dung von Sei­en­dem und Sein auf die Schrift ange­wandt: wo bei Heid­eg­ger das mate­ri­ell Sei­en­de kul­tur­ge­schicht­lich durch­ge­hend mit dem Sein ver­wech­selt wird und so den Blick auf das Sein als leben­dig-schöp­fe­ri­schen Bedeu­tungs­zu­sam­men­hang ver­stellt, so ver­stellt bei Der­ri­da das Sei­en­de der Schrift den Blick auf das tat­säch­lich sich voll­zie­hen­de Den­ken, Spre­chen, Aneig­nen. Und wo Heid­eg­ger eine “onto­lo­gi­sche Dif­fe­renz” pos­tu­liert, die den Unter­schied zwi­schen Sei­en­dem und Sein bezeich­net, so prägt Der­ri­da den Begriff der “Dif­fé­rance”, um den Unter­schied zwi­schen dem Lesen und der Schrift auszudrücken.

“Die uner­hör­te Dif­fe­renz zwi­schen dem Erschei­nen­den und dem Erschei­nen (zwi­schen der “Welt” und dem “Erleb­ten”) ist die Bedin­gung für alle ande­ren Dif­fe­ren­zen, und alle ande­ren Spu­ren, sie ist selbst schon eine Spur. […] In Wirk­lich­keit ist die Spur der abso­lu­te Ursprung des Sinns im All­ge­mei­nen; was aber bedeu­tet, um es noch ein­mal zu beto­nen, daß es einen abso­lu­ten Ursprung des Sinns im All­ge­mei­nen nicht gibt. Die Spur ist die Dif­fé­rance, in wel­cher das Erschei­nen und die Bedeu­tung ihren Anfang neh­men. Als Arti­ku­la­ti­on des Leben­di­gen am Nicht-Leben­di­gen schlecht­hin, als Ursprung aller Wie­der­ho­lung, als Ursprung der Idea­li­tät ist die Spur so wenig ide­al wie reell, intel­li­gi­bel wie sinn­lich, und so wenig trans­pa­ren­te Bedeu­tung wie opa­ke Ener­gie; kein Begriff der Meta­phy­sik kann sie beschrei­ben.” (Jac­ques Der­ri­da, Grammatologie)

Im geis­ti­gen Raum der Dif­fé­rance ereig­nen sich “Spu­ren”, also Inter­pre­ta­ti­ons­vor­gän­ge, in denen aus den Zei­chen Bedeu­tun­gen gezo­gen wer­den, wo, anders gesagt, das bloß Sei­en­de der Schrift ins aneig­nen­de Dasein des Lesen­den und Den­ken­den geholt wird. (Wich­tig: es gibt bei Der­ri­da kei­nen “wah­ren Text”, den es zu ver­ste­hen gäl­te, son­dern nur die Mög­lich­keit, durch ver­schie­de­ne, erneu­te Inter­pre­ta­ti­ons­vor­gän­ge unter­schied­li­che Ver­ständ­nis­ar­ten zu ent­wi­ckeln. Ein “Text an sich”, mit einer zu ent­de­cken­den “wah­ren” Bedeu­tung dage­gen exis­tiert nicht.)

Um die Dif­fè­rance nach­zu­wei­sen, ent­wi­ckelt Der­ri­da eine Metho­de, deren blo­ße Namens­nen­nung heu­te bei Kon­ser­va­ti­ven oft schon Ent­set­zen her­vor­ruft: die Dekonstruktion.

Dekon­struk­ti­on bedeu­tet Text­ana­ly­se. Der­ri­da nimmt eine sol­che Dekon­struk­ti­on exem­pla­risch und äußerst detail­liert den Raum meh­re­rer hun­dert Sei­ten fül­lend in sei­ner Gram­ma­to­lo­gie vor. Die Dekon­struk­ti­on ist dabei kei­ne blo­ße Zer­stö­rung, son­dern der Ver­such, das “Gemach­te” an einem Text sicht­bar zu machen. Zer­stört wer­den soll ledig­lich die logo­zen­tri­sche Fik­ti­on, also der Schein der Auto­ri­tät, der ver­meint­li­chen Wahr­heit. Dekon­struk­ti­on beginnt gemein­hin damit, die begriff­lich-argu­men­ta­ti­ve Kon­struk­ti­on eines Tex­tes zu ana­ly­sie­ren. Dabei stößt man auf Gegen­satz­paa­re. Gut — Böse, Natur — Kul­tur, Fort­schritt — Reak­ti­on, usw., die in einer Hier­ar­chie zuein­an­der ste­hen — der Fort­schritt gilt bei­spiels­wei­se als erstre­bens­wert, sein Gegen­teil nicht. Oder umge­kehrt. Aus die­sen Gegen­satz­paa­ren ent­ste­hen Beschrei­bun­gen, Argu­men­ta­tio­nen — die vor­ge­ben, die Welt abzu­bil­den, aber tat­säch­lich durch die ver­wen­de­ten Gegen­satz­paa­re bereits deter­mi­niert sind.

Durch Ana­ly­se der Text­struk­tur ent­steht die Mög­lich­keit für den Leser, dar­über hin­aus­zu­ge­hen, Optio­nen eines Dazwi­schen, eines Jen­seits-Davon aus­zu­lo­ten, um jen­seits des sta­tisch-toten Sprach­ge­rüs­tes zu einer eige­nen, leben­di­gen Aneig­nung und Aus­ein­an­der­set­zung zu gelan­gen. Bereits der Begriff “Dekon­struk­ti­on” ist dabei Anwen­dung die­ser Metho­de, womit Der­ri­da das his­to­risch eta­blier­te Gegen­satz­paar von Destruk­ti­on und Kon­struk­ti­on auf­zu­bre­chen wünscht.

Hier sto­ßen wir auf den ers­ten wich­ti­gen Bau­stein auf dem Weg zur Gen­der Theo­rie. Denn es gibt ein ele­men­ta­res Gegen­satz­paar, das geis­tes­ge­schicht­lich eine wich­ti­ge Rol­le spielt: Frau und Mann. Wo heu­te von der Über­win­dung der “binä­ren” Geschlecht­er­ord­nung gespro­chen wird und Men­schen sich als “nicht-binär” iden­ti­fi­zie­ren, liegt Der­ri­das Metho­de der Dekon­struk­ti­on zugrun­de. Und auch der in die­sem Milieu ver­brei­te­te Aus­druck, jemand wür­de “als weiß gele­sen” oder “als Frau gele­sen”, ver­weist auf den Ursprung in der Sprachwissenschaft.

Doch wie hat Der­ri­das Text­ana­ly­se auf die Wirk­lich­keit über­ge­grif­fen, und zwar so dras­tisch, daß mitt­ler­wei­le sogar Bio­lo­gen atta­ckiert wer­den, wenn sie auf der Bina­ri­tät der Geschlech­ter beharren?

Hier braucht es einen wei­te­ren Exkurs. Denn bereits die frü­hen Struk­tu­ra­lis­ten ste­hen vor einem grund­sätz­li­chen Pro­blem: dem Unbe­wuß­ten. Sauss­u­re bemerkt, daß Spra­che ein­fach über­nom­men, intui­tiv ange­lernt wird. Das Kind spricht nach, was die Erwach­se­nen spre­chen, ohne über Gram­ma­tik oder genaue Defi­ni­tio­nen nach­zu­den­ken, es schöpft sei­ne Spra­che aus der Sphä­re des Sozia­len. Levi-Strauss stellt fest, daß die Logik der Hei­rats­re­geln, die er ermit­telt hat, den­je­ni­gen, die die­se Regeln anwen­den, eigent­lich unbe­kannt ist, sie wen­den ledig­lich ihre Tra­di­tio­nen an, geben Kon­ven­tio­nen, Riten, Bräu­che, Wer­te wei­ter. Doch — wer hat die­se sozia­len Ord­nun­gen, die­se Begrif­fe und Spra­chen so geschaf­fen, wie sie sind? Und zu wel­chem Zweck? Was drückt sich dar­in aus?

Es braucht also eine Theo­rie der Gesell­schaft und der Geschich­te, womit die kon­kre­ten Trieb­kräf­te sicht­bar gemacht wer­den können.

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Posted on 9. Januar 202425. Januar 2024

2 thoughts on “Der philosophische Hintergrund der Gender Theorie”

  1. LordOfDarkness sagt:
    12. Januar 2024 um 14:19 Uhr

    Zu den Fra­ge­zei­chen zählt auch fol­gen­de Über­le­gung: Als der Affe vom Baum stieg und zum Men­schen wur­de soll er also mit dem Akt der Mensch­wer­dung die bio­lo­gi­sche binä­re Geschlecht­lich­keit mit allem drum und dran abge­legt haben. Dann kam die Kul­tur daher und ihr fiel nix bes­se­res ein, als genau die­se bio­lo­gi­schen Geschlechts­un­ter­schie­de wie­der zu kon­stru­ie­ren. Das hört sich nicht nach der nahe­lie­gens­ten Erklä­rung an.

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