C. Von der Frau zur nonbinären Transperson
Auch auf der Suche nach den Ursprüngen feministischer Theorie stößt man zunächst auf Marx, bzw. auf seinen Mitstreiter Friedrich Engels. So lesen wir bereits in dessen Text “Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates” von 1884: “Die moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die offne oder verhüllte Haussklaverei der Frau, und die moderne Gesellschaft ist eine Masse, die aus lauter Einzelfamilien als ihren Molekülen sich zusammensetzt. Der Mann muss heutzutage in der großen Mehrzahl der Fälle der Erwerber, der Ernährer der Familie sein, wenigstens in den besitzenden Klassen und das gibt ihm eine Herrscherstellung, die keiner juristischen Extrabevorrechtung bedarf. Er ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat.” Bereits im originalen Marxismus findet also die Übertragung des Klassenkampfschemas von Bürgertum gegen Proletariat auf das Verhältnis von Mann und Frau in der Familie statt.
Für Engels’ materialistische Gesellschaftsauffassung ist es der Kapitalismus, der das Patriarchat und die Monogamie hervorbringt: “Die Monogamie entstand aus der Konzentrierung größerer Reichtümer in einer Hand — und zwar der eines Mannes — und aus dem Bedürfnis, diese Reichtümer den Kindern dieses Mannes und keines anderen zu vererben.”
So gesehen erhält also auch die Frau einen Warencharakter. Die Frau als Ware hat einen Wert, der sich über die Nützlichkeit in einem männlich-kapitalistischen System bestimmt. Ihr Aussehen, das den Mann sexuell stimuliert, ihre Fähigkeit, dem Mann Nachkommen zu gebären, ihre Charaktereigenschaften, die danach bemessen sind, dem Mann auf möglichst angenehme Weise zu Diensten zu sein, seinen Haushalt zu pflegen, seine Wünsche auszuführen und ihm dabei immer treu und ergeben zu bleiben — die Frau ist eine Ware und ihr Wert, ihre Idealeigenschaften, werden durch die Augen und die Wünsche der Männer festgelegt.
Wer sie selbst ist, weiß sie zunächst gar nicht, denn ebenso wie der Proletarier von der kapitalistischen Herrschaftsideologie dazu gebracht wird, das eigene Ausgebeutetwerden als gerecht oder zumindest unausweichliche “natürliche Ordnung” aufzufassen und sich damit zu identifizieren, so erzieht das Patriarchat die Frau dazu, männliche Wunschvorstellungen als vermeintlich eigene Identität zu übernehmen.
Diese Sichtweise ist bis heute zentral für die feministische Theoriebildung. “Just as nature has to be subjected to man in order to become a commodity, so, it appears, does “the development of a normal woman.” A development that amounts, for the feminine, to subordination to the forms and laws of masculine activity. The rejection of the mother-imputed to woman would find its “cause” here.
Just as, in commodities, natural utility is overridden by the exchange function, so the properties of a woman’s body have to be suppressed and subordinated to the exigencies of its transformation into an object of circulation among men.
Just as a commodity has no mirror it can use to reflect itself, so woman serves as reflection, as image of and for man, but lacks specific qualities of her own. Her value-invested form amounts to what man inscribes in and on her matter: that is, her body.” (Luce Irigaray, Women on the market (1977) — hier online.)
Wie also der Proletarier sich vom Objekt der Bourgeoisie revolutionär zum Subjekt seines eigenen Daseins aufschwingen soll, so muss analog dazu die Frau denselben Prozess in ihrem Verhältnis zum Mann vollziehen, um Subjekt, um frei zu werden.
Der zeitgenössische Feminismus beginnt mit Simone de Beauvoirs (1908 — 1986) Buch “Das andere Geschlecht” (1949). Ihr Lebenspartner war Jean-Paul Sartre, der, unter dem Einfluß von Heidegger und Husserl, den französischen Existenzialismus zur führenden philosophischen Strömung der 50er und 60er Jahre machte. Auch ihr Verständnis von Feminismus ist ein existenzialistisches, das Subjekt und dessen Erfahrung steht im Mittelpunkt.
Simone de Beauvoir stellt fest, daß in der damaligen Gesellschaft lediglich dem Mann der Status als Subjekt zugesprochen wird. Die Geschlechterrolle “Männlichkeit” ist autonom, aktiv, schaffend, die Geschlechterrolle der “Weiblichkeit” dagegen objekthaft: passiv, duldend, dienend, untergeordnet. Die Frau ist das Objekt des Mannes, genauer gesagt: sie wird dazu gemacht. “Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.” lautet der bekannteste und folgenreichste Satz aus Beauvoirs Werk. Damit vollzieht sie als erste die Trennung zwischen biologischem Geschlecht und soziokulturell anerzogener Geschlechterrolle. “Nicht mysteriöse Instinkte machen Mädchen passiv, kokett oder mütterlich, diese Berufung wird ihnen vielmehr von klein auf andressiert.”
Das bildet den Ausgangspunkt des sogenannten “Second-wave” Feminismus. Die erste Welle beginnt im 19. Jahrhundert und verficht grundsätzliche, politische Ziele wie gleichberechtigte Eigentumsrechte und das Wahlrecht für Frauen. Bei der zweiten geht es nun darum, die noch im 19. Jahrhundert zumeist naturalisiert aufgefassten Geschlechterrollen zu hinterfragen und auch der Frau ein aktives Leben, eine eigene Selbstverwirklichung zuzusprechen. Können Frauen Unternehmen führen? Können Frauen in die Politik? Können Frauen Fußball spielen oder Kampfsport machen? Können Frauen nur als Hausfrauen und Mütter glücklich werden? Haben Frauen auch eine eigene Sexualität? Diese Position wird in Deutschland von Alice Schwarzer und ihrer Zeitschrift Emma verfochten, sie kann mittlerweile als allgemein akzeptiert gelten. Die dritte Welle dann ist die Gender Theorie.
“Might is right.”
“Ich habe diese Texte zusammengestellt, um eine politische Annäherung von Feminismus, von schwulen und lesbischen Perspektiven auf die Geschlechtsidentität und poststrukturalistischer Theorie zu ermöglichen.”- so lesen wir im Vorwort von “Das Unbehagen der Geschlechter (1990) von Judith Butler (*1956), das heute als einer der grundlegenden Texte der Gender Theorie angesehen wird. Daraus lassen sich die drei wesentlichen Aspekte entnehmen, die die Gender Theorie ausmacht.
1. Die Übertragung poststrukturalistischer Theorie auf den Feminismus. Dieser war, wie gezeigt, bis dahin von “klassisch modernen” Argumentationsmustern geprägt. Die Frau kämpft für ihre “Freiheit”, für ein selbstbestimmtes Leben als Subjekt in einer männlich beherrschten Welt. Butler dagegen adapiert Foucault — sie hinterfragt das Subjekt und betrachtet es als Resultat kultureller Prozesse. “Michel Foucault hat darauf hingewiesen, daß die juridischen Machtregime die Subjekte, die sie repräsentieren, zunächst auch produzieren. […] Die feministische Kritik muss auch begreifen, wie die Kategorie “Frau(en)”, das Subjekt des Feminismus, gerade durch jene Machtstrukturen hervorgebracht und eingeschränkt wird, mittels derer das Ziel der Emanzipation erreicht werden soll. Allerdings verweist das Problem der Frauen als Subjekt des Feminismus auf die Möglichkeit, daß es gar kein Subjekt gibt, das “vor” dem Gesetz steht und nur auf die Repräsentation in oder durch das Gesetz wartet. Möglicherweise wird dieses Subjekt, ebenso wie die Beschwörung eines zeitlichen “vor” dem Gesetz selbst als fiktive Grundlage für seinen eigenen Legitimationsanspruch geschaffen.”
“Die Schranken der Diskursanalyse der Geschlechtsidentität implizieren und legen von vornherein die Möglichkeiten der vorstellbaren und realisierbaren Konfigurationen der Geschlechtsidentität in der Kultur fest. Das bedeutet nicht, daß in Sachen Geschlechtsidentität prinzipiell alles und jede Möglichkeiten offenstehen, sondern daß die Schranken der Analyse auf die Grenzen einer diskursiv bedingten Erfahrung verweisen. Diese Grenzen wurden stets nach Maßgabe eines hegemonialen kulturellen Diskurses festgelegt, der auf binäre Strukturen gegründet ist, die als Sprache der universellen, allemeingültigen Vernunft erscheinen. Somit ist die zwanghafte Einschränkung gleichsam in das eingebaut, was von der Sprache als Vorstellungshorizont möglicher Geschlechtsidentität festgelegt wird.”
Butler sieht das Problem also nicht darin, daß der Mann die Frau unterdrückt, sondern grundlegender, daß unsere Kultur nur die Identitäts-Optionen “Frau” und “Mann” zur Verfügung stellt, wodurch auch die Selbstidentifikation als “Frau” bereits Ausdruck einer Diskurshegemonie, eine Übernahme vorgeprägter Muster, ist. Beauvoir will die Frau von männlicher Herrschaft befreien, Butler betrachtet die Idee, es gäbe (nur) “Mann” und “Frau”, als binäre, also falsche, sprachlich konstruierte Struktur, die sich den Anschein allgemeingültiger Vernunft gibt. Im Rekurs auf Derrida wird die Sprache als Vorstellungshorizont und davon eingeschränkter Möglichkeitsraum geschlechtlicher Selbstverwirklichung aufgefasst. Obwohl, so die Implikation, möglicherweise auch ganz andere Optionen zur Verfügung stünden.
Philosophisch gesehen stellt Butler sich damit auf die Seite von Nietzsche und Foucault: eine Substanz existiert nicht. Das bedeutet, auf die Geschlechter bezogen: es existiert weder “Mann” noch “Frau” in einem als vordiskursiv imaginierten Raum vorgeblicher “Natur”. Vielmehr sind solche Zuschreibungen bloßer Ausdruck eines Geschehens, einem sich verwirklichenden Willen zur Macht, der sich den Menschenwesen einschreibt. Bereits die Behauptung, es gäbe eine dem Diskurs vorgelagerte und ihm entzogene “Natur”, ist lediglich Herrschaftsstrategie, die sich damit selbst zu verschleiern versucht. “Vielmehr ist die Natur eine Idee, die zum Zwecke der gesellschaftlichen Kontrolle erzeugt und aufrechterhalten wird.”
2. Worauf will Judith Butler aber hinaus, wenn sie die Kategorie “Frau” prinzipiell hinterfragt? Das erschließt sich durch den zweiten Aspekt: In “Das Unbehagen der Geschlechter” wird der Begriff des Feminismus erweitert, er repräsentiert nun nicht nur Frauen, sondern ebenfalls “schwule und lesbische Perspektiven”. Das klingt zunächst unspektakulär, hat aber radikale, theoretische Konsequenzen: die Verbindung von körperlichem Geschlecht und sexuellem Begehren, von Geschlechtlichkeit und Fortpflanzung, wird damit durchschnitten. Doch das legt eigentlich nur eine Fragestellung offen, der bereits deutlich länger währt und uns erneut zu Sigmund Freud führt.
In Bezug auf die Sexualität ist unsere Gegenwart von zwei unterschiedlichen Ansätzen durchzogen, die als “biologisch” und “psychologisch” bezeichnet werden können. Der biologische fußt auf der Prämisse der Fortpflanzung. Sexualität also ist der Modus des Zeugens: die beiden Geschlechter sind Partizipienten des Zeugungsvorganges, sexuelle Stimulation und Lust dient dazu, die Menschen zur Zeugung zu bewegen, und auch die sozialen Geschlechterrollen werden primär als Analogie zum Tierreich gebildet, sie definieren sich über ihre praktische Nützlichkeit im evolutionären Selektions- und Überlebensprozess.
Sigmund Freud Psychoanalyse entwickelt eine ganz andere Sichtweise. Seine “Libido” als Lustprinzip ist zunächst einmal völlig ungerichtet, der Sexualtrieb des Menschen sucht lediglich blind nach Stimulation und Befriedigung. So steht am Beginn der Theorie Freuds das Inzestverbot, das die väterliche Autorität dem männlichen Kind zunächst einmal anerziehen muss, damit es sich nicht an der Mutter vergreift. Darüberhinaus geht Freud von der prinzipiellen Bisexualität des Menschen aus, erst durch Verarbeitung des “Ödipuskomplexes” entscheidet sich in etwa bis zum 5. Lebensjahr, ob sich durch die komplexen Identifikations- und Abstoßungsprozesse im familiären Rahmen eine heterosexuelle Selbstidentifikation vollzieht.
“Der vereinfachte Fall gestaltet sich für das männliche Kind in folgender Weise: Ganz frühzeitig entwickelt es für die Mutter eine Objektbesetzung, die von der Mutterbrust ihren Ausgang nimmt und das vorbildliche Beispiel einer Objektwahl nach dem Anlehnungstypus zeigt; des Vaters bemächtigt sich der Knabe durch Identifizierung. Die beiden Beziehungen gehen eine Weile nebeneinander her, bis durch die Verstärkung der sexuellen Wünsche nach der Mutter und die Wahrnehmung, daß der Vater diesen Wünschen ein Hindernis ist, der Ödipuskomplex entsteht. Die Vateridentifizierung nimmt nun eine feindselige Tönung an, sie wendet sich zum Wunsch, den Vater zu beseitigen, um ihn bei der Mutter zu ersetzen. Von da an ist das Verhältnis zum Vater ambivalent; es scheint, als ob die in der Identifizierung von Anfang an enthaltene Ambivalenz manifest geworden wäre. Die ambivalente Einstellung zum Vater und die nur zärtliche Objektstrebung nach der Mutter beschreiben für den Knaben den Inhalt des einfachen, positiven Ödipuskomplexes.
Bei der Zertrümmerung des Ödipuskomplexes muß die Objektbesetzung der Mutter aufgegeben werden. An ihre Stelle kann zweierlei treten, entweder eine Identifizierung mit der Mutter oder eine Verstärkung der Vateridentifizierung. Den letzteren Ausgang pflegen wir als den normaleren anzusehen, er gestattet es, die zärtliche Beziehung zur Mutter in gewissem Maße festzuhalten. Durch den Untergang des Ödipuskomplexes hätte so die Männlichkeit im Charakter des Knaben eine Festigung erfahren. In ganz analoger Weise kann die Ödipuseinstellung des kleinen Mädchens in eine Verstärkung ihrer Mutteridentifizierung (oder in die Herstellung einer solchen) auslaufen, die den weiblichen Charakter des Kindes festlegt.
Der Ausgang der Ödipussituation in Vater- oder in Mutteridentifizierung scheint also bei beiden Geschlechtern von der relativen Stärke der beiden Geschlechtsanlagen abzuhängen. Dies ist die eine Art, wie sich die Bisexualität in die Schicksale des Ödipuskomplexes einmengt. Die andere ist noch bedeutsamer. Man gewinnt nämlich den Eindruck, daß der einfache Ödipuskomplex überhaupt nicht das häufigste ist, sondern einer Vereinfachung oder Schematisierung entspricht, die allerdings oft genug praktisch gerechtfertigt bleibt. Eingehendere Untersuchung deckt zumeist den vollständigeren Ödipuskomplex auf, der ein zweifacher ist, ein positiver und ein negativer, abhängig von der ursprünglichen Bisexualität des Kindes, d. h. der Knabe hat nicht nur eine ambivalente Einstellung zum Vater und eine zärtliche Objektwahl für die Mutter, sondern er benimmt sich auch gleichzeitig wie ein Mädchen, er zeigt die zärtliche feminine Einstellung zum Vater und die ihr entsprechende eifersüchtig-feindselige gegen die Mutter. Dieses Eingreifen der Bisexualität macht es so schwer, die Verhältnisse der primitiven Objektwahlen und Identifizierungen zu durchschauen, und noch schwieriger, sie faßlich zu beschreiben. Es könnte auch sein, daß die im Elternverhältnis konstatierte Ambivalenz durchaus auf die Bisexualität zu beziehen wäre und nicht, wie ich es vorhin dargestellt, durch die Rivalitätseinstellung aus der Identifizierung entwickelt würde.” (Sigmund Freud, Das Ich und das Es)
Freud, das sei hier betont, ist auch Wissenschaftler. Im Sinne wissenschaftlicher Methodik macht er als Arzt Beobachtungen, und entwickelt daraus mittels Deduktion verallgemeinerte Theorien, die das gesammelte Material erklären sollen. Nur daß er im Gegensatz zu den Biologen nicht den Körper untersucht oder menschliches Verhalten aus Tierwelt und Evolutionstheorie ableitet, sondern den Geist, die Selbstwahrnehmung der Menschen. Er spricht mit seinen Patienten, analysiert psychische Probleme, versucht sie zu kurieren und leitet aus diesen Erfahrungen systematische Zusammenhänge ab. Bis heute ist der Anteil von Bisexuellen strittig, doch ist er wohl höher als viele Konservative es sich eingestehen wollen. Der Kinsey-Report von 1946 kam zu dem Ergebnis, daß 46% der Bevölkerung zumindest eine bisexuelle Tendenz aufweisen. Laut einer Umfrage im Jahr 2015 stuften sich in Deutschland laut Selbstauskunft 21% selbst als bisexuell ein, in der Altersgruppe von 18 — 24 waren es 39%.
Doch auch wenn sowohl die biologische als auch die psychologische Auffassung von Sexualität wissenschaftlich genannt werden kann, sind die unterschiedlichen kulturellen Implikationen beider Theorien enorm. Denn der Umgang mit Sexualität zählt seit Anbeginn der Menschheit zu den Kernthemen menschlicher Ethik. Worin besteht die Natur des Menschen, was ist gesund und krank, was moralisch gutes oder schlechtes Verhalten?
Der biologische Standpunkt geht von einem genetisch einprogrammierten Normalitätsmechanismus aus, der automatisch aus sich selbst heraus eine Übereinstimmung von biologischem Geschlecht, sozialem Geschlecht und sexueller Orientierung herstellt. Wo dieser ausbleibt, geht man von einem Krankheitszustand aus, noch in den 50er Jahren wurden beispielsweise Homosexuelle mit Hormonen behandelt, um sie heterosexuell zu machen.
Bei Freud dagegen stellt der Urzustand einen ausschließlich zur eigenen Lust- und Stimulationsmehrung existierender Trieb dar, der erst durch kulturelle und innerfamiliäre Prägungsprozesse zu einer männlichen oder weiblichen Identität findet. Doch auch wenn Freud selbst noch davon ausgeht, daß jeweils unterschiedliche “Anlagen” vorhanden sind, die in die eine oder andere Richtung drängen, ist der Zusammenklang von physischem Körper und geistiger Sexualität im Zeichen der Fortpflanzung, wie die Biologen ihn herstellen, damit gelöst. Die dem Menschen angeborene sexuelle Lust wird als frei und ungebunden aufgefasst, erst kulturelle Prozesse schränken sie ein, um sie einem gewünschten Nutzen zu unterwerfen. Damit dreht sich implizit auch das Verhältnis von krank und gesund: Während der biologische Standpunkt Heterosexualität als Natur, das davon abweichende als krank auffasst, betrachtet der psychologische Standpunkt vielmehr die Herstellung von Heterosexualität als artifiziellen Zwangsakt, der zu psychischen Krankheiten führen kann.
Judith Butler setzt sich detailliert mit Freud und seinen Nachfolgern auseinander. Gerade der strukturalistische Psychanalytiker Jaques Lacan ist für den postmodernen Feminismus wichtig geworden. Seine symbolistische Interpretation der normgebenden väterlichen Autorität wird hier zur Grundlage einer neuen Theorie des Patriarchats, das weniger politisch-juristisch, sondern vielmehr “strukturell” im Unterbewußten wirksam ist. Er entwickelt den Terminus “Name-des-Vaters”, offensichtlich beeinflußt vom christlichen Vaterunser: der Vater ist der “fundamentale Signifikant”, die Symbolinstanz, die jedwede Ordnung fundiert. Daraus entwickelt die Feministin Luce Irigaray, auf die sich Butler häufig bezieht, den Begriff des “Phallogozentrismus”.
Dieser Phallogozentrismus als normativ autoritäre Männervernunft, als patriarchalischer Logos, ist es schließlich, der die “Zwangsheterosexualität” erzeugt, dem Menschen also eine als diskursiv normal oder natürlich kommunizierte Synchronizität von körperlichem Geschlecht, psychischer Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung auferlegt.
“Die grundlegenden Kategorien des Geschlechtes, der Geschlechtsidentität und des Begehrens als Effekte einer spezifischen Machtformation zu enthüllen, erfordert eine Form der kritischen Untersuchung, die Foucault im Anschluß an Nietzsche als “Genealogie” bezeichnet hat. Die genealogische Kritik lehnt es ab, nach den Ursprüngen der Geschlechtsidentität, der inneren Wahrheit des weiblichen Geschlechtes oder einer genuinen, authentischen Sexualität zu suchen, die durch die Repression der Sicht entzogen wurde. Vielmehr erforscht die Genealogie die politischen Einsätze, die auf dem Spiel stehen, wenn die Identitätskategorien als Ursprung und Ursache bezeichnet werden, obgleich sie in Wirklichkeit Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen mit vielfältigen und diffusen Ursprungsorten sind. Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist, sich auf solche definierenden Institutionen: den Phallogozentrismus und die Zwangsheterosexualität zu zentrieren — und sie zu dezentrieren.” (Das Unbehagen der Geschlechter)
Hier also, in der Schnittmenge von Freud, Foucault, Derrida und Lacan, liegt die Wurzel dessen, was heute als “LGBTQ+” in immer exzentrischere Richtungen wuchert. Im Sinne dieser Theoriebildung ist nicht Heterosexualität das Original, sondern der Mensch stellt ein völlig offenes Feld möglicher geschlechtlicher und sexueller Identitäten dar. Diese allerdings sind bislang kulturell vom “Phallogozentrismus”, einem anscheinend die Weltgeschichte durchwogenden Ungeist, eingeschränkt worden. Dieser bringt die binäre Struktur von “Mann” und “Frau” samt ihrer naturalisierten Übereinstimmung von Körper, sexueller Orientierung und Geschlechterrolle hervor und zwingt sie neugeborenen Menschen auf, die erst dadurch als “männliche” oder “weibliche” Subjekte erzeugt werden.
Die Macht dahinter ist Fortpflanzung: Männer und Frauen mit heterosexueller Orientierung müssen kulturell erzeugt werden, damit Fortpflanzung vonstatten gehen kann. Doch darauf geht Butler kaum ein — aufgrund der schwerlich zu leugnenden Notwendigkeit von Fortpflanzung liegt hier offenkundig der Schwachpunkt ihrer Theorie.
3. Was in “Das Unbehagen der Geschlechter” entwickelt wird, ist von vornherein als politisches Werkzeug gedacht.
“Der vorliegende Text stellt dann auch den Versuch dar, gleichsam durch die Möglichkeit hindurch zu denken, die naturalisierten und verdinglichten Begriffe der Geschlechtsidentität, die die männliche Hegemonie und heterosexistische Macht stützen, zu subvertieren und zu verschieben. Das heißt, es geht um den Versuch, zur Geschlechter-Verwirrung anzustiften. Dabei werden wir uns nicht solcher Strategien bedienen, die ein utopisches Jenseits ausmalen, sondern der Mobilisierung, subversiven Verwirrung und Vervielfältigung jener konstitutiven Kategorien, die versuchen, die Geschlechtsidentität an ihrem Platz zu halten, indem sie in der Pose der fundierenden Illusion der Identität auftreten.”
Was Judith Butler hier also betreibt, ist weder Geisteswissenschaft noch Philosophie oder von einem wissenschaftlich-aufklärerischen Interesse getrieben, sondern stellt eine auf ein politisches Ziel hin konstruierte Subversionsstrategie dar. Die Motivation dahinter scheint ihre eigene Biographie zu sein: Sie selbst ist biologisch eine Frau, jedoch lesbisch, bezeichnet sich selbst als non-binär und wirkt auf Fotos relativ maskulin. Biologisches Geschlecht, sexuelle Orientierung und soziale Geschlechterrolle gehen bei ihr also in keinster Weise zusammen. Darin liegt durchaus eine Legitimität für politisches Engagement, denn sie ist fraglos ein Mensch, findet sich als das vor, was sie ist und wird sich in ihrer Jugend möglicherweise vielen Abwertungen, Zwängen und Ausgrenzungen ausgesetzt gesehen haben. Man kann ihr nicht verübeln, daß sie zum Gegenangriff ansetzt.
Trotzdem liegt hierin der Grund, wieso die Lektüre ihres Buches für den logisch denkenden Geist einen Stresstest darstellt. Butler schickt den Leser in ein hochkomplexes, hyperintelligent konstruiertes Labyrinth, das ihn in zirkelnden Schleifen durch den Apparat der Postmoderne jagt, um geeignete “Strategien und Quellen der Subversion” herauszufischen. Eine Kohärenz und Konsequenz in der Argumentation ist dabei allerdings häufig nicht erkennbar. Butler wirft ihr suchendes Netz in den Ozean poststrukturalistischer Theorie, zieht das an Land, was ihr nutzt und stoppelt es zusammen. Was dadurch entsteht, ist keine “Gender Theorie” im wissenschaftlichen Sinn, also keine systematische, umfassende Untersuchung menschlicher Geschlechtlichkeit, sondern drückt vor allem den zähen Machtwillen der Autorin aus, alles niederzureißen, was ihr nicht entspricht.
Daß in der unseligen Verküpfung geisteswissenschaftlicher Theoriebildung und politischer Subversion der Ursprung für das destruktive, aggressive Chaos liegt, das die Vertreter der Gender Theorie entfachen, liegt nahe. Butlers Nietzsche- und Foucault-Rezeption, die jede Äußerung auf den darin enthaltenen Willen zur Macht reduziert, muss dabei notwendigerweise das wissenschaftliche Ethos, das die Grundlage unserer Universitäten darstellt, angreifen. Wo die Öffentlichkeit nur als großer Bewußtseinsgenerator aufgefasst wird, worin Machtstrukturen Subjekte in ihrem bloß vermeintlichen Selbst-Bewußtsein erschaffen, wo auch Argumentationen und Theorien lediglich auf ihre “politischen Einsätze” hin befragt werden, kann Butlers Resultat natürlich nicht darin bestehen, sich auf Konzepte wie “Vernunft” oder “Aufklärung” zu stützen. Alles ist Politik, jede Äußerung ist eine Äußerung der Macht, die den öffentlichen Raum und damit die Bewußtseine in ihrem Sinne formt.
So entwickelt Butler aus ihrem Feministen-Nietzscheanismus etwas, das ironischerweise dem “Tatkult” in der Konservativen Revolution nicht ohne Zufall ähnelt: das Performative. “Subversive Körperakte”, “performative Subversion”. Wahrheit als Wirklichkeit wird durch ein Tun erzeugt, nicht durch die Richtigkeit eines Arguments. So soll performative Subversion durch öffentliche Aktionen den “heterosexistischen” Normalitätskonsens unserer Kultur infragestellen, Irritation auslösen, ein “Anderes” sichtbar machen und damit Bewußtseinsveränderungen erzeugen.
Die Folgen dieser Strategie lassen sich seit vielen Jahren beobachten. Provokative Aussagen wie “Auch Männer menstruieren” oder “Auch Männer können schwanger werden”, gerne unterstützt durch Fotographien, auf denen männlich wirkende Menschen mit blutiger Unterwäsche oder Schwangerschaftsbäuchen zu sehen sind. Eine singende Nicht-Frau im Abendkleid mit Bart wie Conchita Wurst. Die Erfindung unzähliger, neuer Geschlechtsbezeichnungen. Hier werden performativ die binären Strukturen von Mann und Frau aufgebrochen, mit dem Ziel, das kulturelle Bewußtsein zu verändern.
Dabei darf der performative Sprechakt nicht mit Argumentation verwechselt werden. “Es gibt mehr als zwei Geschlechter” — das ist kein Argument, kein wissenschaftliches Faktum, sondern eine Performance, die darauf abzielt, heteronormative Muster aufzubrechen und einen jenseits davon liegenden kulturellen Möglichkeitsraum zu schaffen.
Gleichermaßen ist für den am Poststrukturalismus geschulten Gender Aktivisten die Sprache an sich ebenfalls ein normatives Medium, das bestimmte Möglichkeiten kulturell erzeugt oder versperrt. Auch sie kann also durch subversive, performative Akte aufgesprengt werden. Im deutschsprachigen Raum erlangte Lann Hornscheidt durch ihre Versuche, eine post-geschlechtliche Sprache zu entwerfen, eine skurrile Berühmtheit. (“Profx”, “Einx schlaux Sprachwissenschaftx liebt xs Bücher”, “ens”) Doch auch das populäre “Gendern” (“Journalist_innen”) — auch wenn es einer im Vergleich zur Gender Theorie noch recht “reaktionären” Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit folgt — basiert auf der Theorie, daß unsere Sprache strukturell von patriarchalisch-männlichen Normierungen durchsetzt sei. Durch den Sprechakt des Genderns soll über sprachliche Emanzipation die gesellschaftliche Emanzipation erzeugt werden, die geschlechtergerechte Sprache als Matrix des Denkens soll geschlechtergerechte Subjekte hervorbringen.
* * *
D. Abendröte
Wie nun mit all dem umgehen? Das fragen sich seit Jahren die Kritiker der Gender Theorie. (Aus Gründen des Umfangs verzichte ich in diesem Text auf Darstellung der Critical Race Theory. Aber sie hat die selben Einflüsse und wird auf analoge Weise gebildet. Nur daß im Mittelpunkt nicht der Mann, sondern der Weiße steht. Woraus dann Überschneidungen hervorgehen, die als “Intersektionalität” bezeichnet werden — daß also z.B. der eine geschlechtlich als Homosexueller ausgegrenzt, andererseits aber als Weißer privilegiert ist. Daß jemand schwarz ist, und gleichzeitig behindert, wodurch er sowohl “rassistisch” als auch “ableistisch” diskriminiert wird. Etc. Wichtig ist hier zu verstehen, daß dabei “Rasse” oder “Weißsein” nicht als biologische Beschreibungen, sondern als Äußerungen politisch-gesellschaftlicher Macht analysiert werden, analog dazu, wie Judith Butler das Geschlecht behandelt.)
Ein hilfloser Verweis auf einen vermeintlichen “gesunden Menschenverstand” wird natürlich intellektuell souverän abgeschmettert. “Many quite nefarious ideologies pass for common sense. For decades of American history, it was ”common sense” in some quarters for white people to own slaves and for women not to vote. Common sense, moreover, is not always ”common” — the idea that lesbians and gay men should be protected against discrimination and violence strikes some people as common-sensical, but for others it threatens the foundations of ordinary life.
If common sense sometimes preserves the social status quo, and that status quo sometimes treats unjust social hierarchies as natural, it makes good sense on such occasions to find ways of challenging common sense.” (Judith Butler, A ‘bad writer’ bites back, New York Times 1999)
Meines Erachtens muss man, um der Gender Theorie und artverwandten Wokeness-Strömungen auf Augenhöhe zu begegnen, etwas tun, was bislang weitgehend unterblieben ist: sie ernst nehmen und die Frage stellen, ob sie möglicherweise im Recht sind. Das bedeutet: sowohl eine Auseinandersetzung mit den Denkern und Theorien, auf die sich die Gender Theorie beruft. Als auch eine mit der Art und Weise, wie diese Denker rezipiert werden und der Gender Theorie als Legitimation dienen.
Der Ort für diese Forschung wäre prinzipiell die Universität. Hier allerdings rächt sich die Hegemonie neolinken Denkens, das die Bahn der Entwicklung westlicher Universitäten seit der 68er-Bewegung bestimmt. Ebenso wie beispielsweise in der Soziologie kaum kritische Migrationsforschung betrieben wird, weshalb trotz einer seit Jahrzehnten anwachsenden Kluft zwischen Ideal und Realität kaum ein seriöses, wissenschaftliches Fundament existiert, das erklären könnte/dürfte, weshalb Migration Probleme erzeugt, so wenig ist bislang eine geisteswissenschaftliche Kritik an der Gender Theorie zu erkennen.
So hat der politisierte Poststrukturalismus, wie er sich in Gender Theorie, Kritischer Rassentheorie und anderem entfaltet, sich selbst als Eliten- und Herrschaftswissen hervorgebracht, dessen theoretische Beherrschung ein Machtinstrument darstellt. Wo, um auf Nietzsche zurückzukommen, die Aristokratie sich durch Waffenbeherrschung und körperliche Gesundheit auszeichnete, so stehen wir aktuell vor einem verwinkelten Theorie-Instrumentarium, dessen Beherrschung zuverlässig imstande ist, ein “Pathos der Distanz” zwischen einer fortschrittlich-intellektuellen Elite und ihrem Einsatz für eine bessere Welt und der tumben, rückständigen Masse, strotzend vor Dummheit und Schlechtigkeit, aufzubauen.
Dumme Revolutionäre stürmen die Thronsäle, kluge Revolutionäre die Waffenkammern. In diesem Sinn kann der vorliegende Text vielleicht als Lageplan dienen, er will weniger eine Kritik formulieren, sondern zunächst überhaupt einmal den Gegenstand ansichtig machen, an dem eine satisfaktionsfähige Kritik geübt werden könnte.
Fragezeichen gibt es genug. Butlers Umgang mit Derridas Struktur des “Binären” ist außerordentlich oberflächlich — während auch Derrida selbst, auf den sie sich damit bezieht, insbesondere von Vertretern der angelsächsischen, analytischen Philosophie vielfach mit harscher Kritik bedacht wird. Auch Foucault sieht sich mit einer grundsätzlichen Kritik konfrontiert: denn wenn die geistige Struktur einer Epoche den möglichen Denkraum und die Subjekte erzeugt, wie ist es möglich, daß die geistige Struktur einer Epoche von einer anderen abgelöst wird? Die klassisch moderne Auffassung eines vernünftigen, autonomen Subjekts mag naiv und einseitig sein, doch eine ausschließliche Post-Subjekt-Philosophie ist außerstande, die Dynamik, Innovationsfähigkeit und Pluralität geschichtlich-kultureller Prozesse zu erklären.
Und auch die Theorien Sigmund Freuds, auf deren Bezugnahme wir immer wieder an zentraler Stelle stoßen, bedürfen einer Auseinersetzung. Sie sind erste, geniale Pionierleistungen, jedoch aufgrund dessen auch hochspekulativ. Es ist durchaus auffällig, daß Butler sich alleine auf Freud bezieht, mit diesem Freud-Bezug und seiner ebenfalls hochspekulativen Fortführung durch Lacan die Legitimation ihrer Theoriebildung bezweckt, während sie die psychologische Forschung der Gegenwart vollkommen ignoriert.
Ignoriert werden ebenfalls die Naturwissenschaften, während das schwarze Loch in der Mitte des geschäftigen butlerschen Kreisens schlußendlich natürlich die Fortpflanzung bleibt: Denn sogar wenn wir versuchsweise einmal ihre Theorie antizipieren und die kulturelle Herstellung einer “Zwangsheterosexualität” bejahen, so wäre diese noch immer weniger die bloße Machtmatrix eines dämonischen Patriarchats, sondern Bedingung der Möglichkeit biologischen Lebens, wie es sich auf diesem Planeten im Laufe der Jahrmillionen herangebildet hat. So lange der Mensch sterblich ist, wird er Heterosexualität hervorbringen müssen.
Zu den Fragezeichen zählt auch folgende Überlegung: Als der Affe vom Baum stieg und zum Menschen wurde soll er also mit dem Akt der Menschwerdung die biologische binäre Geschlechtlichkeit mit allem drum und dran abgelegt haben. Dann kam die Kultur daher und ihr fiel nix besseres ein, als genau diese biologischen Geschlechtsunterschiede wieder zu konstruieren. Das hört sich nicht nach der naheliegensten Erklärung an.