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Styler Ornament

Der philosophische Hintergrund der Gender Theorie

Styler Ornament

C. Von der Frau zur nonbinären Transperson

Auch auf der Suche nach den Ursprün­gen femi­nis­ti­scher Theo­rie stößt man zunächst auf Marx, bzw. auf sei­nen Mit­strei­ter Fried­rich Engels. So lesen wir bereits in des­sen Text “Der Ursprung der Fami­lie, des Pri­vat­ei­gen­tums und des Staa­tes” von 1884: “Die moder­ne Ein­zel­fa­mi­lie ist gegrün­det auf die off­ne oder ver­hüll­te Haus­skla­ve­rei der Frau, und die moder­ne Gesell­schaft ist eine Mas­se, die aus lau­ter Ein­zel­fa­mi­li­en als ihren Mole­kü­len sich zusam­men­setzt. Der Mann muss heut­zu­ta­ge in der gro­ßen Mehr­zahl der Fäl­le der Erwer­ber, der Ernäh­rer der Fami­lie sein, wenigs­tens in den besit­zen­den Klas­sen und das gibt ihm eine Herr­scher­stel­lung, die kei­ner juris­ti­schen Extra­be­vor­rech­tung bedarf. Er ist in der Fami­lie der Bour­geois, die Frau reprä­sen­tiert das Pro­le­ta­ri­at.” Bereits im ori­gi­na­len Mar­xis­mus fin­det also die Über­tra­gung des Klas­sen­kampf­sche­mas von Bür­ger­tum gegen Pro­le­ta­ri­at auf das Ver­hält­nis von Mann und Frau in der Fami­lie statt.

Für Engels’ mate­ria­lis­ti­sche Gesell­schafts­auf­fas­sung ist es der Kapi­ta­lis­mus, der das Patri­ar­chat und die Mono­ga­mie her­vor­bringt: “Die Mono­ga­mie ent­stand aus der Kon­zen­trie­rung grö­ße­rer Reich­tü­mer in einer Hand — und zwar der eines Man­nes — und aus dem Bedürf­nis, die­se Reich­tü­mer den Kin­dern die­ses Man­nes und kei­nes ande­ren zu vererben.”

So gese­hen erhält also auch die Frau einen Waren­cha­rak­ter. Die Frau als Ware hat einen Wert, der sich über die Nütz­lich­keit in einem männ­lich-kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tem bestimmt. Ihr Aus­se­hen, das den Mann sexu­ell sti­mu­liert, ihre Fähig­keit, dem Mann Nach­kom­men zu gebä­ren, ihre Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten, die danach bemes­sen sind, dem Mann auf mög­lichst ange­neh­me Wei­se zu Diens­ten zu sein, sei­nen Haus­halt zu pfle­gen, sei­ne Wün­sche aus­zu­füh­ren und ihm dabei immer treu und erge­ben zu blei­ben — die Frau ist eine Ware und ihr Wert, ihre Ide­al­ei­gen­schaf­ten, wer­den durch die Augen und die Wün­sche der Män­ner festgelegt.

Wer sie selbst ist, weiß sie zunächst gar nicht, denn eben­so wie der Pro­le­ta­ri­er von der kapi­ta­lis­ti­schen Herr­schafts­ideo­lo­gie dazu gebracht wird, das eige­ne Aus­ge­beu­tet­wer­den als gerecht oder zumin­dest unaus­weich­li­che “natür­li­che Ord­nung” auf­zu­fas­sen und sich damit zu iden­ti­fi­zie­ren, so erzieht das Patri­ar­chat die Frau dazu, männ­li­che Wunsch­vor­stel­lun­gen als ver­meint­lich eige­ne Iden­ti­tät zu übernehmen.

Die­se Sicht­wei­se ist bis heu­te zen­tral für die femi­nis­ti­sche Theo­rie­bil­dung. “Just as natu­re has to be sub­jec­ted to man in order to beco­me a com­mo­di­ty, so, it appears, does “the deve­lo­p­ment of a nor­mal woman.” A deve­lo­p­ment that amounts, for the femi­ni­ne, to sub­or­di­na­ti­on to the forms and laws of mas­cu­li­ne acti­vi­ty. The rejec­tion of the mother-impu­ted to woman would find its “cau­se” here.

Just as, in com­mo­di­ties, natu­ral uti­li­ty is over­ridden by the exch­an­ge func­tion, so the pro­per­ties of a woman’s body have to be sup­pres­sed and sub­or­di­na­ted to the exi­gen­ci­es of its trans­for­ma­ti­on into an object of cir­cu­la­ti­on among men.

Just as a com­mo­di­ty has no mir­ror it can use to reflect its­elf, so woman ser­ves as reflec­tion, as image of and for man, but lacks spe­ci­fic qua­li­ties of her own. Her value-inves­ted form amounts to what man inscri­bes in and on her mat­ter: that is, her body.” (Luce Iri­ga­ray, Women on the mar­ket (1977) — hier online.)

Wie also der Pro­le­ta­ri­er sich vom Objekt der Bour­geoi­sie revo­lu­tio­när zum Sub­jekt sei­nes eige­nen Daseins auf­schwin­gen soll, so muss ana­log dazu die Frau den­sel­ben Pro­zess in ihrem Ver­hält­nis zum Mann voll­zie­hen, um Sub­jekt, um frei zu werden.

Der zeit­ge­nös­si­sche Femi­nis­mus beginnt mit Simo­ne de Beau­voirs (1908 — 1986) Buch “Das ande­re Geschlecht” (1949). Ihr Lebens­part­ner war Jean-Paul Sart­re, der, unter dem Ein­fluß von Heid­eg­ger und Huss­erl, den fran­zö­si­schen Exis­ten­zia­lis­mus zur füh­ren­den phi­lo­so­phi­schen Strö­mung der 50er und 60er Jah­re mach­te. Auch ihr Ver­ständ­nis von Femi­nis­mus ist ein exis­ten­zia­lis­ti­sches, das Sub­jekt und des­sen Erfah­rung steht im Mittelpunkt.

Simo­ne de Beau­voir stellt fest, daß in der dama­li­gen Gesell­schaft ledig­lich dem Mann der Sta­tus als Sub­jekt zuge­spro­chen wird. Die Geschlech­ter­rol­le “Männ­lich­keit” ist auto­nom, aktiv, schaf­fend, die Geschlech­ter­rol­le der “Weib­lich­keit” dage­gen objekt­haft: pas­siv, dul­dend, die­nend, unter­ge­ord­net. Die Frau ist das Objekt des Man­nes, genau­er gesagt: sie wird dazu gemacht. “Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.” lau­tet der bekann­tes­te und fol­gen­reichs­te Satz aus Beau­voirs Werk. Damit voll­zieht sie als ers­te die Tren­nung zwi­schen bio­lo­gi­schem Geschlecht und sozio­kul­tu­rell aner­zo­ge­ner Geschlech­ter­rol­le. “Nicht mys­te­riö­se Instink­te machen Mäd­chen pas­siv, kokett oder müt­ter­lich, die­se Beru­fung wird ihnen viel­mehr von klein auf andressiert.”

Das bil­det den Aus­gangs­punkt des soge­nann­ten “Second-wave” Femi­nis­mus. Die ers­te Wel­le beginnt im 19. Jahr­hun­dert und ver­ficht grund­sätz­li­che, poli­ti­sche Zie­le wie gleich­be­rech­tig­te Eigen­tums­rech­te und das Wahl­recht für Frau­en. Bei der zwei­ten geht es nun dar­um, die noch im 19. Jahr­hun­dert zumeist natu­ra­li­siert auf­ge­fass­ten Geschlech­ter­rol­len zu hin­ter­fra­gen und auch der Frau ein akti­ves Leben, eine eige­ne Selbst­ver­wirk­li­chung zuzu­spre­chen. Kön­nen Frau­en Unter­neh­men füh­ren? Kön­nen Frau­en in die Poli­tik? Kön­nen Frau­en Fuß­ball spie­len oder Kampf­sport machen? Kön­nen Frau­en nur als Haus­frau­en und Müt­ter glück­lich wer­den? Haben Frau­en auch eine eige­ne Sexua­li­tät? Die­se Posi­ti­on wird in Deutsch­land von Ali­ce Schwar­zer und ihrer Zeit­schrift Emma ver­foch­ten, sie kann mitt­ler­wei­le als all­ge­mein akzep­tiert gel­ten. Die drit­te Wel­le dann ist die Gen­der Theorie.

“Might is right.”

“Ich habe die­se Tex­te zusam­men­ge­stellt, um eine poli­ti­sche Annä­he­rung von Femi­nis­mus, von schwu­len und les­bi­schen Per­spek­ti­ven auf die Geschlechts­iden­ti­tät und post­struk­tu­ra­lis­ti­scher Theo­rie zu ermög­li­chen.”- so lesen wir im Vor­wort von “Das Unbe­ha­gen der Geschlech­ter (1990) von Judith But­ler (*1956), das heu­te als einer der grund­le­gen­den Tex­te der Gen­der Theo­rie ange­se­hen wird. Dar­aus las­sen sich die drei wesent­li­chen Aspek­te ent­neh­men, die die Gen­der Theo­rie ausmacht.

1. Die Über­tra­gung post­struk­tu­ra­lis­ti­scher Theo­rie auf den Femi­nis­mus. Die­ser war, wie gezeigt, bis dahin von “klas­sisch moder­nen” Argu­men­ta­ti­ons­mus­tern geprägt. Die Frau kämpft für ihre “Frei­heit”, für ein selbst­be­stimm­tes Leben als Sub­jekt in einer männ­lich beherrsch­ten Welt. But­ler dage­gen ada­piert Fou­cault — sie hin­ter­fragt das Sub­jekt und betrach­tet es als Resul­tat kul­tu­rel­ler Pro­zes­se. “Michel Fou­cault hat dar­auf hin­ge­wie­sen, daß die juri­di­schen Macht­re­gime die Sub­jek­te, die sie reprä­sen­tie­ren, zunächst auch pro­du­zie­ren. […] Die femi­nis­ti­sche Kri­tik muss auch begrei­fen, wie die Kate­go­rie “Frau(en)”, das Sub­jekt des Femi­nis­mus, gera­de durch jene Macht­struk­tu­ren her­vor­ge­bracht und ein­ge­schränkt wird, mit­tels derer das Ziel der Eman­zi­pa­ti­on erreicht wer­den soll. Aller­dings ver­weist das Pro­blem der Frau­en als Sub­jekt des Femi­nis­mus auf die Mög­lich­keit, daß es gar kein Sub­jekt gibt, das “vor” dem Gesetz steht und nur auf die Reprä­sen­ta­ti­on in oder durch das Gesetz war­tet. Mög­li­cher­wei­se wird die­ses Sub­jekt, eben­so wie die Beschwö­rung eines zeit­li­chen “vor” dem Gesetz selbst als fik­ti­ve Grund­la­ge für sei­nen eige­nen Legi­ti­ma­ti­ons­an­spruch geschaffen.”

“Die Schran­ken der Dis­kurs­ana­ly­se der Geschlechts­iden­ti­tät impli­zie­ren und legen von vorn­her­ein die Mög­lich­kei­ten der vor­stell­ba­ren und rea­li­sier­ba­ren Kon­fi­gu­ra­tio­nen der Geschlechts­iden­ti­tät in der Kul­tur fest. Das bedeu­tet nicht, daß in Sachen Geschlechts­iden­ti­tät prin­zi­pi­ell alles und jede Mög­lich­kei­ten offen­ste­hen, son­dern daß die Schran­ken der Ana­ly­se auf die Gren­zen einer dis­kur­siv beding­ten Erfah­rung ver­wei­sen. Die­se Gren­zen wur­den stets nach Maß­ga­be eines hege­mo­nia­len kul­tu­rel­len Dis­kur­ses fest­ge­legt, der auf binä­re Struk­tu­ren gegrün­det ist, die als Spra­che der uni­ver­sel­len, alle­m­ein­gül­ti­gen Ver­nunft erschei­nen. Somit ist die zwang­haf­te Ein­schrän­kung gleich­sam in das ein­ge­baut, was von der Spra­che als Vor­stel­lungs­ho­ri­zont mög­li­cher Geschlechts­iden­ti­tät fest­ge­legt wird.”

But­ler sieht das Pro­blem also nicht dar­in, daß der Mann die Frau unter­drückt, son­dern grund­le­gen­der, daß unse­re Kul­tur nur die Iden­ti­täts-Optio­nen “Frau” und “Mann” zur Ver­fü­gung stellt, wodurch auch die Selbst­iden­ti­fi­ka­ti­on als “Frau” bereits Aus­druck einer Dis­kurs­he­ge­mo­nie, eine Über­nah­me vor­ge­präg­ter Mus­ter, ist. Beau­voir will die Frau von männ­li­cher Herr­schaft befrei­en, But­ler betrach­tet die Idee, es gäbe (nur) “Mann” und “Frau”, als binä­re, also fal­sche, sprach­lich kon­stru­ier­te Struk­tur, die sich den Anschein all­ge­mein­gül­ti­ger Ver­nunft gibt. Im Rekurs auf Der­ri­da wird die Spra­che als Vor­stel­lungs­ho­ri­zont und davon ein­ge­schränk­ter Mög­lich­keits­raum geschlecht­li­cher Selbst­ver­wirk­li­chung auf­ge­fasst. Obwohl, so die Impli­ka­ti­on, mög­li­cher­wei­se auch ganz ande­re Optio­nen zur Ver­fü­gung stünden.

Phi­lo­so­phisch gese­hen stellt But­ler sich damit auf die Sei­te von Nietz­sche und Fou­cault: eine Sub­stanz exis­tiert nicht. Das bedeu­tet, auf die Geschlech­ter bezo­gen: es exis­tiert weder “Mann” noch “Frau” in einem als vor­dis­kur­siv ima­gi­nier­ten Raum vor­geb­li­cher “Natur”. Viel­mehr sind sol­che Zuschrei­bun­gen blo­ßer Aus­druck eines Gesche­hens, einem sich ver­wirk­li­chen­den Wil­len zur Macht, der sich den Men­schen­we­sen ein­schreibt. Bereits die Behaup­tung, es gäbe eine dem Dis­kurs vor­ge­la­ger­te und ihm ent­zo­ge­ne “Natur”, ist ledig­lich Herr­schafts­stra­te­gie, die sich damit selbst zu ver­schlei­ern ver­sucht. “Viel­mehr ist die Natur eine Idee, die zum Zwe­cke der gesell­schaft­li­chen Kon­trol­le erzeugt und auf­recht­erhal­ten wird.”

2. Wor­auf will Judith But­ler aber hin­aus, wenn sie die Kate­go­rie “Frau” prin­zi­pi­ell hin­ter­fragt? Das erschließt sich durch den zwei­ten Aspekt: In “Das Unbe­ha­gen der Geschlech­ter” wird der Begriff des Femi­nis­mus erwei­tert, er reprä­sen­tiert nun nicht nur Frau­en, son­dern eben­falls “schwu­le und les­bi­sche Per­spek­ti­ven”. Das klingt zunächst unspek­ta­ku­lär, hat aber radi­ka­le, theo­re­ti­sche Kon­se­quen­zen: die Ver­bin­dung von kör­per­li­chem Geschlecht und sexu­el­lem Begeh­ren, von Geschlecht­lich­keit und Fort­pflan­zung, wird damit durch­schnit­ten. Doch das legt eigent­lich nur eine Fra­ge­stel­lung offen, der bereits deut­lich län­ger währt und uns erneut zu Sig­mund Freud führt.

In Bezug auf die Sexua­li­tät ist unse­re Gegen­wart von zwei unter­schied­li­chen Ansät­zen durch­zo­gen, die als “bio­lo­gisch” und “psy­cho­lo­gisch” bezeich­net wer­den kön­nen. Der bio­lo­gi­sche fußt auf der Prä­mis­se der Fort­pflan­zung. Sexua­li­tät also ist der Modus des Zeu­gens: die bei­den Geschlech­ter sind Par­ti­zi­pi­en­ten des Zeu­gungs­vor­gan­ges, sexu­el­le Sti­mu­la­ti­on und Lust dient dazu, die Men­schen zur Zeu­gung zu bewe­gen, und auch die sozia­len Geschlech­ter­rol­len wer­den pri­mär als Ana­lo­gie zum Tier­reich gebil­det, sie defi­nie­ren sich über ihre prak­ti­sche Nütz­lich­keit im evo­lu­tio­nä­ren Selek­ti­ons- und Überlebensprozess.

Sig­mund Freud Psy­cho­ana­ly­se ent­wi­ckelt eine ganz ande­re Sicht­wei­se. Sei­ne “Libi­do” als Lust­prin­zip ist zunächst ein­mal völ­lig unge­rich­tet, der Sexu­al­trieb des Men­schen sucht ledig­lich blind nach Sti­mu­la­ti­on und Befrie­di­gung. So steht am Beginn der Theo­rie Freuds das Inzest­ver­bot, das die väter­li­che Auto­ri­tät dem männ­li­chen Kind zunächst ein­mal aner­zie­hen muss, damit es sich nicht an der Mut­ter ver­greift. Dar­über­hin­aus geht Freud von der prin­zi­pi­el­len Bise­xua­li­tät des Men­schen aus, erst durch Ver­ar­bei­tung des “Ödi­pus­kom­ple­xes” ent­schei­det sich in etwa bis zum 5. Lebens­jahr, ob sich durch die kom­ple­xen Iden­ti­fi­ka­ti­ons- und Absto­ßungs­pro­zes­se im fami­liä­ren Rah­men eine hete­ro­se­xu­el­le Selbst­iden­ti­fi­ka­ti­on vollzieht.

“Der ver­ein­fach­te Fall gestal­tet sich für das männ­li­che Kind in fol­gen­der Wei­se: Ganz früh­zei­tig ent­wi­ckelt es für die Mut­ter eine Objekt­be­set­zung, die von der Mut­ter­brust ihren Aus­gang nimmt und das vor­bild­li­che Bei­spiel einer Objekt­wahl nach dem Anleh­nungs­ty­pus zeigt; des Vaters bemäch­tigt sich der Kna­be durch Iden­ti­fi­zie­rung. Die bei­den Bezie­hun­gen gehen eine Wei­le neben­ein­an­der her, bis durch die Ver­stär­kung der sexu­el­len Wün­sche nach der Mut­ter und die Wahr­neh­mung, daß der Vater die­sen Wün­schen ein Hin­der­nis ist, der Ödi­pus­kom­plex ent­steht. Die Vater­iden­ti­fi­zie­rung nimmt nun eine feind­se­li­ge Tönung an, sie wen­det sich zum Wunsch, den Vater zu besei­ti­gen, um ihn bei der Mut­ter zu erset­zen. Von da an ist das Ver­hält­nis zum Vater ambi­va­lent; es scheint, als ob die in der Iden­ti­fi­zie­rung von Anfang an ent­hal­te­ne Ambi­va­lenz mani­fest gewor­den wäre. Die ambi­va­len­te Ein­stel­lung zum Vater und die nur zärt­li­che Objekt­stre­bung nach der Mut­ter beschrei­ben für den Kna­ben den Inhalt des ein­fa­chen, posi­ti­ven Ödipuskomplexes.

Bei der Zer­trüm­me­rung des Ödi­pus­kom­ple­xes muß die Objekt­be­set­zung der Mut­ter auf­ge­ge­ben wer­den. An ihre Stel­le kann zwei­er­lei tre­ten, ent­we­der eine Iden­ti­fi­zie­rung mit der Mut­ter oder eine Ver­stär­kung der Vater­iden­ti­fi­zie­rung. Den letz­te­ren Aus­gang pfle­gen wir als den nor­ma­le­ren anzu­se­hen, er gestat­tet es, die zärt­li­che Bezie­hung zur Mut­ter in gewis­sem Maße fest­zu­hal­ten. Durch den Unter­gang des Ödi­pus­kom­ple­xes hät­te so die Männ­lich­keit im Cha­rak­ter des Kna­ben eine Fes­ti­gung erfah­ren. In ganz ana­lo­ger Wei­se kann die Ödi­pus­ein­stel­lung des klei­nen Mäd­chens in eine Ver­stär­kung ihrer Mut­ter­iden­ti­fi­zie­rung (oder in die Her­stel­lung einer sol­chen) aus­lau­fen, die den weib­li­chen Cha­rak­ter des Kin­des festlegt.

Der Aus­gang der Ödi­pus­si­tua­ti­on in Vater- oder in Mut­ter­iden­ti­fi­zie­rung scheint also bei bei­den Geschlech­tern von der rela­ti­ven Stär­ke der bei­den Geschlechts­an­la­gen abzu­hän­gen. Dies ist die eine Art, wie sich die Bise­xua­li­tät in die Schick­sa­le des Ödi­pus­kom­ple­xes ein­mengt. Die ande­re ist noch bedeut­sa­mer. Man gewinnt näm­lich den Ein­druck, daß der ein­fa­che Ödi­pus­kom­plex über­haupt nicht das häu­figs­te ist, son­dern einer Ver­ein­fa­chung oder Sche­ma­ti­sie­rung ent­spricht, die aller­dings oft genug prak­tisch gerecht­fer­tigt bleibt. Ein­ge­hen­de­re Unter­su­chung deckt zumeist den voll­stän­di­ge­ren Ödi­pus­kom­plex auf, der ein zwei­fa­cher ist, ein posi­ti­ver und ein nega­ti­ver, abhän­gig von der ursprüng­li­chen Bise­xua­li­tät des Kin­des, d. h. der Kna­be hat nicht nur eine ambi­va­len­te Ein­stel­lung zum Vater und eine zärt­li­che Objekt­wahl für die Mut­ter, son­dern er benimmt sich auch gleich­zei­tig wie ein Mäd­chen, er zeigt die zärt­li­che femi­ni­ne Ein­stel­lung zum Vater und die ihr ent­spre­chen­de eifer­süch­tig-feind­se­li­ge gegen die Mut­ter. Die­ses Ein­grei­fen der Bise­xua­li­tät macht es so schwer, die Ver­hält­nis­se der pri­mi­ti­ven Objekt­wah­len und Iden­ti­fi­zie­run­gen zu durch­schau­en, und noch schwie­ri­ger, sie faß­lich zu beschrei­ben. Es könn­te auch sein, daß die im Eltern­ver­hält­nis kon­sta­tier­te Ambi­va­lenz durch­aus auf die Bise­xua­li­tät zu bezie­hen wäre und nicht, wie ich es vor­hin dar­ge­stellt, durch die Riva­li­täts­ein­stel­lung aus der Iden­ti­fi­zie­rung ent­wi­ckelt wür­de.” (Sig­mund Freud, Das Ich und das Es)

Freud, das sei hier betont, ist auch Wis­sen­schaft­ler. Im Sin­ne wis­sen­schaft­li­cher Metho­dik macht er als Arzt Beob­ach­tun­gen, und ent­wi­ckelt dar­aus mit­tels Deduk­ti­on ver­all­ge­mei­ner­te Theo­rien, die das gesam­mel­te Mate­ri­al erklä­ren sol­len. Nur daß er im Gegen­satz zu den Bio­lo­gen nicht den Kör­per unter­sucht oder mensch­li­ches Ver­hal­ten aus Tier­welt und Evo­lu­ti­ons­theo­rie ablei­tet, son­dern den Geist, die Selbst­wahr­neh­mung der Men­schen. Er spricht mit sei­nen Pati­en­ten, ana­ly­siert psy­chi­sche Pro­ble­me, ver­sucht sie zu kurie­ren und lei­tet aus die­sen Erfah­run­gen sys­te­ma­ti­sche Zusam­men­hän­ge ab. Bis heu­te ist der Anteil von Bise­xu­el­len strit­tig, doch ist er wohl höher als vie­le Kon­ser­va­ti­ve es sich ein­ge­ste­hen wol­len. Der Kin­sey-Report von 1946 kam zu dem Ergeb­nis, daß 46% der Bevöl­ke­rung zumin­dest eine bise­xu­el­le Ten­denz auf­wei­sen. Laut einer Umfra­ge im Jahr 2015 stuf­ten sich in Deutsch­land laut Selbst­aus­kunft 21% selbst als bise­xu­ell ein, in der Alters­grup­pe von 18 — 24 waren es 39%.

Doch auch wenn sowohl die bio­lo­gi­sche als auch die psy­cho­lo­gi­sche Auf­fas­sung von Sexua­li­tät wis­sen­schaft­lich genannt wer­den kann, sind die unter­schied­li­chen kul­tu­rel­len Impli­ka­tio­nen bei­der Theo­rien enorm. Denn der Umgang mit Sexua­li­tät zählt seit Anbe­ginn der Mensch­heit zu den Kern­the­men mensch­li­cher Ethik. Wor­in besteht die Natur des Men­schen, was ist gesund und krank, was mora­lisch gutes oder schlech­tes Verhalten?

Der bio­lo­gi­sche Stand­punkt geht von einem gene­tisch ein­pro­gram­mier­ten Nor­ma­li­täts­me­cha­nis­mus aus, der auto­ma­tisch aus sich selbst her­aus eine Über­ein­stim­mung von bio­lo­gi­schem Geschlecht, sozia­lem Geschlecht und sexu­el­ler Ori­en­tie­rung her­stellt. Wo die­ser aus­bleibt, geht man von einem Krank­heits­zu­stand aus, noch in den 50er Jah­ren wur­den bei­spiels­wei­se Homo­se­xu­el­le mit Hor­mo­nen behan­delt, um sie hete­ro­se­xu­ell zu machen.

Bei Freud dage­gen stellt der Urzu­stand einen aus­schließ­lich zur eige­nen Lust- und Sti­mu­la­ti­ons­meh­rung exis­tie­ren­der Trieb dar, der erst durch kul­tu­rel­le und inner­fa­mi­liä­re Prä­gungs­pro­zes­se zu einer männ­li­chen oder weib­li­chen Iden­ti­tät fin­det. Doch auch wenn Freud selbst noch davon aus­geht, daß jeweils unter­schied­li­che “Anla­gen” vor­han­den sind, die in die eine oder ande­re Rich­tung drän­gen, ist der Zusam­men­klang von phy­si­schem Kör­per und geis­ti­ger Sexua­li­tät im Zei­chen der Fort­pflan­zung, wie die Bio­lo­gen ihn her­stel­len, damit gelöst. Die dem Men­schen ange­bo­re­ne sexu­el­le Lust wird als frei und unge­bun­den auf­ge­fasst, erst kul­tu­rel­le Pro­zes­se schrän­ken sie ein, um sie einem gewünsch­ten Nut­zen zu unter­wer­fen. Damit dreht sich impli­zit auch das Ver­hält­nis von krank und gesund: Wäh­rend der bio­lo­gi­sche Stand­punkt Hete­ro­se­xua­li­tät als Natur, das davon abwei­chen­de als krank auf­fasst, betrach­tet der psy­cho­lo­gi­sche Stand­punkt viel­mehr die Her­stel­lung von Hete­ro­se­xua­li­tät als arti­fi­zi­el­len Zwangs­akt, der zu psy­chi­schen Krank­hei­ten füh­ren kann.

Judith But­ler setzt sich detail­liert mit Freud und sei­nen Nach­fol­gern aus­ein­an­der. Gera­de der struk­tu­ra­lis­ti­sche Psy­ch­ana­ly­ti­ker Jaques Lacan ist für den post­mo­der­nen Femi­nis­mus wich­tig gewor­den. Sei­ne sym­bo­lis­ti­sche Inter­pre­ta­ti­on der norm­ge­ben­den väter­li­chen Auto­ri­tät wird hier zur Grund­la­ge einer neu­en Theo­rie des Patri­ar­chats, das weni­ger poli­tisch-juris­tisch, son­dern viel­mehr “struk­tu­rell” im Unter­be­wuß­ten wirk­sam ist. Er ent­wi­ckelt den Ter­mi­nus “Name-des-Vaters”, offen­sicht­lich beein­flußt vom christ­li­chen Vater­un­ser: der Vater ist der “fun­da­men­ta­le Signi­fi­kant”, die Sym­bol­in­stanz, die jed­we­de Ord­nung fun­diert. Dar­aus ent­wi­ckelt die Femi­nis­tin Luce Iri­ga­ray, auf die sich But­ler häu­fig bezieht, den Begriff des “Phal­lo­go­zen­tris­mus”.

Die­ser Phal­lo­go­zen­tris­mus als nor­ma­tiv auto­ri­tä­re Män­ner­ver­nunft, als patri­ar­cha­li­scher Logos, ist es schließ­lich, der die “Zwangs­he­te­ro­se­xua­li­tät” erzeugt, dem Men­schen also eine als dis­kur­siv nor­mal oder natür­lich kom­mu­ni­zier­te Syn­chro­ni­zi­tät von kör­per­li­chem Geschlecht, psy­chi­scher Geschlechts­iden­ti­tät und sexu­el­ler Ori­en­tie­rung auferlegt.

“Die grund­le­gen­den Kate­go­rien des Geschlech­tes, der Geschlechts­iden­ti­tät und des Begeh­rens als Effek­te einer spe­zi­fi­schen Macht­for­ma­ti­on zu ent­hül­len, erfor­dert eine Form der kri­ti­schen Unter­su­chung, die Fou­cault im Anschluß an Nietz­sche als “Genea­lo­gie” bezeich­net hat. Die genea­lo­gi­sche Kri­tik lehnt es ab, nach den Ursprün­gen der Geschlechts­iden­ti­tät, der inne­ren Wahr­heit des weib­li­chen Geschlech­tes oder einer genui­nen, authen­ti­schen Sexua­li­tät zu suchen, die durch die Repres­si­on der Sicht ent­zo­gen wur­de. Viel­mehr erforscht die Genea­lo­gie die poli­ti­schen Ein­sät­ze, die auf dem Spiel ste­hen, wenn die Iden­ti­täts­ka­te­go­rien als Ursprung und Ursa­che bezeich­net wer­den, obgleich sie in Wirk­lich­keit Effek­te von Insti­tu­tio­nen, Ver­fah­rens­wei­sen und Dis­kur­sen mit viel­fäl­ti­gen und dif­fu­sen Ursprungs­or­ten sind. Die Auf­ga­be der vor­lie­gen­den Unter­su­chung ist, sich auf sol­che defi­nie­ren­den Insti­tu­tio­nen: den Phal­lo­go­zen­tris­mus und die Zwangs­he­te­ro­se­xua­li­tät zu zen­trie­ren — und sie zu dezen­trie­ren.” (Das Unbe­ha­gen der Geschlechter)

Hier also, in der Schnitt­men­ge von Freud, Fou­cault, Der­ri­da und Lacan, liegt die Wur­zel des­sen, was heu­te als “LGBTQ+” in immer exzen­tri­sche­re Rich­tun­gen wuchert. Im Sin­ne die­ser Theo­rie­bil­dung ist nicht Hete­ro­se­xua­li­tät das Ori­gi­nal, son­dern der Mensch stellt ein völ­lig offe­nes Feld mög­li­cher geschlecht­li­cher und sexu­el­ler Iden­ti­tä­ten dar. Die­se aller­dings sind bis­lang kul­tu­rell vom “Phal­lo­go­zen­tris­mus”, einem anschei­nend die Welt­ge­schich­te durch­wo­gen­den Ungeist, ein­ge­schränkt wor­den. Die­ser bringt die binä­re Struk­tur von “Mann” und “Frau” samt ihrer natu­ra­li­sier­ten Über­ein­stim­mung von Kör­per, sexu­el­ler Ori­en­tie­rung und Geschlech­ter­rol­le her­vor und zwingt sie neu­ge­bo­re­nen Men­schen auf, die erst dadurch als “männ­li­che” oder “weib­li­che” Sub­jek­te erzeugt werden.

Die Macht dahin­ter ist Fort­pflan­zung: Män­ner und Frau­en mit hete­ro­se­xu­el­ler Ori­en­tie­rung müs­sen kul­tu­rell erzeugt wer­den, damit Fort­pflan­zung von­stat­ten gehen kann. Doch dar­auf geht But­ler kaum ein — auf­grund der schwer­lich zu leug­nen­den Not­wen­dig­keit von Fort­pflan­zung liegt hier offen­kun­dig der Schwach­punkt ihrer Theorie.

3. Was in “Das Unbe­ha­gen der Geschlech­ter” ent­wi­ckelt wird, ist von vorn­her­ein als poli­ti­sches Werk­zeug gedacht.

“Der vor­lie­gen­de Text stellt dann auch den Ver­such dar, gleich­sam durch die Mög­lich­keit hin­durch zu den­ken, die natu­ra­li­sier­ten und ver­ding­lich­ten Begrif­fe der Geschlechts­iden­ti­tät, die die männ­li­che Hege­mo­nie und hete­ro­se­xis­ti­sche Macht stüt­zen, zu sub­ver­tie­ren und zu ver­schie­ben. Das heißt, es geht um den Ver­such, zur Geschlech­ter-Ver­wir­rung anzu­stif­ten. Dabei wer­den wir uns nicht sol­cher Stra­te­gien bedie­nen, die ein uto­pi­sches Jen­seits aus­ma­len, son­dern der Mobi­li­sie­rung, sub­ver­si­ven Ver­wir­rung und Ver­viel­fäl­ti­gung jener kon­sti­tu­ti­ven Kate­go­rien, die ver­su­chen, die Geschlechts­iden­ti­tät an ihrem Platz zu hal­ten, indem sie in der Pose der fun­die­ren­den Illu­si­on der Iden­ti­tät auftreten.”

Was Judith But­ler hier also betreibt, ist weder Geis­tes­wis­sen­schaft noch Phi­lo­so­phie oder von einem wis­sen­schaft­lich-auf­klä­re­ri­schen Inter­es­se getrie­ben, son­dern stellt eine auf ein poli­ti­sches Ziel hin kon­stru­ier­te Sub­ver­si­ons­stra­te­gie dar. Die Moti­va­ti­on dahin­ter scheint ihre eige­ne Bio­gra­phie zu sein: Sie selbst ist bio­lo­gisch eine Frau, jedoch les­bisch, bezeich­net sich selbst als non-binär und wirkt auf Fotos rela­tiv mas­ku­lin. Bio­lo­gi­sches Geschlecht, sexu­el­le Ori­en­tie­rung und sozia­le Geschlech­ter­rol­le gehen bei ihr also in keins­ter Wei­se zusam­men. Dar­in liegt durch­aus eine Legi­ti­mi­tät für poli­ti­sches Enga­ge­ment, denn sie ist frag­los ein Mensch, fin­det sich als das vor, was sie ist und wird sich in ihrer Jugend mög­li­cher­wei­se vie­len Abwer­tun­gen, Zwän­gen und Aus­gren­zun­gen aus­ge­setzt gese­hen haben. Man kann ihr nicht ver­übeln, daß sie zum Gegen­an­griff ansetzt.

Trotz­dem liegt hier­in der Grund, wie­so die Lek­tü­re ihres Buches für den logisch den­ken­den Geist einen Stress­test dar­stellt. But­ler schickt den Leser in ein hoch­kom­ple­xes, hyper­in­tel­li­gent kon­stru­ier­tes Laby­rinth, das ihn in zir­keln­den Schlei­fen durch den Appa­rat der Post­mo­der­ne jagt, um geeig­ne­te “Stra­te­gien und Quel­len der Sub­ver­si­on” her­aus­zu­fi­schen. Eine Kohä­renz und Kon­se­quenz in der Argu­men­ta­ti­on ist dabei aller­dings häu­fig nicht erkenn­bar. But­ler wirft ihr suchen­des Netz in den Oze­an post­struk­tu­ra­lis­ti­scher Theo­rie, zieht das an Land, was ihr nutzt und stop­pelt es zusam­men. Was dadurch ent­steht, ist kei­ne “Gen­der Theo­rie” im wis­sen­schaft­li­chen Sinn, also kei­ne sys­te­ma­ti­sche, umfas­sen­de Unter­su­chung mensch­li­cher Geschlecht­lich­keit, son­dern drückt vor allem den zähen Macht­wil­len der Autorin aus, alles nie­der­zu­rei­ßen, was ihr nicht entspricht.

Daß in der unse­li­gen Ver­küp­fung geis­tes­wis­sen­schaft­li­cher Theo­rie­bil­dung und poli­ti­scher Sub­ver­si­on der Ursprung für das destruk­ti­ve, aggres­si­ve Cha­os liegt, das die Ver­tre­ter der Gen­der Theo­rie ent­fa­chen, liegt nahe. But­lers Nietz­sche- und Fou­cault-Rezep­ti­on, die jede Äuße­rung auf den dar­in ent­hal­te­nen Wil­len zur Macht redu­ziert, muss dabei not­wen­di­ger­wei­se das wis­sen­schaft­li­che Ethos, das die Grund­la­ge unse­rer Uni­ver­si­tä­ten dar­stellt, angrei­fen. Wo die Öffent­lich­keit nur als gro­ßer Bewußt­seins­ge­ne­ra­tor auf­ge­fasst wird, wor­in Macht­struk­tu­ren Sub­jek­te in ihrem bloß ver­meint­li­chen Selbst-Bewußt­sein erschaf­fen, wo auch Argu­men­ta­tio­nen und Theo­rien ledig­lich auf ihre “poli­ti­schen Ein­sät­ze” hin befragt wer­den, kann But­lers Resul­tat natür­lich nicht dar­in bestehen, sich auf Kon­zep­te wie “Ver­nunft” oder “Auf­klä­rung” zu stüt­zen. Alles ist Poli­tik, jede Äuße­rung ist eine Äuße­rung der Macht, die den öffent­li­chen Raum und damit die Bewußts­ei­ne in ihrem Sin­ne formt.

So ent­wi­ckelt But­ler aus ihrem Femi­nis­ten-Nietz­schea­nis­mus etwas, das iro­ni­scher­wei­se dem “Tat­kult” in der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on nicht ohne Zufall ähnelt: das Per­for­ma­ti­ve. “Sub­ver­si­ve Kör­per­ak­te”, “per­for­ma­ti­ve Sub­ver­si­on”. Wahr­heit als Wirk­lich­keit wird durch ein Tun erzeugt, nicht durch die Rich­tig­keit eines Argu­ments. So soll per­for­ma­ti­ve Sub­ver­si­on durch öffent­li­che Aktio­nen den “hete­ro­se­xis­ti­schen” Nor­ma­li­täts­kon­sens unse­rer Kul­tur infra­ge­stel­len, Irri­ta­ti­on aus­lö­sen, ein “Ande­res” sicht­bar machen und damit Bewußt­seins­ver­än­de­run­gen erzeugen.

Die Fol­gen die­ser Stra­te­gie las­sen sich seit vie­len Jah­ren beob­ach­ten. Pro­vo­ka­ti­ve Aus­sa­gen wie “Auch Män­ner menstru­ie­ren” oder “Auch Män­ner kön­nen schwan­ger wer­den”, ger­ne unter­stützt durch Foto­gra­phien, auf denen männ­lich wir­ken­de Men­schen mit blu­ti­ger Unter­wä­sche oder Schwan­ger­schafts­bäu­chen zu sehen sind. Eine sin­gen­de Nicht-Frau im Abend­kleid mit Bart wie Con­chi­ta Wurst. Die Erfin­dung unzäh­li­ger, neu­er Geschlechts­be­zeich­nun­gen. Hier wer­den per­for­ma­tiv die binä­ren Struk­tu­ren von Mann und Frau auf­ge­bro­chen, mit dem Ziel, das kul­tu­rel­le Bewußt­sein zu verändern.

Dabei darf der per­for­ma­ti­ve Sprech­akt nicht mit Argu­men­ta­ti­on ver­wech­selt wer­den. “Es gibt mehr als zwei Geschlech­ter” — das ist kein Argu­ment, kein wis­sen­schaft­li­ches Fak­tum, son­dern eine Per­for­mance, die dar­auf abzielt, hete­ro­nor­ma­ti­ve Mus­ter auf­zu­bre­chen und einen jen­seits davon lie­gen­den kul­tu­rel­len Mög­lich­keits­raum zu schaffen.

Glei­cher­ma­ßen ist für den am Post­struk­tu­ra­lis­mus geschul­ten Gen­der Akti­vis­ten die Spra­che an sich eben­falls ein nor­ma­ti­ves Medi­um, das bestimm­te Mög­lich­kei­ten kul­tu­rell erzeugt oder ver­sperrt. Auch sie kann also durch sub­ver­si­ve, per­for­ma­ti­ve Akte auf­ge­sprengt wer­den. Im deutsch­spra­chi­gen Raum erlang­te Lann Horn­scheidt durch ihre Ver­su­che, eine post-geschlecht­li­che Spra­che zu ent­wer­fen, eine skur­ri­le Berühmt­heit. (“Profx”, “Einx schlaux Sprach­wis­sen­schaftx liebt xs Bücher”, “ens”) Doch auch das popu­lä­re “Gen­dern” (“Journalist_innen”) — auch wenn es einer im Ver­gleich zur Gen­der Theo­rie noch recht “reak­tio­nä­ren” Vor­stel­lung von Zwei­ge­schlecht­lich­keit folgt — basiert auf der Theo­rie, daß unse­re Spra­che struk­tu­rell von patri­ar­cha­lisch-männ­li­chen Nor­mie­run­gen durch­setzt sei. Durch den Sprech­akt des Gen­derns soll über sprach­li­che Eman­zi­pa­ti­on die gesell­schaft­li­che Eman­zi­pa­ti­on erzeugt wer­den, die geschlech­ter­ge­rech­te Spra­che als Matrix des Den­kens soll geschlech­ter­ge­rech­te Sub­jek­te hervorbringen.

* * *

D. Abendröte

Wie nun mit all dem umge­hen? Das fra­gen sich seit Jah­ren die Kri­ti­ker der Gen­der Theo­rie. (Aus Grün­den des Umfangs ver­zich­te ich in die­sem Text auf Dar­stel­lung der Cri­ti­cal Race Theo­ry. Aber sie hat die sel­ben Ein­flüs­se und wird auf ana­lo­ge Wei­se gebil­det. Nur daß im Mit­tel­punkt nicht der Mann, son­dern der Wei­ße steht. Wor­aus dann Über­schnei­dun­gen her­vor­ge­hen, die als “Inter­sek­tio­na­li­tät” bezeich­net wer­den — daß also z.B. der eine geschlecht­lich als Homo­se­xu­el­ler aus­ge­grenzt, ande­rer­seits aber als Wei­ßer pri­vi­le­giert ist. Daß jemand schwarz ist, und gleich­zei­tig behin­dert, wodurch er sowohl “ras­sis­tisch” als auch “ableis­tisch” dis­kri­mi­niert wird. Etc. Wich­tig ist hier zu ver­ste­hen, daß dabei “Ras­se” oder “Weiß­sein” nicht als bio­lo­gi­sche Beschrei­bun­gen, son­dern als Äuße­run­gen poli­tisch-gesell­schaft­li­cher Macht ana­ly­siert wer­den, ana­log dazu, wie Judith But­ler das Geschlecht behandelt.)

Ein hilf­lo­ser Ver­weis auf einen ver­meint­li­chen “gesun­den Men­schen­ver­stand” wird natür­lich intel­lek­tu­ell sou­ve­rän abge­schmet­tert. “Many quite nefa­rious ideo­lo­gies pass for com­mon sen­se. For deca­des of Ame­ri­can histo­ry, it was ”com­mon sen­se” in some quar­ters for white peo­p­le to own slaves and for women not to vote. Com­mon sen­se, moreo­ver, is not always ”com­mon” — the idea that les­bi­ans and gay men should be pro­tec­ted against dis­cri­mi­na­ti­on and vio­lence strikes some peo­p­le as com­mon-sen­si­cal, but for others it threa­tens the foun­da­ti­ons of ordi­na­ry life.

If com­mon sen­se some­ti­mes pre­ser­ves the social sta­tus quo, and that sta­tus quo some­ti­mes tre­ats unjust social hier­ar­chies as natu­ral, it makes good sen­se on such occa­si­ons to find ways of chal­len­ging com­mon sen­se.” (Judith But­ler, A ‘bad wri­ter’ bites back, New York Times 1999)

Mei­nes Erach­tens muss man, um der Gen­der Theo­rie und art­ver­wand­ten Woke­ness-Strö­mun­gen auf Augen­hö­he zu begeg­nen, etwas tun, was bis­lang weit­ge­hend unter­blie­ben ist: sie ernst neh­men und die Fra­ge stel­len, ob sie mög­li­cher­wei­se im Recht sind. Das bedeu­tet: sowohl eine Aus­ein­an­der­set­zung mit den Den­kern und Theo­rien, auf die sich die Gen­der Theo­rie beruft. Als auch eine mit der Art und Wei­se, wie die­se Den­ker rezi­piert wer­den und der Gen­der Theo­rie als Legi­ti­ma­ti­on dienen.

Der Ort für die­se For­schung wäre prin­zi­pi­ell die Uni­ver­si­tät. Hier aller­dings rächt sich die Hege­mo­nie neo­lin­ken Den­kens, das die Bahn der Ent­wick­lung west­li­cher Uni­ver­si­tä­ten seit der 68er-Bewe­gung bestimmt. Eben­so wie bei­spiels­wei­se in der Sozio­lo­gie kaum kri­ti­sche Migra­ti­ons­for­schung betrie­ben wird, wes­halb trotz einer seit Jahr­zehn­ten anwach­sen­den Kluft zwi­schen Ide­al und Rea­li­tät kaum ein seriö­ses, wis­sen­schaft­li­ches Fun­da­ment exis­tiert, das erklä­ren könnte/dürfte, wes­halb Migra­ti­on Pro­ble­me erzeugt, so wenig ist bis­lang eine geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Kri­tik an der Gen­der Theo­rie zu erkennen.

So hat der poli­ti­sier­te Post­struk­tu­ra­lis­mus, wie er sich in Gen­der Theo­rie, Kri­ti­scher Ras­sen­theo­rie und ande­rem ent­fal­tet, sich selbst als Eli­ten- und Herr­schafts­wis­sen her­vor­ge­bracht, des­sen theo­re­ti­sche Beherr­schung ein Macht­in­stru­ment dar­stellt. Wo, um auf Nietz­sche zurück­zu­kom­men, die Aris­to­kra­tie sich durch Waf­fen­be­herr­schung und kör­per­li­che Gesund­heit aus­zeich­ne­te, so ste­hen wir aktu­ell vor einem ver­win­kel­ten Theo­rie-Instru­men­ta­ri­um, des­sen Beherr­schung zuver­läs­sig imstan­de ist, ein “Pathos der Distanz” zwi­schen einer fort­schritt­lich-intel­lek­tu­el­len Eli­te und ihrem Ein­satz für eine bes­se­re Welt und der tum­ben, rück­stän­di­gen Mas­se, strot­zend vor Dumm­heit und Schlech­tig­keit, aufzubauen.

Dum­me Revo­lu­tio­nä­re stür­men die Thron­sä­le, klu­ge Revo­lu­tio­nä­re die Waf­fen­kam­mern. In die­sem Sinn kann der vor­lie­gen­de Text viel­leicht als Lage­plan die­nen, er will weni­ger eine Kri­tik for­mu­lie­ren, son­dern zunächst über­haupt ein­mal den Gegen­stand ansich­tig machen, an dem eine satis­fak­ti­ons­fä­hi­ge Kri­tik geübt wer­den könnte.

Fra­ge­zei­chen gibt es genug. But­lers Umgang mit Der­ri­das Struk­tur des “Binä­ren” ist außer­or­dent­lich ober­fläch­lich — wäh­rend auch Der­ri­da selbst, auf den sie sich damit bezieht, ins­be­son­de­re von Ver­tre­tern der angel­säch­si­schen, ana­ly­ti­schen Phi­lo­so­phie viel­fach mit har­scher Kri­tik bedacht wird. Auch Fou­cault sieht sich mit einer grund­sätz­li­chen Kri­tik kon­fron­tiert: denn wenn die geis­ti­ge Struk­tur einer Epo­che den mög­li­chen Denk­raum und die Sub­jek­te erzeugt, wie ist es mög­lich, daß die geis­ti­ge Struk­tur einer Epo­che von einer ande­ren abge­löst wird? Die klas­sisch moder­ne Auf­fas­sung eines ver­nünf­ti­gen, auto­no­men Sub­jekts mag naiv und ein­sei­tig sein, doch eine aus­schließ­li­che Post-Sub­jekt-Phi­lo­so­phie ist außer­stan­de, die Dyna­mik, Inno­va­ti­ons­fä­hig­keit und Plu­ra­li­tät geschicht­lich-kul­tu­rel­ler Pro­zes­se zu erklären.

Und auch die Theo­rien Sig­mund Freuds, auf deren Bezug­nah­me wir immer wie­der an zen­tra­ler Stel­le sto­ßen, bedür­fen einer Aus­ei­ner­set­zung. Sie sind ers­te, genia­le Pio­nier­leis­tun­gen, jedoch auf­grund des­sen auch hoch­spe­ku­la­tiv. Es ist durch­aus auf­fäl­lig, daß But­ler sich allei­ne auf Freud bezieht, mit die­sem Freud-Bezug und sei­ner eben­falls hoch­spe­ku­la­ti­ven Fort­füh­rung durch Lacan die Legi­ti­ma­ti­on ihrer Theo­rie­bil­dung bezweckt, wäh­rend sie die psy­cho­lo­gi­sche For­schung der Gegen­wart voll­kom­men ignoriert.

Igno­riert wer­den eben­falls die Natur­wis­sen­schaf­ten, wäh­rend das schwar­ze Loch in der Mit­te des geschäf­ti­gen but­ler­schen Krei­sens schlu­ßend­lich natür­lich die Fort­pflan­zung bleibt: Denn sogar wenn wir ver­suchs­wei­se ein­mal ihre Theo­rie anti­zi­pie­ren und die kul­tu­rel­le Her­stel­lung einer “Zwangs­he­te­ro­se­xua­li­tät” beja­hen, so wäre die­se noch immer weni­ger die blo­ße Macht­ma­trix eines dämo­ni­schen Patri­ar­chats, son­dern Bedin­gung der Mög­lich­keit bio­lo­gi­schen Lebens, wie es sich auf die­sem Pla­ne­ten im Lau­fe der Jahr­mil­lio­nen her­an­ge­bil­det hat. So lan­ge der Mensch sterb­lich ist, wird er Hete­ro­se­xua­li­tät her­vor­brin­gen müssen.

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Posted on 9. Januar 202425. Januar 2024

2 thoughts on “Der philosophische Hintergrund der Gender Theorie”

  1. LordOfDarkness sagt:
    12. Januar 2024 um 14:19 Uhr

    Zu den Fra­ge­zei­chen zählt auch fol­gen­de Über­le­gung: Als der Affe vom Baum stieg und zum Men­schen wur­de soll er also mit dem Akt der Mensch­wer­dung die bio­lo­gi­sche binä­re Geschlecht­lich­keit mit allem drum und dran abge­legt haben. Dann kam die Kul­tur daher und ihr fiel nix bes­se­res ein, als genau die­se bio­lo­gi­schen Geschlechts­un­ter­schie­de wie­der zu kon­stru­ie­ren. Das hört sich nicht nach der nahe­lie­gens­ten Erklä­rung an.

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