Im Zuge vieler Diskussionen über den Islam ist mir bewusst geworden, daß auch Gebildeten häufig ein grundlegendes Verständnis über das eigentliche Wesen von Religion fehlt. Das gilt sowohl für den sich politisch eher links verortenden Islamfreund, der den Islam lediglich als eine Art Neuzeit-Christentum mit leicht abgewandelten Begriffen („Mohammed = Jesus“, „Koran = Bibel“, „Die Botschaft ist überall dieselbe“) betrachtet und Problematisches prinzipiell auf einer Metaebene wie Soziologie oder Kapitalismuskritik erklärt, als auch für den politisch sich eher rechts verortenden Islamkritiker, der aus dem Islam gerne eine “Ideologie” mit „faschistoiden“ Einschlägen machen will, und das Phänomen des islamischen Terrorismus‘ zum zentralen Wesensmerkmal erklärt. Verwandt bleiben die beiden sich spinnefeinden Haltungen in ihrer Oberflächlichkeit, womit sie ein sich befremdlich gebärdendes Phänomen aus der Perspektive des zeitgenössischen Europäers zu deuten versuchen, und damit kläglich scheitern. Im Folgenden soll also der Versuch gewagt werden, den Islam, wie er dem Westen als Dauer-Befremdung gegenübertritt, aus sich selbst heraus zu charakterisieren und damit das bis heute noch weitgehend fehlende Fundament eines sinnvollen Diskurses zu skizzieren.
I:RELIGION
Wieso gibt es überhaupt Religion? Eine Erklärung liefert vielleicht das biblische Gleichnis des „Sündenfalls“. Zu Beginn der Schöpfung setzt Gott seinen frischgeschaffenen Menschen ins Paradies, wo er anfangs brav und gutgelaunt nach den Regeln Gottes im Einklang mit der restlichen Welt lebt. Doch — dann verzehrt er die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Durch die Erkenntnisfähigkeit wird er frei als Individuum, aber gleichzeitig zerbricht die instinktive Verbindung zwischen Geschöpf und Welt, er wird aus dem Paradies, der ursprünglichen Harmonie von Mensch und Schöpfung, verstoßen und findet sich einsam und verwirrt in der Kälte wieder, inmitten einer rätselhaften Umwelt, die ihm feindlich und fremd scheint.
Religion ist Re-ligio, Rückverbindung. Der Mensch, durch seine Erkenntnisfähigkeit der ihn umgebenden Welt entfremdet, versucht, die verloren gegangene Verbindung zu rekonstruieren, um aus seiner orientierungslosen Vereinzelung zurückzufinden zu den Regeln und Gesetzmäßigkeiten, wodurch die Welt sich konstituiert. Sei es nun der Schamane, der nach einem speziellen Muster mit sorgsam ausgewählten Talismanen um den Hals tanzt, um Regen herbeizurufen, sei es der keltische Druide, der mittels Fliegenpilz und Tollkirsche die Grenzen des Individuums zu transzendieren versucht, um das Göttliche zu schauen, sei es Moses, der von Gott selbst auf einem Berg Gebote empfängt, nach denen die Gemeinschaft fortan leben soll, oder der deutsche König, der nach Rom zieht, um sich dort vom Hohepriester die Herrschaft legitimieren zu lassen, wodurch weltliches Geschehen mit göttlichem Gesetz in Harmonie gebracht wird: in seiner ursprünglichen Form ist Religion ein die gesamte menschliche Existenz fundierendes, umfassendes Konzept, ein Sinn- und Deutungssystem, das den Menschen, die Welt, ihr Verhältnis zueinander wie auch Erschaffung und Zweck derselben beschreiben will.
In der Religion spürt der Mensch der Struktur der Dinge nach, dem Göttlichen, Heiligen, Numinosen, Erhabenen, das übermächtig und rätselhaft scheinbar eine höhere Macht bildet. „Wieso gibt es das Sein, und nicht vielmehr Nichts?“, die Frage, die auch Heidegger an den Anfang metaphysischen Denkens stellt, muss in jeder entstehenden Kultur von der Religion beantwortet werden, damit der Mensch an seiner Freiheit nicht verzweifelt, seinem mäandernden Sein eine Richtung gegeben werden kann.
Die Sprache der Religion ist das Bild, das Symbol, der Mythos. Götter, Geschichten, Gegenstände: der Sinn der Schöpfung wie auch die Möglichkeit, mit dem Göttlichen in Kontakt zu treten, enthüllt sich dem Menschen in verschlüsselten Allegorien, die nur entweder dem durch die Priesterkaste Initiierten zugänglich sind, oder aber demjenigen, dem nach Jahren des Studiums, des Gebets und der Meditation ihr geheimer, eigentlicher Sinn aufgeht. Denn die Sprache Gottes ist nicht die Sprache des Menschen, deshalb muss der Adept lernen, die vieldimensionale Überzeitlichkeit des Symbols zu deuten, sie in die beschränkte irdische Welt des Menschen zu spiegeln.
Auch das Christentum beginnt auf diese Weise. Bereits im Frühchristentum der Spätantike ziehen christliche Einsiedler in die Wüste, fasten, meditieren, foltern und quälen sich selbst auf erfindungsreichste Weise, um durch die Überwindung ihrer sie störenden irdischen Gebundenheit an die Tore des rein geistigen Reichs Gottes zu klopfen. Im Mittelalter dann gründen sich einflußreiche Mönchsorden, die als asketische Gemeinschaften versuchen, ein gottgefälliges Leben zu führen, inneren Frieden, Einklang mit sich, Gott und der Welt zu finden. Der Mönch disputiert nicht, das wäre ihm Eitelkeit, der Mönch kniet nieder und betet um die Gnade der Erleuchtung.
II: DAS ABENDLAND
„Wir suchen Gott in dem unveränderlichen, unbeugsamen Naturgesetze, in der ehrfurchtsvollen Stimmung eines nach diesem Gesetze sich richtenden Gemütes, wir suchen ihn im Glanz der Sonne, in der Schönheit der Dinge, die aus dem Schoß dieser unserer Muttererde hervorgehen.“ (Giordano Bruno)
„Und es ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann.“ (Immanuel Kant)
Doch im Christentum, beeinflusst von der Philosophie der Antike, konkurrieren von Beginn an zwei Ansätze zur Erkenntnisgenerierung miteinander: Glaube und Denken. Während der Glaube gewissermaßen versucht, die Anmaßung des Sündenfalls durch Askese, Gebet und hingebungsvolles Studium der heiligen Texte rückgängig zu machen, um wieder in die gottgewollte Ordnung aufgenommen zu werden, fragen die antik geprägten Denker, ob nicht vielleicht auch durch Betätigung des Verstandes eine Erkenntnis der Welt möglich sein könnte.
Denn – spiegelt sich nicht vielleicht sogar in den Gesetzen logischen Denkens das Göttliche wieder? Können wir Gott nicht als „Logos“ verstehen, als die Schöpfung durchströmende Vernunft, die als göttliches Potential auch in uns Menschen steckt? Ist es also nicht etwa die Unterwerfung unter geoffenbarte Texte im Sinne des Mönchstums, wodurch man zu Gott findet, sondern die Unterwerfung unter die überindividuellen Regeln der Logik? Ist nicht vielleicht sogar die final entkörperlichte Abstraktion der Mathematik, der physikalischen Formel, die Sprache Gottes? Der tiefgläubige Isaac Newton beispielsweise nimmt an, in den Formeln seiner Gravitationstheorie die Gedanken Gottes entdeckt zu haben.
Im Zuge dessen nimmt die europäische Geschichte ihren bekannten Lauf, der jedoch in seiner Radikalität und geschichtlichen Einzigartigkeit nur selten von uns Europäern reflektiert, sondern als quasi-automatisch ablaufender „Fortschritt“ meist einfach vorausgesetzt wird. Das rationale Denken gewinnt zunehmend an Gewicht, es beweist seine praktische Tauglichkeit und ist schließlich imstande, in Form der „Wissenschaft“ ein eigenes, kohärentes Modell der Weltbeschreibung zu erstellen, das in einem weltgeschichtlich bislang einmaligen kulturellen Vorgang das ursprüngliche Sinnsystem, die Religion, ersetzt.
Durch den Triumph der Ratio über den Glauben entdeckt der Europäer sich selbst, das Individuum, als den eigentlichen Ort vernünftigen, sinnvollen Lebens, das mittels seines Verstandes und seiner Beherztheit, ohne der Gnade eines Übervaters ausgeliefert zu sein, nun selbst zum Schöpfer wird, der Welt, des Lebens, des eigenen Glücks. „Wer half mir wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich, von Sklaverei? Hast du‘s nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz? Und glühtest, jung und gut, betrogen, Rettungsdank dem Schlafenden dadroben? Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert je des Beladenen?“ verspottet beispielsweise, stellvertretend für diese Epoche, der junge Goethe im „Prometheus“ seinen Gott. (Und wird doch später in seinem „Faust“ dem Zwiespalt des westlichen Denkens wacher als die meisten anderen nachspüren.)
In der heraufziehenden Moderne versucht der Mensch nicht mehr, das Göttliche zu ertasten, vielmehr wird das ehemals Göttliche zu einer Eigenschaft des Menschen erklärt. Gilt noch im Mittelalter das Primat der Religion vor der Vernunft, betrachtet also die Vernunft sich als Diener der Gotteserkenntnis, dreht sich mit beginnender Moderne dieses Verhältnis. Die Deutungshoheit wechselt. Jesus selbst schrumpft im Sinne entstehender Geschichtswissenschaft zur bloß historischen Gestalt, einem jüdischen Wanderprediger zur Zeit des Römischen Reiches. Werden in Frühchristentum und Mittelalter die von Jesus gewirkten Wunder noch als Beweis für seine göttliche Abkunft betrachtet, verwirft der moderne Europäer Wundererzählungen als albern, da sie ja der Naturwissenschaft widersprechen. Auch die „unbefleckte Empfängnis“, die ursprünglich mit den Kern der christlichen Theologie, die Menschwerdung Gottes ausmachte, wird aufgrund ihrer biologischen Verwicklungen mehr zum Gegenstand von Witzen denn ehrfürchtiger Verehrung.
Der Himmel ist nun leer, was den Europäer ungemein zu motivieren scheint. Und während Wissenschaft und rationales Denken ihre Tauglichkeit dadurch beweisen, daß sie dem Europäer ermöglichen, die gesamte bekannte Welt zu erobern, bisher tödliche Krankheiten heilen und gleichzeitig durch die Industrialisierung einen nie gekannten Überfluß an Waren und Wohlstand erzeugen, erkunden europäische Philosophie und Kunst die Möglichkeit, eigene Sinn- und Welterklärungssysteme ganz aus menschlichem Vermögen heraus zu erschaffen. Um dann, in einem weiteren Abstraktionsschritt, die entstehende Massengesellschaft zum Gegenstand politischer und wirtschaftlicher Ideologien zu machen. Die Gesellschaft wird als neue Natur, als neue Wirklichkeit entdeckt, und Europäer ersinnen Methoden, wie diese Sphäre analysiert und modifiziert werden müsse, um die Menschheit in das durch eigene Verstandestätigkeit erkannte „Paradies auf Erden“ zu führen.
Religiöser „Glauben“ wird in der europäischen Moderne schließlich komplett uminterpretiert. Er gilt im Sinne materialistischer Wissenschaft und Psychologie nur noch als irrationales, latent pathologisches Phänomen, das man eher mitleidig als selbstverschuldete Unmündigkeit betrachtet. Übrig bleibt lediglich eine unverbindliche, subjektive Morallehre, der man im besten Fall noch gönnerhaft „gute Absichten“ attestiert, die aber jederzeit – siehe beispielsweise Abtreibung, Ehe oder Homosexualität – von Gesellschaft und Intellektuellen infrage gestellt und auf ihren „vernünftigen“ Sinn hin kritisiert werden kann, ohne daß noch ein Rest an ursprünglicher Scheu oder Heiligkeit übrig geblieben wäre.
Und wo – noch einmal später — der originale Sinn von Religion schon gar nicht mehr verstanden wird, kann sie, im Marxismus, nur noch als abgefeimtes Machtinstrument herrschender Klassen interpretiert werden, als Inszenierung, womit die unterdrückten Massen eingeschüchtert und eingelullt werden, um die ökonomische und soziale Ungerechtigkeit hinzunehmen. Es legt sich eine neue Wirklichkeitsfolie über die Religion und interpretiert diese mittels neuer Denkschemata vollständig um, bis sie schließlich nur noch ein im Rahmen moderner Theoriebildung abgehandeltes, obskures Museumstück darstellt.
Und nun also, wir befinden uns in der Gegenwart, wandert seit einigen Jahrzehnten der Islam nach Europa ein.
Respekt! Und vielen Dank.