Menu
Psychedelic Odin
  • Tagebuch
  • Idee
  • Kontakt
Psychedelic Odin
Styler Ornament

Der Islam aus kulturalistischer Sicht

Styler Ornament

V:ISLAMISMUS ALS REFORMBEWEGUNG

„Er, der das Uni­ver­sum und die Mensch­heit erschaf­fen hat, und Er, der die Mensch­heit den Geset­zen unter­tan gemacht hat, die das Uni­ver­sum regie­ren, hat eben­falls die Scha­ria fest­ge­setzt für die frei­en Hand­lun­gen. Wenn der Mensch der Scha­ria folgt, resul­tiert dar­aus eine Har­mo­nie zwi­schen sei­nem Leben und sei­ner Natur. Jedes Wort von Allah ist Teil des uni­ver­sel­len Geset­zes und ist genau­so prä­zi­se und wahr wie jedes Gesetz, das wir „Natur­ge­setz“ nen­nen. Die Scha­ria, die dem Men­schen gege­ben ist, um sein Leben zu orga­ni­sie­ren, ist eben­falls ein uni­ver­sa­les Gesetz, denn es ist ver­bun­den mit dem all­ge­mei­nen Gesetz des Uni­ver­sums und des­halb mit ihm in Har­mo­nie.“ (Sayy­id Qutb – Zei­chen auf dem Weg, 1964)

Bereits 1928, noch wäh­rend der eng­li­schen Kolo­ni­al­herr­schaft, grün­det sich in Ägyp­ten die Mus­lim­bru­der­schaft. Sie sind das, was man heu­te eine „Gras­wur­zel­be­we­gung“ nen­nen wür­de: ein Grup­pe Gleich­ge­sinn­ter aus dem unte­ren Bür­ger­tum, die sich gegen die Poli­tik der Herr­schen­den enga­giert. Nur daß im Gegen­satz zu den Kli­schees west­li­cher Pro­jek­tio­nen – gegen­wär­tig wer­den die Mus­lim­brü­der von vie­len lin­ken Intel­lek­tu­el­len als ver­kappt „sozia­le“ Bewe­gung inter­pre­tiert – die Zie­le der Bewe­gung Agi­ta­ti­on gegen west­li­che Ideen und Rück­be­sin­nung auf den Islam sind.

Die Mus­lim­brü­der stö­ren sich nicht an der unglei­chen Ver­tei­lung des Reich­tums, sie stö­ren sich noch nicht ein­mal wesent­lich an der Kolo­ni­al­herr­schaft an sich. Was sie antreibt, ist der „kul­tu­rel­le Impe­ria­lis­mus“, den sie beob­ach­ten. Der Wes­ten plün­de­re ihre Län­der nicht nur mate­ri­ell aus, sagen sie, er pfle­ge auch bewusst eine Stra­te­gie der kul­tu­rel­len Ent­wur­ze­lung. Eine Beob­ach­tung, deren Wahr­heits­ge­halt tat­säch­lich kaum abzu­strei­ten ist, wenn­gleich der Wes­ten sein Pro­jekt kul­tu­rel­ler Trans­for­ma­ti­on bekannt­lich als „Fort­schritt“ oder „Frei­heit“ beschreibt. Doch kann für das reli­giö­se Bewusst­sein des tra­di­tio­nel­len Mos­lems ein Fort­schritt, der von Gott ent­fernt, nur als schäd­li­cher Irr­weg wahr­ge­nom­men wer­den. So eichen die Leit­sät­ze der Mus­lim­brü­der das eige­ne Den­ken wie­der auf eine aus­schließ­lich isla­misch inspi­rier­te Gesell­schafts­ord­nung: „Gott ist unser Ziel. Der Pro­phet ist unser Füh­rer. Der Koran ist unse­re Ver­fas­sung. Der Dji­had ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobels­ter Wunsch.“

Oder, wie Grün­der Hassan Al-Ban­na es aus­drückt: „Wir glau­ben näm­lich, dass der Islam ein umfas­sen­des Kon­zept ist, das alle Berei­che des Lebens ord­net, Auf­schluss zu jeder ihrer Ange­le­gen­hei­ten gibt und dafür eine fes­te und prä­zi­se Ord­nung vor­gibt. Er steht nicht hilf­los vor den Pro­ble­men des Lebens oder den Sys­te­men, die not­wen­dig sind, um das Wohl­erge­hen der Men­schen zu beför­dern. Eini­ge Men­schen haben fälsch­li­cher­wei­se ange­nom­men, dass der Islam auf bestimm­te got­tes­dienst­li­che Hand­lun­gen oder geist­li­che Hal­tun­gen beschränkt ist. So haben sie ihr Ver­ständ­nis auf die­se engen Krei­se beschränkt. Wir aber ver­ste­hen den Islam anders in einem kla­ren und brei­ten Sinn als etwas, das die Ange­le­gen­heit des Dies­seits und Jen­seits ord­net. Wir stel­len die­se Behaup­tung nicht von uns aus auf. Viel­mehr haben wir das aus dem Buch Got­tes und der Lebens­wei­se der ers­ten Mus­li­me gelernt.“

Was Al-Ban­na hier in eini­gen Sät­zen skiz­ziert, ist der Kern einer tra­di­tio­nel­len Reli­gio­si­tät, wor­in die Exege­se alle „Ange­le­gen­hei­ten des Dies­seits und Jen­seits ord­net“. Er distan­ziert sich von einer säku­la­ri­sier­ten Islam-Inter­pre­ta­ti­on, die des­sen Ein­fluß auf die geist­li­che Sphä­re begren­zen will. (1924 hat­te Atta­türk die Tür­kei zum „lai­zis­ti­schen“ Staat refor­miert.) Man beach­te auch, wie er durch den Satz „Wir stel­len die Behaup­tung nicht von uns aus auf.“ gera­de­zu stolz pos­tu­liert, daß er die­se Erkennt­nis­se NICHT durch eigen­stän­di­ge Ver­stan­des­tä­tig­keit gewon­nen hat, wie west­li­che Den­ker und deren Sys­te­me, son­dern GELERNT durch Ver­tie­fung in hei­li­ge Tex­te. Damit setzt Al-Ban­na ange­sichts der erneu­ten Aus­ein­an­der­set­zung mit ratio­na­lis­ti­schen Ansät­zen die Denk­tra­di­ti­on des Islam fort: nur Glau­be und Hin­ga­be an den Koran, die Ori­en­tie­rung am Leben des Pro­phe­ten, kön­nen zur Wahr­heit füh­ren, indi­vi­du­el­les Theo­re­ti­sie­ren dage­gen nicht.

Auch ent­hal­ten ist ein zwei­tes Kern­prin­zip des Isla­mis­mus: die Isla­mis­ten über­ge­hen die gän­gi­ge Pra­xis der Islam­ex­ege­se durch die eta­blier­ten Recht­schu­len und deren Gelehr­te. Statt­des­sen set­zen sie auf unmit­tel­ba­res Koran­stu­di­um und die Beschrän­kung auf die Tex­te der ers­ten 3 Gene­ra­tio­nen nach dem Tod des Propheten.

Damit aber voll­zie­hen sie kei­nen irgend­wie auch nur peri­pher „modern“ gear­te­ten Bruch mit dem tra­di­tio­nel­len Islam, sie set­zen viel­mehr sei­ne Metho­de kon­se­quent fort. Denn da der Islam kein ratio­na­lis­ti­sches, an einem mensch­li­chen Ver­nunft-Begriff ori­en­tier­tes Den­ken pflegt, hat sich als tra­di­tio­nel­le Kern­me­tho­dik sun­ni­ti­scher Rechts­schu­len eine genea­lo­gi­sche Metho­de her­aus­ge­bil­det, die sich pri­mär an der „Hand­lungs­wei­se des Pro­phe­ten“ ori­en­tiert. Bei strit­ti­gen Fra­gen wird also nicht über Sinn oder Unsinn debat­tiert, son­dern über die his­to­ri­sche oder ver­wandt­schaft­li­che Nähe der Per­son, die eine in der Sache rele­van­te Aus­sa­ge getrof­fen hat, zu Moham­med. Auch in den Hadi­then als wich­tigs­ten Quel­le sowohl der isla­mi­schen Theo­lo­gie als auch des isla­mi­schen Rechts spie­len die Her­lei­tun­gen der Aus­sa­gen eine ent­schei­den­de Rolle.

Die Metho­de behält der Isla­mis­mus also bei, nur die Ergeb­nis­se ver­wirft er. Denn mit der sich durch die Kolo­ni­sie­rung offen­ba­ren­de, fak­ti­sche Unter­le­gen­heit des Islams stellt sich dem reli­giö­sen Bewusst­sein eine exis­ten­zi­el­le, theo­lo­gi­sche Her­aus­for­de­rung: falls Allah exis­tiert, falls Moham­med sein Pro­phet ist, der Koran das idea­le Leh­re und der Islam die eine wah­re Reli­gi­on, die den Gläu­bi­gen mit dem Uni­ver­sum und allen ihm inne­wo­hen­den kon­struk­ti­ven Kräf­ten syn­chro­ni­siert – wie konn­te es dann mög­lich sein, daß die ungläu­bi­gen Euro­pä­er sich als über­le­gen erwie­sen haben? Im Rah­men sun­ni­ti­scher Pra­xis kann es dar­auf nur eine sinn­vol­le Ant­wort geben, die das isla­mi­sche Heils­ver­spre­chen, die Wahr­heit der Offen­ba­rung, auf­recht­erhält: weil der Islam sich von sei­nen Wur­zeln ent­fernt hat. Indem die Rechts­schu­len durch fort­ge­setz­te, eige­ne Inter­pre­ta­ti­on sich von der wah­ren Leh­re ent­fernt haben, wur­de der Islam ver­wäs­sert und schwach, und hat dadurch Allahs Gna­de ver­spielt, die er nur dem gewährt, der im Ein­klang mit sei­nen Geset­zen lebt. Wäh­rend also Refor­mer wie Atta­türk auf die Situa­ti­on die ernüch­tern­de Ant­wort „Der Wes­ten ist über­le­gen, wir soll­ten sei­ne Kon­zep­te über­neh­men“ geben, sagen die Isla­mis­ten: „Nein, wir haben nur den Koran falsch gele­sen.“, und ver­su­chen sich sozu­sa­gen an einem neu­en Durch­lauf, um sich die Wor­te, die Moham­med als Medi­um direkt von Allah in den Mund gelegt bekommt, noch ein­mal neu zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, im gött­li­chen Text den Schlüs­sel zur Wirk­lich­keit zu finden.

Auch für die Über­le­gen­heit des Wes­tens kön­nen die Mus­lim­brü­der eine zumin­dest für den Mos­lem über­zeu­gen­de Erklä­rung fin­den: natür­lich ste­cke Wahr­heit und Wis­sen allei­ne im Islam. Doch der Wes­ten hät­te sich in Mit­tel­al­ter und Renais­sance als para­si­tä­rer Nutz­nie­ßer die­ses Wis­sen ange­eig­net. Da er aller­dings nur das blo­ße Wis­sen, nicht aber die das mensch­li­che Han­deln ord­nen­de Reli­gi­on selbst über­nom­men hät­te, wäre die­ses Wis­sen in sei­nen gott­lo­sen Hän­den zu einem zer­stö­re­ri­schen Dämon zweck­ent­frem­det wor­den, der nun Leid, Elend und Krieg über die Welt bräch­te, und letzt­lich auch den Wes­ten selbst von innen her­aus zer­stö­ren wer­de. Die Über­le­gen­heit des Wes­tens ist damit nur eine ober­fläch­li­che und tem­po­rä­re, sei­ne mate­ri­el­le und mili­tä­ri­sche Über­le­gen­heit ver­deckt ledig­lich sei­ne gott­fer­ne Dekadenz.

Auf die­se Wei­se, die der Wes­ten ger­ne als „poli­ti­scher Islam“ oder „Fun­da­men­ta­lis­mus“ bezeich­net, weil er in einer bezeich­nen­den Fehl­pro­jek­ti­on die eige­ne ver­flacht-säku­la­ri­sier­te Reli­gio­si­tät als „eigent­li­che“ Reli­gio­si­tät ansieht, ist es den Isla­mis­ten im Gegen­satz zur eta­blier­ten isla­mi­schen Gelehr­ten­schicht mög­lich, der ver­un­si­cher­ten isla­mi­schen Welt eine nach­voll­zieh­ba­re Ant­wort auf eine die Grund­la­ge ihrer Exis­tenz erschüt­tern­de Fra­ge zu geben und das Heils­ver­spre­chen ihrer eige­nen Reli­gi­on zu erneu­ern. Damit sto­ßen sie inner­halb eines Kul­tur­rau­mes, der kei­ner­lei „Moder­ni­tät“ im west­li­chen Sin­ne kennt, auf eine enor­me Resonanz.

Pages: 1 2 3 4 5
Posted on 17. März 202017. März 2020

1 thought on “Der Islam aus kulturalistischer Sicht”

  1. Rainer sagt:
    9. Februar 2021 um 13:52 Uhr

    Respekt! Und vie­len Dank.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert