VI:RECONQUISTA ISLAMICA
„Der Islam ist politisch, oder er ist nichts“. (Ruhollah Chomeini)
As for the first question: Why are we fighting and opposing you? The answer is very simple: Because you attacked us and continue to attack us. (Osama bin Laden, 2002)
Und während nun westliche Intellektuelle, in der Logik der eigenen Geschichte gefangen, geradezu ein eigenes Subgenre schaffen, das sich einzig der Beschäftigung widmet, aus der islamischen Vergangenheit und Gegenwart westlich denkende, oder in der Wahrnehmung eines westlichen Intellektuellen westlich wirkende Charaktere und Strömungen herauszufiltern und aufwendig zu portraitieren, um damit von anderen westlichen Intellektuellen stets begeistert aufgenommene „neue Perspektiven auf den Islam“ zu generieren, die interessanterweise immer auf das Ergebnis hinauslaufen, daß die islamische Kultur sich genau in die Richtung bewegt, die westliche Intellektuelle für die einzig richtige halten, nämlich eine Verwestlichung – währenddessen also tritt nahezu unbeachtet der Islamismus einen epocheprägenden Siegeszug durch die islamische Welt an, drängt dabei die noch in der ersten Jahrhunderthälfte maßgeblichen westlichen Einflüsse zurück und wird zur dominanten Strömung der Gegenwart.
Es ist notwendig, sich zu vergegenwärtigen: Die Geschichte dessen, was der Westen „Moderne“ nennt, war für den Moslem im Wesentlichen eine Geschichte des Niedergangs. Die koloniale Phase setzt 1798 mit der Eroberung Ägyptens durch Napoleon ein, während das Osmanische Reich davor jahrhundertelang den ganzen Nahen Osten umspannte, über Ägypten bis nach Algerien reichte, über Griechenland und den Balkan bis nach Mitteleuropa. Das Osmanische Reich indes war kein Staat, auch kein bloßes Imperium ähnlich dem römischen, sondern repräsentierte das theologische Ideal des utopischerweise die ganze Menschheit umspannenden „Haus des Islam“, das sich unter der wohlwollenden Schutzherrschaft Gottes selbst wähnte. 1920 endet mit der Zerschlagung des Osmanischen Reiches durch die alliierten Kriegsgewinner die klassische Epoche des Islam endgültig, und damit auch das historisch gewachsene Selbstbewusstsein, das nun zu einer Neuorientierung gezwungen ist.
Das islamische 20. Jahrhundert bietet in diesem Sinne ein zersplittertes, desorientiertes und weitgehend trostloses Bild. In der Regel hinterlassen die Kolonialmächte autoritäre Marionetten-Monarchien. Teilweise erhalten diese sich, wie in Marokko, bis in die Gegenwart – vielfach aber werden sie in den darauffolgenden Jahrzehnten von Gruppen, in denen sich Militärs mit von westlichem Denkern geprägten Revoluzzern verbünden, gestürzt. Diese Gruppen (beispielsweise die Baath-Partei Saddam Husseins, die Nationale Befreiungsfront in Algerien oder Gaddafi in Libyen) adaptieren meist den Begriff „Sozialismus“, und verknüpfen sozialistische Momente wie Anti-Imperialismus, Laizismus und Industrialisierungsprogramme mit arabischem (Pan-)Nationalismus. Da auch die autoritäre Ein-Parteien-Herrschaft des Sozialismus weitgehend übernommen wird, während demokratische Elemente als partielle Privilegien gewährt und bei unerwünschten Ergebnissen wieder entzogen werden, stellt sich das bis heute bekannte Bild ein: hochkorrupte Diktaturen, westlich orientiert, meist vom Westen durch Handelsverträge und Waffen unterstützt, die ihre Bevölkerungen gewaltsam beherrschen.
Doch während der Westen nur zu gerne aus dieser von Armut, Autoritarismus und sozialer Ungerechtigkeit geprägten Situation eine linksliberale, junge Revolte hervorgehen sehen will, die ganz den Folgerichtigkeiten entspricht, die der westliche Intellektuelle der eigenen Geschichte entnommen hat, ist es in Wahrheit der politische Islam, der sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts überall in der islamischen Welt als Hoffnungsträger verbreitet.
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ist die populärste islamische Utopie noch der Panarabismus. Dessen Ziel war es, die durch die Kolonisatoren zersplitterten arabischen Staaten in einer großen Nation zu vereinigen, und durch Adaption westlicher Ideen strukturell und geopolitisch aufzuholen, letzlich einen arabisch-islamischen Block als Gegengewicht zum europäischen Block zu schaffen. Durch die schallende Niederlage der arabischen Staaten im Sechs-Tage-Krieg 1967 verliert er allerdings seine Glaubwürdigkeit, und mit dem Scheitern des Panarabismus endet zumindest in der Breite auch der Antrieb, westlich orientierte Ansätze aufzugreifen, während der ziellos gewordene Panarabismus zur Diktatur beispielsweise eines Saddam Hussein degeneriert. (Auch die offenkundig schmerzhafte Demütigung, die die gesamte islamische Welt angesichts der erzwungenen Gründung Israels, als eines Staates von Ungläubigen auf islamischem Kerngebiet, zu empfinden scheint, ist von uns im Westen bislang kaum reflektiert worden, da er von einer eigenen traumatischen Erfahrung, dem Holocaust überlagert wird.)
Die Muslimbrüder werden parallel dazu zur Massenbewegung, sie zählen 1948 alleine in Ägypten bereits 500 000 Mitglieder, darüberhinaus hunderttausende von Sympathisanten. Sie organisieren sich nicht zentral, doch die Idee einer islamischen Erneuerung verbreitet sich überall in der islamischen Welt, bildet Ableger, lokale Varianten, wobei die Konstellation sich überall gleicht: es sind durchaus idealistische, authentische Graswurzelbewegungen, die sich gegen ihre westlich orientierten, als gottlos und ungerecht wahrgenommenen Regime engagieren. Wo es möglich ist, agitieren sie politisch, teilweise auch mittels Attentaten, terroristischen Anschlägen oder mit Waffengewalt im Rahmen von Bürgerkriegen oder Revolutionen. Wo ihnen die politische Betätigung verwehrt bleibt, engagieren sie sich gesellschaftlich, sie gründen Moscheen, Krankenhäuser, Schulen, sogar Wirtschaftsunternehmen und füllen mit sozial-karitativen Projekten, mit denen sie sich um Arme und Kranke kümmern, die Lücken, die von ihren korrupten Systemen erzeugt werden. Auf diese Weise erwerben sie sich durch glaubwürdiges, gesellschaftliches Engagement Rückhalt und Sympathie in der Bevölkerung, und werden nach dem Scheitern des Panarabismus zur wesentlichen Instanz für all diejenigen Muslime, die ihre tristen Gesellschaften zum Besseren verändern wollen.
In den darauf folgenden Jahrzehnten werden die Islamisten in vielfältigen Ausprägungen zur treibenden oppositionellen Kraft in der gesamten islamischen Welt. In Ägypten selbst versammeln sie seit Jahrzehnten einen großen Teil der Bevölkerung hinter sich, und können nur durch härteste Repression an der Übernahme der politischen Macht gehindert werden. Wo in Syrien dann eine von 1976 bis 1982 andauernde Revolte mit dem „Massaker von Hama“ blutig niedergeschlagen wird, ist der iranische Ableger des Islamismus erfolgreicher. 1979 stürzen sie dort die vom Westen gestützte Monarchie. „Der islamische Staat ist ein Staat des Gesetzes. In dieser Staatsform gehört die Souveränität einzig und allein Gott. Das Gesetz ist nichts anderes als der Befehl Gottes.“ sagt der Staatsgründer, der Theologe Ruhollah Chomenei, und verneint dabei ein wesentliches Prinzip westlichen Denkens: die Souveränität des Individuums, auch als Bürger einer Demokratie. Souverän ist einzig Gott selbst, weshalb der Koran über jeder Wahl, jeder Parlamentsentscheidung stehen muss. In diesem Sinne entwerfen die islamischen Revolutionäre eine so innovative wie antimoderne, theokratische Version von Demokratie, worin ein übergeordneter Wächterrat die Islam-Konformität aller getroffenen, politischen Entscheidungen überwacht.
Im selben Jahr wird Afghanistan von der Sowjetunion überfallen. Der darauffolgende Bürgerkrieg begründet den modernen Djihadismus: aus allen islamischen Ländern strömen Kontingente junger Männer nach Afghanistan, um den Islam gegen die Ungläubigen zu verteidigen. Unter ihnen der junge Osama Bin Laden. (Entgegen zeitgenössischer Mea-Culpa-Mythen wurden die Taliban nicht wesentlich von den USA geschaffen. Sie waren ursprünglich eine eher bedeutungslose Bürgerkriegspartei, die nach dem Abzug der Sowjets mit massiver Unterstützung aus Pakistan und Saudi-Arabien das Land in einen zweiten Bürgerkrieg zwang.)
1983 gewinnt die Partei der Muslimbrüder im Sudan die Wahlen und führt die Scharia ein. (Osama Bin-Laden wird, einer Einladung der sudanesischen Regierung folgend, dort von 1992 bis 1996 wohnen.)
1992 werden in Algerien erstmals freie Wahlen durchgeführt. Als sich ein klarer Wahlsieg der Muslimbrüder abzeichnet, annulliert das Militär die Wahl und verbietet die Partei der Islamisten, die „Islamische Heilsfront“. Es kommt zu einem Bürgerkrieg, der bis zu seinem Ende 1998 ungefähr 150 000 Tote fordert und mit der Niederlage der Muslimbrüder endet.
2001 zerstört Al Kaida mit mehreren Flugzeugen das symbolträchtige „World Trade Center“ in New York, und demonstriert damit, daß das Ende der Geschichte noch außerordentlich fern liegen dürfte.
2002 gewinnt die AKP in der Türkei die Parlamentswahlen. Doch die AKP wurde erst 2001 gegründet und nur das Ergebnis eines jahrzehntelangen zähen Ringens zwischen Islamisten und säkularem Staat. Sie ist Nachfolgepartei der „Tugend Partei“, die 2001 angesichts eines drohenden Verbotes aufgelöst und neugegründet wurde. Die „Tugend Partei“ wiederum war die Nachfolgerin der 1998 verbotenen „Wohlfahrtspartei“, diese wiederum die Nachfolgerin der 1980 verbotenen „Nationalen Heilspartei“, diese wiederum die Nachfolgerin der 1971 verbotenen „Nationalen Ordnungspartei“. Die „Nationale Ordnungspartei“ wiederum war der politische Arm der bis heute existierenden Milli Görus Bewegung, einem türkischen Ableger des politischen Islams, der den Wunsch nach Errichtung einer islamischen Ordnung mit türkischem Nationalismus kreuzt. Der Vorsitzende der AKP, Recep Erdogan, war bereits 1998 zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er, ein Gedichtes Ziya Gökalps zitierend, öffentlich geäußert hatte: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Moscheekuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Spätestens mit der Niederschlagung des Militärputsches 2016 scheint in der Tat die islamistische „legale Revolution“ in der Türkei weitgehend vollendet.
2010 schließlich der sogenannte „arabische Frühling“, vom Westen als „Facebook-Revolution“ von sich angeblich nach Freiheit und Kapitalismus sehnenden jungen Leuten inszeniert und begeistert begleitet. Doch die Begeisterung wandelt sich zu Entsetzen, als nach dem Sturz der jeweiligen Systeme nicht etwa linksliberale Reformer in Starbucks-Filialen über Marx diskutieren, sondern dort, wo tatsächlich Wahlen stattfinden, durchgehend die Islamisten gewinnen. Die Araber fordern zwar Selbstbestimmung, doch augenscheinlich nicht, um westliche Gesellschaften zu errichten, sondern islamische.
Und auch in Syrien und Libyen, wo die Proteste schließlich in Bürgerkriege münden, sind es die Islamisten, die als engagierteste und wirkungsvollste Partei hervortreten, die wesentlich in der Bevölkerung Rückhalt genießen, die besser organisiert sind und finanziell aus dem islamischen Ausland unterstützt werden. Durch das djihadistische Ethos des Islam strömen sogar tausende von Freiwilligen aus anderen Ländern, auch aus den mittlerweile bestehenden islamischen Enklaven in Europa, herbei. Was entsteht, sind zähe Stellvertreterkriege, in denen von den islamischen Großmächten Saudi-Arabien, Türkei und Iran unterstützte Bürgerkriegsparteien unter steten Massakern und Kriegsverbrechen versuchen, ihren Einfluß in der jeweiligen Region zu erhöhen.
Der Westen steht zunehmend fassungslos daneben, seine fast schon depressive Unfähigkeit, zum Beenden dieser blutigen Konflikte konstruktiv beizutragen, liegt sicherlich auch darin begründet, daß er die zugrundeliegenden Konflikte einfach nicht mehr mit seinem eigenen Weltbild synchronisieren kann.
Unzählige Fraktionen, Einflußfaktoren, Interessensgruppen – doch aus westlicher Sicht nimmt das Geschehen sich schlicht sinnlos aus. Ihn interessiert weder der säkularistische Nationalismus von Assad noch der Islamismus der Al Nusra Front, weder die schiitisch-alevitische Achse zwischen Damaskus und Teheran noch die kurdischen Autonomiebestrebungen oder die saudi-arabische Unterstützung der Sunniten, weder das Bündnis der saudischen Wahabiten mit dem ägyptischen Militär, um den konkurrierenden Islamismus der Muslimbrüder kleinzuhalten, noch die Frage, weshalb die Türkei und Qatar die libysche „Einheitsregierung“, Ägypten und die Arabischen Emirate dagegen die libysche „Gegenregierung“ unterstützen.
Dieses Gewirr von Motiven, Positionen und Interessen ist für den Westen bedeutungslos, denn es sind nicht die seinen, entscheidend für seine Betrachtung bleibt dagegen einzig, wie „westlich“ im weltanschaulichen Sinn die Parteien gestimmt sind, ob das Lieblingsschema der westlichen Intelligenz – das eines reaktionär-autoritären Regimes, das von den freiheitlichen Kräftes des Fortschritts angegriffen wird – sich in irgendeiner Weise in diese Konflikte hineinprojizieren lässt. Das tatsächliche Geschehen in seiner Relevanz, seiner existenziellen Dringlichkeit, die diesen enormen Blutzoll für die Muslime zu legitimieren scheint, bleibt ihm dagegen verborgen, fremd, verstörend. Einen genuin islamischen Standpunkt kann er sich nicht einmal der Möglichkeit nach ausmalen.
Respekt! Und vielen Dank.