VII: EPILOG – Das Eigene im Kontext des Fremden
Angesichts der islamischen Massenwanderung debattiert unsere Gesellschaft mittlerweile leidenschaftlich darüber, in welches Verhältnis der zeitgenössisches Europäer zum eigenen religiösen Pendant, zum Christentum nämlich, treten sollte. Oder, anders ausgedrückt: was eigentlich ist der Kern europäischer Kultur? Was eigentlich soll bewahrt werden? Ist, wie es im konservativen Lager tönt, eine Rückkehr zum werthaltigen Christentum notwendig, da die Moderne in ihrem unverbindlichen Relativismus und Materialismus als „dekadente“ Entgleisung bereits den Keim kulturellen Verfalls in sich trägt? Oder besteht unsere europäische Identität gerade in der Überwindung des „finsteren Mittelalters“, in einem modernen/wissenschaftlichen/rationalen Denken, wie das linke und liberale Lager meint, weshalb der Europäer sich sowohl der eigenen Reaktionäre als auch dem „politischen Islam“ als verwandten modernitätsfeindlichen Strömungen erwehren sollte?
Die Antwort wird nur eine dialektische sein können: im Zentrum der europäischen Geschichte steht sowohl das Christentum als auch dessen Überwindung, und das eine ist nur im Geiste des anderen denkbar: das Christentum ist nicht Antagonist der Moderne, sondern ihre notwendige Voraussetzung, umgekehrt die Moderne nicht verneinende Überwindung, sondern in vielerlei Hinsicht folgerichtige Konsequenz. Es ist kein Zufall, wenn heute Politiker der Grünen oder Linken trotz tiefverwurzelter, sozialistisch konnotierter Religionsfeindlichkeit auf die Bibel und „christliche Werte“ verweisen, um beispielsweise im Zuge der Flüchtlingskrise an konservative Politiker zu appellieren. Das Ideal der universell brüderlichen, aller materiellen Zwänge enthobenen Menschheit, wie der Sozialismus sie als utopisches Ideal anstrebt, liegt näher am Original-Wortlaut des Neuen Testaments als so mancher Christkonservative sich das eingestehen wollen wird. Und auch der Kapitalismus ist das Produkt eines tiefreligiösen angelsächsischen Puritanismus, der auf esoterisch-häretische Weise davon ausgeht, daß menschlicher und göttlicher Wille ineinsfallen müssen.
Der Konservative übersieht, daß der europäische Rationalismus bereits während der mittelalterlichen Scholastik aufblüht, und das, was sich als „europäische Geschichte“ vollzieht, eine kontinuierlich fortschreitende rationale Durchdringung der Welt darstellt, die mit der französischen Revolution keineswegs einen Bruch erzeugt, sondern lediglich einen Weg fortsetzt, der bereits von einem Abaelard im 12. Jahrhundert begonnen wurde.
Wieso versiegt im islamischen Kulturaum Philosophie und Wissenschaft auf so unspektakuläre Weise, die man beinahe nur als Mangel an Interesse auffassen kann, während sich Europäer jahrhundertelang einsperren, foltern und verbrennen lassen, um ihr Denken, ihr gewonnenes Wissen einer religiösen Dogmatik gegenüber zu behaupten? Es bleibt ein Rätsel, dem man sich allenfalls mit dem vagen Begriff des „Charakters“ annähern kann.
Deshalb, so kann vielleicht hier unser Fazit lauten, sollte gerade derjenige, der sich im Kontext der Globalisierung anbahnenden multikulturellen Auseinandersetzungen berufen fühlt, sich auf Europa zu besinnen, die lediglich im Rahmen innereuropäischer Auseinandersetzungen relevanten Schemata von „konservativ“ gegen „modern“ in seinem Denken hinter sich lassen.
Europa aus der Vogelperspektive ist das Ganze, als fortwährender, radikaler Prozess, stets nach dem „Ewigen“ strebend, doch gleichermaßen unfähig, ein Geschaffenes letztlich zu erhalten oder als Finales anzuerkennen.
Im Gegenteil scheint die Frequenz sich stetig zu steigern. Wurde an den Kathedralen noch jahrhundertelang gebaut, nimmt die Frequenz von Epochen- und Stilwechseln stetig zu, keine Grenze, kein Tabu bleibt unangetastet, je länger die westliche Kultur existiert, desto mehr scheint sie sich in ihrer Selbstbefragung bis zur Selbstzerfleischung zu radikalisieren, vom Völkermord, der Auflösung der Geschlechter, von Raketen, die ins Weltall geschickt werden bis zum zeitgenössischen Drang der Umweltschützer, sich selbst zugunsten des Schutzes des Planeten auszulöschen. Der Mensch, das Sein, die Gesellschaft, das Denken lediglich nur noch fluide Felder, temporär aufgespannt und flackernd in einem tremolierenden, sich unentwegt immer weiter steigenden Rhythmus, von der Moderne zur Postmoderne, von der Postmoderne zum Hyperraum des von allen Zuschreibungen und Eigenschaften befreiten, reinen Seelenwesens, worin finale Gottlosigkeit und ursprünglichste Religiosität einander auf verquere Weise wieder die Hand reichen.
Vielleicht liegt hier der Kern seines Antriebs, vielleicht auch gleichzeitig sein Verderben – das europäische Drama ist bekanntlich ein Charakterdrama -, und doch leben wir alle gerade jetzt, um darüber nachdenken zu können.
Respekt! Und vielen Dank.