B. Herrschaft und Wirklichkeit
Es gibt drei deutsche Denker, die für die französischen Nachkriegsintellektuellen, die die Postmoderne hervorbringen, von zentraler Bedeutung sind: Karl Marx, Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche.
“Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.” (Karl Marx, Kritik der politischen Ökonomie) Bereits mit Hegel (1770 — 1831) ereignet sich ein folgenschwerer Bruch in der abendländischen Philosophie. Das bisherige Verständnis von Philosophie war gewissermaßen statisch, jeder Philosoph arbeitete ein System aus, von dem er glaubte, die Welt auf endgültige Weise zu beschreiben. Hegel dagegen fasst die Entstehung von Erkenntnis als übergeordneten Menschheitsprozess auf. Der einzelne Philosoph beschreibt nicht die finale Wahrheit, sondern jedes Werk stellt nur einen Erkenntnisschritt dar, der auf der Basis der Kritik an den Vorgängern möglich wird, um dann wiederum in der Kritik seines Denkens die Nachfolger hervorzubringen. So klettert für Hegel das Wissen von Sprosse zu Sprosse auf der Erkenntnisleiter empor, und was der einen Generation noch als wahr gilt, wird von der nächsten als Irrtum erkannt.
Karl Marx (1818 — 1883) setzt bei Hegel an, doch ist im Gegensatz zu ihm Materialist. Während es für den Idealisten Hegel die Ideen sind, die gesellschaftliche Entwicklungen und damit die Geschichte hervorbringen, sind es für Marx ökonomisch motivierte Interessen, die spezifische gesellschaftliche Situationen schaffen — und erst daraus entsteht Bewußtsein und Theoriebildung. “Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.” (Manifest der Kommunistischen Partei) So nimmt Marx nicht lediglich eine Kritik an der Funktionsweise des Kapitalismus vor. Sie ist nur der Boden, worauf sich eine utopistische Geschichtsphilosophie entfaltet. An deren Ende soll eine Menschheit stehen, in der es keine Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen, keine Gewalt von Menschen gegen andere Menschen mehr gibt. Der Weg dahin wird vollzogen durch die Emanzipation immer größerer Teile einer Gesellschaft im Zuge ökonomischer Konflikte. Wo im Feudalismus nur der Adel frei handelndes Subjekt ist, während der Rest als Objekt eines Ausbeutungsverhältnisses sein Dasein fristet, so erkämpft sich in der Französischen Revolution bereits das Bürgertum den Status als Subjekt. Die Bourgeoisie, das Besitzbürgertum, bringt dabei den Kapitalismus hervor, wodurch allerdings ein neues Ausbeutungsverhältnis, das zwischen Bourgeoisie und Proletariat entsteht. Deshalb braucht es nun für Marx einen weiteren Schritt, den Sozialismus, der mittels einer erneuten Revolution und damit einhergehender Vergesellschaftung der Produktionsmittel auch den Proletarier zu einem freien, selbstbestimmten Menschen machen soll.
Das Bewußtsein des Einzelnen ist bestimmt durch seine Klassenlage und so stehen sich hier also zwei unterschiedliche Klassenbewußtseine gegenüber, von denen das eine als fortschrittlich, das andere als reaktionär aufgefasst wird. Das reaktionäre Bewußtsein der herrschenden Klasse will das Bestehende bewahren, weil sie als kleine Partikulargruppe davon profitiert, während das fortschrittliche Bewußtsein der Unterdrückten für eine allgemeine Steigerung von Freiheit und damit verwirklichter Menschlichkeit steht.
Dabei ist es allerdings so, daß die herrschende Klasse eine Ideologie entwickelt hat, womit sie ihr System legitimiert und das sie der Gesamtgesellschaft als falsches, lähmendes Bewußtsein aufoktroyiert. Auch der Feudalismus begründete seine Ordnung als gerechte, dem Menschen angemessene, mit Unterstützung der Kirche gar als eine “gottgegebene”: “König von Gottes Gnaden”. Doch mit wachsendem, eigenem Wohlstand wollte das Bürgertum diese Auffassung von Gerechtigkeit nicht mehr als gerecht anerkennen und revoltierte dagegen.
Auch der Kapitalismus, womit das Bürgertum den Feudalismus ersetzt, bringt seine eigene Ideologie hervor, die einerseits den Adel delegitimiert, andererseits aber auch das eigene Unterdrückungsverhältnis der Besitzenden gegenüber Besitzlosen zur gerechten Ordnung erklärt. Diese Ideologie wird dem Proletariat mittels eines “ideologischen Herrschaftsapparates” (wie der strukturalistische Marxist Luis Althusser es später nennen wird) vermittelt und erzeugt in ihnen ein falsches, kapitalistisches Bewußtsein. So daß für Marx die erste Aufgabe der sozialistischen Bewegung darin besteht, bei den Arbeitern überhaupt erst ein Klassenbewußtsein zu erzeugen, also eine Wahrnehmung, daß die kapitalistische Ordnung eben nicht gerecht ist, wie die Bourgeoisie es dem Arbeiter eingeredet hat, sondern zutiefst ungerecht. Und daß das eigene Elend nicht etwa selbstverschuldet, Schicksal oder Ausdruck einer natürlichen Ordnung ist, daß man sich darin also nicht passiv fügen muss, sondern durch das kapitalistische System selbst erzeugt wird und revolutionär zerschlagen werden kann.
Sigmund Freud (1856 — 1939) dann ist ein österreichischer Mediziner, der sich als einer der ersten mit dem menschlichen Seelenleben auf wissenschaftlicher Basis beschäftigte. Aus der Untersuchung psychisch Kranker, auch mittels des Einsatzes von Hypnose, kommt er zu der Folgerung, daß es im Menschen jenseits des ihm bewußten Bewußtseins noch eine tiefere Schicht gibt, die er das “Unterbewußte” nennt. Daraus entwickelt Freud sein Schema von “Ich”, “Es” und “Über-Ich”. Im Es wohnt die rohe, tierhafte Urnatur des Menschen, die Triebe, die Affekte, das reine Lustprinzip. Das Es wird mittels des Über-Ich (Ideal-Ich) domestiziert, und laut Freud beruht das Fundament jeder Kultur darauf, diese Domestizierung zu leisten, da der Mensch erst damit zu einem sozialen Verhalten fähig wird. Das Über-Ich steht für das Gewissen, für Werte, Moral, soziale Normen. Es entsteht vor allem in der frühen Kindheitsphase durch die Verinnerlichung (und damit Unbewußt-Werdung) von Erziehung und frühkindlichen Erfahrungen und erzeugt dadurch das “Ich” als bewußte Selbstwahrnehmung eines Menschen. Gleichzeitig aber brodelt unter dem bewußten Ich fortwährend das Unterbewußte, worin Urtriebe und Domestizierung in einer beständigen Spannung zueinander stehen. Darüberhinaus ist die Persönlichkeitsbildung des Menschen ein höchst fragiler Prozess. Erfährt der Mensch, gerade in seiner frühkindlichen Phase, schädliche Einflüsse, entstehen Traumata, Verhaltens- und Identitätsstörungen, die ebenso verinnerlicht ins Unterbewußte sickern und dort psychische Erkrankungen oder problematische Charakterzüge wie Narzißmus oder Minderwertigkeitskomplexe erzeugen.
Die Theorien von Marx und Freud sind einander verwandt darin, daß sie die Vorstellung eines unabhängigen, rational-objektiven Geistes, zurückweisen. Bei Marx ist das Bewußtsein Resultat von ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, bei Freud von Erziehung und Trieben. Die Verhältnisse, denen jemand entstammt, denken gewissermaßen durch ihn hindurch, das Ich wird zum bloßen Durchzugspunkt auf dem Strom geschichtlich-kultureller, anerzogener Prozesse, während die Vorstellung eines souveränen Subjekts als Ort der Vernunft, wie es seit Descartes das Fundament der Moderne bildete, zur einfältigen Illusion zersplittert.
“Die Destruktion der Logik mittels ihrer Genealogie [d.h. ihrer geschichtlichen Genese] bringt auch den Untergang der psychologischen Kategorien mit sich, die sich auf die Logik gründen. Alle psychologischen Kategorien (das Ich, das Individuum, die Person) leiten sich von der Illusion der substantiellen Identität ab. Diese Illusion geht grundlegend auf den Aberglauben zurück, der nicht nur den gesunden Menschenverstand (common sense), sondern auch die Philosophen täuscht: Dies ist der Glaube an die Sprache und genauer formuliert: an die Wahrheit der grammatischen Kategorien. Es war die Grammatik (die Subjekt-Prädikat-Struktur), die Descartes’ Gewissheit inspirierte, daß das “Ich” das Subjekt des “Denkens ist, während doch eigentlich eher umgekehrt die Gedanken zu “mir” kommen.” (Michel Haar, Nietzsche and Metaphysical Language, zitiert in: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter)
So entsteht Mitte des 20. Jahrhunderts der sogenannte “Freudomarxismus”, am bekanntesten die “Frankfurter Schule” von Adorno und Horkheimer. Diese bürgerlich-akademische Spielart des Marxismus interessiert sich kaum noch für wirtschaftliche Zusammenhänge, politische Organisation oder die Lebenssituation der Arbeiter. Stattdessen untersucht sie mit Hilfe von Freud die verstümmelnden Domestikationen, die die menschliche Psyche in einem kapitalistischen System erleidet. “Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben” (T.W. Adorno), “Der eindimensionale Mensch” (Herbert Marcuse) — Der Kapitalismus zwingt seinen verdinglichenden “Warenfetischismus” (Marx) allem Bestehenden auf, auch dem Menschen selbst, dessen Wert nur noch über seinen Wert im Produktionsprozess bestimmt wird. Auch die Beziehungen der Menschen untereinander werden vom Kapitalismus geformt, nehmen einen ausbeuterischen, verdinglichenden Charakter an. Doch erzeugt all das Menschen, die ihr Menschsein nicht leben können, die unterdrückte Libido sucht sich ihren verqueren Weg, sie werden zu Vergewaltigern und Antisemiten, sie werden Alkoholiker und verprügeln ihre Frauen. Sie sind innerlich zutiefst unglücklich, aber haben das Wissen darüber verdrängt, während sie sich Tag für Tag selbst immer weiter quälen und deformieren, um dem Über-Ich des Kapitalismus zu genügen.
Bis heute populär ist die Studie zum “autoritären Charakter”, womit die gesellschaftlichen Bedingungen des Faschismus analysiert werden sollen. Der autoritäre Charakter ist ein Mensch, der durch eine brutale Erziehung innerlich gebrochen wurde, weshalb er ohne Unterordnung in eine Hierarchie, die ihm Befehle und Anerkennung gibt, nicht mehr leben kann. Diese ihn unterbewußt quälende Demütigung kompensiert seine Triebstruktur durch Gewalt gegen Außenseiter, Minderheiten und diejenigen, die sich dem hierarchischen System zu entziehen versuchen, und durch die Verachtung hierarchisch Untergeordneter, die er genauso grausam behandelt wie er selbst behandelt wurde.
Hier sind wir dann bereits mitten in der 68er-Bewegung, die daraus ihre prägenden Impulse empfängt. Denn dem Freudomarxismus wohnt ein toter Winkel inne. Bei Freud erzeugt die Kultur zwar ein “Unbehagen” in ihrer Unterdrückung der Triebe, sie erscheint aber dennoch für ein funktionierendes, soziales Zusammenleben notwendig. Assoziiert man das “Über-Ich” allerdings mit einem verdinglichenden, seelenverstümmelnden Kapitalismus, muss alles so radikal wie möglich überwunden werden, damit der Mensch zu einer gesunden Entfaltung seiner selbst und einem nicht von Ausbeutung und Gewalt bestimmten Verhalten gegenüber anderen finden kann. “Sexuelle Revolution”, “antiautoritäre Erziehung” — die Familie als Ort der Weitergabe traditioneller Werte wird nur noch als “Keimzelle des Faschismus” (Horkheimer) aufgefasst, als toxischer Weitergabezirkel gewaltförmiger, selbstentfremdender Verhaltensnormen. In der “Kommune” dagegen zelebrieren die 68er die Libido, dort soll durch Überwindung aller Besitzverhältnisse, auch der sexuellen, ein neues, freies, friedvolles Bewußtsein entstehen. “Make love, not war”. Während auf der anderen Seite der Mauer, in der DDR, Fälle von Triebtätern und Serienmördern von der Stasi behandelt und verheimlicht werden müssen, da in der verwirklichten, sozialistischen Gesellschaft solche als Folge des Kapitalismus angesehenen Verhaltensanomalien eigentlich gar nicht mehr auftreten können sollen.
“Hoch lebe die internationale Solidarität. Erzählen Sie mir bitte von Ihrer Mutter.”
Den Reigen vervollständigt Friedrich Nietzsche (1844 — 1900). Dieser hatte bereits Ende des 19. Jahrhunderts einen Zusammenhang zwischen Macht und Moral hergestellt, doch das linke Spektrum entdeckt ihn erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Mit seiner Auftrennung von Herrenmoral und Sklavenmoral geht Nietzsche, vereinfacht betrachtet, ebenso wie Marx davon aus, daß die Wirklichkeit und das Bewußtsein des Herrschenden anders ist als das des Beherrschten. Die Frage nach Gut und Böse wird vielmehr zur gesellschaftlichen Herrschaftstaktik. Die Herrenmoral stellt dabei die Perspektive einer kriegerischen Erobererkaste dar, die sich selbst und ihre Überlegenheit zelebriert. “Die ritterlich-aristokratischen Werthurtheile haben zu ihrer Voraussetzung eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und Alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Handeln in sich schliesst.” (Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral)
Die Sklavenmoral dagegen, mit der Nietzsche vor allem die christliche Moral verbindet, stellt die Rache der unterlegenen Besiegten dar, die alles, was überlegen, stark und schaffend ist, zum moralisch Verwerflichen zu machen suchen. Daß es eine allgemeine, für jeden gleichermaßen gültige Moral gäbe, ist ihm eine taktische Erfindung von Sklaven, die so von ihrem eigenen Willen zur Macht angetrieben versuchen, die Herrenmoral als “ungerecht” zu diskreditieren und damit zur stürzen.
Die französischen Intellektuellen interpretieren Nietzsche sehr frei, sie ignorieren seine Ablehnung der Demokratie, seinen Antisemitismus und seine Gewaltbegeisterung, mit der er den Nationalsozialismus noch mit beeinflußte. Stattdessen interessieren sie die subtileren, metaphysikkritischen Momente im Kontext einer Herrschafts- und Gesellschaftsanalyse, denn auf ganz grundsätzliche Weise erkennt Nietzsche, daß Herrschaft erst Wirklichkeit erzeugt, daß Herrschaft gerade die Fähigkeit ist, gesellschaftliche Wirklichkeiten zu schaffen und anderen aufzuprägen. “Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen: sie sagen »das ist das und das«, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.”
Der bedeutendste postmoderne Nietzscheaner ist Michel Foucault (1926 — 1984). “Das Problem, das fast alle meine Bücher bestimmt: wie ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die (zumeist für eine bestimmte Zeit) mit einem bestimmten Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und ‑institutionen gebunden?” (Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit: Der Wille zum Wissen) Aus der Adaption Nietzsches, ihrer Übertragung auf die Funktionsweise moderner Gesellschaften entstehen für die Postmoderne zentrale Begriffe wie Diskurs, Diskursanalyse und Dispositiv. Mit ihnen werden Denkcharakteristiken analysiert, die eine Epoche prägen und “strukturell” den Möglichkeitsraum hervorbringen, innerhalb dessen Wahrheit, Wissen oder Moral hergestellt werden kann. Bereits in seinem Frühwerk “Die Ordnung der Dinge” zeigt Foucault, daß diese Strukturen sich von Epoche zu Epoche verändern.
Der Diskurs — das ist der Raum einer Gesellschaft, worin Macht verbindliche Wirklichkeiten erzeugt. Wobei “Macht” hier ganz allgemein verstanden ist, als Fähigkeit, zu handeln und etwas wirklich zu machen, also gesellschaftlich sichtbar, satisfaktionsfähig, legitim. Was sich nicht wirklich zu machen versteht, gilt als krank, abnorm, dumm, minderwertig.
So betrachtet Foucault den Umgang mit Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, also sowohl seine Sexualmoral als auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mittels Biologie und Psychoanalyse, weniger als bloß “autoritäre” neo-christliche Repressivität, auch nicht als “objektives” wissenschaftliches Interesse, sondern vielmehr als neue Herrenmoral des Bürgertums, mit es sich sowohl gegenüber dem alten, dekadenten Adel als auch dem verlotterten Proletariat abzugrenzen versucht, sich ihm als überlegen erweisen will.
“Das Sexualitätsdispositiv scheint keineswegs von den traditionell so genannten “leitenden Klassen” zur Einschränkung der Lust der anderen installiert worden zu sein. Vielmehr scheinen sie es zuerst an sich selbst versucht zu haben. […] Es handelt sich um neue Techniken der Maximalisierung des Lebens. Nicht um eine Unterdrückung am Sex der auszubeutenden Klassen ging es, sondern um den Körper, die Stärke, die Langlebigkeit, die Zeugungskraft und die Nachkommenschaft der “herrschenden” Klassen.”
Der Wille zum Wissen: alles Denken und wissenschaftliches Forschen ist für Foucault immer an ein Interesse gebunden, letztlich an einer Stärkung der eigenen Macht. Und das bereitet die Bahn für den eigenwilligen Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie er für die Postmoderne und gerade die Gender Theorie charakteristisch ist. Foucault stellt die Gültigkeit der Wissenschaft für sich genommen nicht infrage. Und dennoch ist das Wissen nicht wirklich neutral, ihm ist das Herrschaftsinteresse derjenigen, die nach ihm schürfen, immer eingeschrieben. Während umgekehrt das, was dem Interesse der Herrschenden widerspricht, nicht erforscht, in seinen Fragestellungen als nicht als legitim aufgefasst, nicht als Wirkliches anerkannt wird.
(Ein interessantes Beispiel für Diskursanalyse wären auch rechte Positionen, die von den intellektuellen Eliten primär als Pathologie analysiert werden. Wobei die Elitenbildung eben nicht als tatsächliches Zum-Schweigen-Bringen, Unsichtbarmachen, Auslöschen vollzogen wird, sondern als unentwegtes Reden über den Rechten und die von ihm ausgehende Gefahr, der man sich nur durch heroische Anstrengung erwehren kann. Wo das Bürgertum des 19. Jahrhunderts fortwährend den Sex untersucht, die eigene, strenge Zucht öffentlich zur Schau stellt, Pathologien ausmerzt und sich so im Sinne einer Herrenmoral stabilisiert, so ist “der Rechte” heute der Gefallene. Was der Perverse im 19. Jahrhundert, ist der Nazi im 20.)
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Fassen also noch einmal kurz zusammen, bevor wir das regenbogenbunt schillernde Reich des Feminismus betreten. Aussagen haben Bedeutungen. Allerdings befindet die postmoderne Philosophie im Gegensatz zur modernen, daß Begriffe keine Repräsentationen der Dinge sind, die sie bezeichnen, die Sprache kein objektivierbarer Beschreibungsraum ähnlich der Mathematik. Und auch das Subjekt, der Mensch als Rezipient und handelnder Akteur, ist kein neutraler Nullpunkt im Geschehen. Vielmehr sind sowohl Sprache als auch Selbstauffassung des Menschen Resultate übergeordneter, kultureller Prozesse, deren Weitergabe zumeist in einem vom Menschen selbst gar nicht reflektierten Bereich abläuft.
Gerade Freuds Entdeckung des Unbewußten ist entscheidend für die Auffassung, daß weder Gewissen noch Persönlichkeitsstruktur eines Menschen wesentlich angeboren sind. Sie entstehen im Kontakt mit der sozialen Sphäre; erst durch das Absinken von Prägungserfahrungen ins Unterbewußte entsteht der Eindruck des “natürlichen” Angeborenseins einer Identität, oder dessen, was er als “gesunden Menschenverstand” auffasst.
“Das “Ich” ist zerstört, nun geht es um die Entdeckung des “es gibt”. Es gibt ein “man”. In gewisser Weise kehren wir damit zum Standpunkt des 17. Jahrhunderts zurück, mit folgendem Unterschied: nicht den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen, sondern ein anonymes Denken, Erkenntnis ohne Subjekt, Theoretisches ohne Identität. […] Man denkt innerhalb eines anonymen und zwingenden Gedankensystems, nämlich dem einer Epoche und einer Sprache.” (Michel Foucault, Absage an Sartre, 1966)
Von hier aus wird nun auch der Begriff “Wokeness” begreifbar. Er bezeichnet ein Bewußtsein, das sich in kritische Distanz gebracht hat zu den Normen, Werten und der Selbstauffassung, die es in sich selbst als Relikte bereits unterbewußt gewordener Prägungen vorfindet. Ein Bewußtsein überdies, das die Machtzusammenhänge hinter diesen Prägungen erkannt hat. Es ist aufgewacht, wie Neo im Film Matrix, der sich nach dem Schlucken der roten Pille mit dem ersten tatsächlichen Aufschlagen seiner Augen in einer grauenhaften Maschinenwelt wiederfindet, während all seine bisherigen Selbstverständlichkeiten als Illusionen zusammenbrechen.
Das gilt sowohl für Unterdrücker als auch Unterdrückte. Der Unterdrückte, wenn er im Sinne von Marx sein “Klassenbewußtsein” entwickelt, wenn beispielsweise das Arbeiterkind merkt, daß das Ethos des fleissigen, bescheidenen Arbeiters, das ihm von den Arbeitereltern eingeflösst wurde, nur dazu dient, das Kapital besser von seiner Arbeitskraft profitieren zu lassen. Oder der Homosexuelle, wenn er im Sinne von Foucaults Sexualitätsdispositiv beschließt, daß er sich seiner eigenen, nicht zur Reproduktion und zur Weitergabe von Besitz geeignete Sexualität nicht länger schämen, sie als “unnatürlich” abwerten lassen will, nur weil ihm das gesellschaftlich so aufgedrängt wird.
Doch auch der Unterdrücker kann “woke” werden, indem ihm bewußt wird, daß vieles, was er denkt oder sagt, was er bisher für wahr, normal oder gar für witzig gehalten hat, andere ausgrenzt, abwertet, diskriminiert. Daß sein Ich also unbewußt das Element einer Herrschaftsmatrix bildet, die durch ihn alte, geschichtlich gebildete Ungerechtigkeiten und Unterdrückungsverhältnisse “reproduziert” und damit weiter am Leben hält.
Ist “Neger” nur ein Wort, eine Lautfolge, die deskriptive Beschreibung eines Dunkelhäutigen? Oder transportiert der Begriff etwas, das darüber hinausgeht, transportiert er eine Denkstruktur von Rassismus und Abwertung, eine Geschichte von Kolonialismus und Sklaverei? Demütige ich einen Schwarzen durch Aussprechen des Wortes und bin mir dessen gar nicht bewußt, weil mir seine Perspektive, seine Welterfahrung als Weißer gar nicht zugänglich ist?
Das erschließt ebenfalls die Motivation hinter der “Cancel Culture”. Denn wenn wir davon ausgehen, daß das Ich lediglich das Produkt einer gesamtkulturellen Sphäre darstellt, ist all das, was im öffentlichen Raum zirkuliert, ausschlaggebend für die Persönlichkeitsentwicklung aller, die damit in Berührung kommen und damit für die Zukunft einer ganzen Gesellschaft. Wer “progressiv” denkt, also die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu überwinden wünscht, muss deshalb versuchen, die Öffentlichkeit von problematischen Elementen zu säubern, damit diese nicht weiter reproduziert werden, sich nicht aufs Neue in die Köpfe einer jungen Generation hineinsenken und reaktionäre Bewußtseine erzeugen.
Es ist in diesem Zusammenhang natürlich auch kein Zufall, daß gerade Schulen, Universitäten und Kindergärten im Zentrum der Wokeness-Aktivitäten stehen, denn das sind die zentralen, öffentlichen Orte, an denen Kultur weitergegeben und Persönlichkeiten gebildet werden.
Gerade die Kindergärten sind äußerst interessant, denn umso jünger der Mensch, desto weniger festgelegt ist im Sinne der freudschen Psychologie noch dessen Ich- und Weltauffassung. So ist es nur folgerichtig, wenn LGBTQ-Aktivisten die Jüngsten anvisieren, um ihnen “progressive” Vorstellungen zu vermitteln. Dabei geht es allerdings nicht, wie gerne in Unkenntnis der theoretischen Hintergründe behauptet wird, um pädophile Absichten. (Auch wenn Pädophile fraglos in der Vergangenheit gerne die entsprechenden Diskurse geentert haben.) Vielmehr sollen durch Veranstaltungen wie Drag Queen Story Time in einem Alter, in dem das menschliche Bewußtsein noch formbar ist, durch positiv konnotierten Kontakt positive Assoziationen in den Kindern verankert werden, bzw. mögliche Vorurteile und Abneigungen, die ihnen in Elternhaus und Umfeld vermittelt werden, von vornherein untergraben. Die Drag Queen ist dann, so wünschen es sich zumindest wohl die Veranstalter, keine grotesk geschminkte Monstrosität mehr, der Perversion und dem Laster verfallen, sondern ein sympathischer, warmherziger Mensch, der eben nur irgendwie “anders” ist. Und etwas, das ihnen nun auch als Identitätsangebot zur Verfügung steht.
Zu den Fragezeichen zählt auch folgende Überlegung: Als der Affe vom Baum stieg und zum Menschen wurde soll er also mit dem Akt der Menschwerdung die biologische binäre Geschlechtlichkeit mit allem drum und dran abgelegt haben. Dann kam die Kultur daher und ihr fiel nix besseres ein, als genau diese biologischen Geschlechtsunterschiede wieder zu konstruieren. Das hört sich nicht nach der naheliegensten Erklärung an.