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Styler Ornament

Die Ringe der Macht und das moderne Bewußtsein

Styler Ornament

Wie die gif­tig grü­ne Licht­säu­le, die aus Minas Mor­gul in den Him­mel schießt, um das Ende des Drit­ten Zeit­al­ters ein­zu­läu­ten, so ver­brei­te­te Ama­zon schon vor dem Start von “Die Rin­ge der Macht” woken­ess­ge­sät­tig­te Tea­ser, die in der Fan­ge­mein­de Angst und Schre­cken ver­brei­te­ten. Soll­te nach Star Wars, Ghost­bus­ters und vie­len ande­ren nun auch das tol­ki­en­sche Uni­ver­sum zeit­geist­ge­recht geschän­det wer­den, um wie ein Feld­zug von Sau­ron nichts als ver­brann­te Erde, Rui­nen und bit­te­re Trä­nen zurück­zu­las­sen? Das stand zu befürch­ten und wir Freun­de Mit­tel­er­des wälz­ten uns lan­ge schon nachts in unru­hi­gen Träu­men in den Bet­ten, lasen das kom­men­de Unheil bereits wäh­rend ruhe­lo­ser Nacht­spa­zier­gän­ge an der blut­ro­ten Far­be der Däm­me­rung ab.

Und in der Tat bestä­tigt der ers­te Ein­druck zunächt ein­mal alle Befürch­tun­gen und hin­ter­lässt auch den gleich­gül­ti­gen Zuschau­er irgend­wo zwi­schen Geläch­ter und Kopf­schüt­teln. Denn die Schwar­zen sind über­all — als schwar­zer Elben­krie­ger in den Süd­lan­den, als schwar­ze Zwer­gen­frau, als schwar­zer Hob­bitrent­ner mit wei­ßem Haar und als schwar­ze numen­ori­sche Prin­zes­sin. Mit­tel­er­de ist end­lich divers gewor­den. Wo kein Schwar­zer pla­ziert ist, war­tet in der Regel dann eine Frau. Die Haupt­rol­le ist selbst­re­dend mit Galadri­el weib­lich besetzt, und auf­grund des Män­ner­über­schus­ses in Tol­ki­ens Geschich­ten wur­den zusätz­lich star­ke, weib­li­che Rol­len wie Durins Ehe­frau Disa oder die ehr­gei­zi­ge Eärien als zusätz­li­che Toch­ter Elen­dils hin­zu­er­fun­den. Wei­ße Män­ner dage­gen trifft man eher als Brem­ser, Nul­len, Weich­ei­er, die regel­mä­ßig von Schwar­zen und Frau­en geret­tet, auf­ge­rüt­telt, ermahnt wer­den müssen.

So weit, so gut — an die­ser Stel­le ende­te bis­lang die Aus­ein­an­der­set­zung der meis­ten Rezi­pi­en­ten und daß Ama­zon es mit eit­lem Sen­dungs­be­wußt­sein dar­auf anlegt, so vie­le ehr­li­che Anhän­ger Tol­ki­ens mit zeit­geis­ti­ger Poli­ti­sie­rung zu ver­prel­len, ist frag­los kein schö­ner Zug. Am Ende der ers­ten Fol­ge aller­dings, der ich noch pri­mär aus Kurio­si­tät bei­wohn­te, um das Skan­da­lon der Sai­son zu betrach­ten wie einen Ech­sen­men­schen im Zir­kus, geschah das Uner­war­te­te: irgend­et­was an die­ser Serie gefiel mir, riss mich mit, mach­te mir mir Neu­gier auf die zwei­te Fol­ge. Hier nun, deut­lich wohl­wol­len­der gestimmt, fiel mir zunächst und erst­mals die unge­mein schö­ne Titel­ani­ma­ti­on auf. Von ele­gisch-schick­sals­s­schwan­ge­ren Strei­chern beglei­tet formt krei­sen­der Staub sich zu archai­schen Mus­tern und Orna­men­ten. Und es will mir nun schei­nen, als ob die­se Ani­ma­ti­on bereits bewusst den ästhe­ti­schen Stil der Serie aus­drückt, gewis­ser­ma­ßen eine rea­lis­ti­sche Tex­tur in den Details mit dem fan­tas­ti­schen Gewe­be von Tol­ki­ens epi­scher Gegen­welt ver­bin­dend. Denn eigen­wil­lig schwan­kend, in die­sem Schwan­ken aber immer auch eine gewis­se Span­nung erzeu­gend, so tritt einem die­se Serie ent­ge­gen, mär­chen­haft poe­ti­sche Bil­der tref­fen auf ein außer­or­dent­lich irdisch, mensch­lich, lebens­voll gezeich­ne­tes Han­deln und Wirken. 

Und dar­in liegt, sofern man sich imstan­de fin­det, die auf­dring­lich pla­zier­te Iden­ti­täts­po­li­tik zu tole­rie­ren, die eigent­li­che Über­ra­schung: obwohl die Auf­ga­be kei­ne leich­te ist, da doch das Sil­ma­ril­li­on zumeist nur mit den gro­ben Stri­chen einer Chro­nik die früh­ge­schicht­li­chen Ver­häng­nis­se Mit­tel­er­des schil­dert, leis­ten die Autoren tat­säch­lich aus­ge­zeich­ne­te Arbeit dar­in, das kar­ge Erzähl­ske­lett mit Leben zu fül­len. Spe­zi­ell die Cha­rak­ter­zeich­nung fällt so glaub­wür­dig wie viel­schich­tig aus. Wo Haupt­fi­gur Galadri­el im Herrn der Rin­ge schließ­lich so uralt, wis­send und mäch­tig gewor­den ist, daß sie etwas Beängs­ti­gen­des, gera­de­zu Grau­sa­mes, Unmensch­li­ches aus­zu­strah­len beginnt, tritt uns, psy­cho­lo­gisch nicht unplau­si­bel, die jun­ge Galadri­el als bur­schi­ko­ser Wild­fang ent­ge­gen, genau­so humor­los wie ihr älte­res Ich, doch vol­ler jugend­li­cher Ener­gie, hit­zig, wütend, rache­durs­tig. Auf Jung-Elrond sto­ßen wir als iro­ni­schen Tänd­ler, talen­tiert, etwas ver­lo­gen — ein auf­stre­ben­der Jungp­po­li­ti­ker, der bereits den laschen, rede­ge­wand­ten Oppor­tu­nis­ten, wie Tol­ki­en ihn im Herrn der Rin­ge schil­dert, in sich trägt.

Auch die Dia­lo­ge beein­dru­cken durch Stil­si­cher­heit, hal­ten die Balan­ce zwi­schen All­tags­spra­che und einem etwas förm­lich-blu­mi­ge­ren Alt­vor­de­ren­ton. Hier zeigt sich “Die Rin­ge der Macht” sogar deut­lich stär­ker als Peter Jack­sons Tri­lo­gie, wor­in die Dia­lo­ge nicht nur ein­mal die Gren­ze zum Pein­lich-Gestelz­ten über­schrei­ten und kaum über ein blas­ses Abar­bei­ten der Vor­la­ge hin­aus­kom­men. (Und man erin­ne­re sich nur an die Über­flüs­sig­kei­ten, mit der er den “Hob­bit” auf­bläst.) So erschafft “Die Rin­ge der Macht” glaub­haf­te Cha­rak­te­re mit glaub­haf­ter Moti­va­ti­on, die auch ein tra­di­tio­nel­ler Tol­ki­en-Anhän­ger als stim­mi­ge Inter­pre­ta­ti­on von Mit­tel­er­de auf­fas­sen kann. Kei­ne gerin­ge Leistung.

All das geschieht aller­dings um den Preis einer Ver­wand­lung. Wo uns “Die Rin­ge die Macht” direkt in das vor Leben, vor Intri­gen, Feind­schaf­ten, Ambi­tio­nen, grö­ßen­wahn­sin­ni­gen Plä­nen und geheim­nis­vol­len Frem­den nur so strot­zen­de Mit­tel­er­de hin­ein­zu­wer­fen ver­mag, ver­blasst ein ande­res Mit­tel­er­de, das epi­sche, mythi­sche Mit­tel­er­de, wie es mir von mei­ner eige­nen Lek­tü­re des Sil­ma­ril­li­ons in Erin­ne­rung ist. Hier umfängt einen nun ein grü­beln­der See­len­schmerz, der die Gedan­ken ganz an den Grund hin­ab zieht.

Denn: was ist Mit­tel­er­de eigent­lich? Der Traum­kos­mos eines fan­ta­sie­vol­len Sprach­ge­nies, das bereits in sei­ner Jugend Spra­chen wie Gotisch und Alt­grie­chisch beherrscht und als Alt­phi­lo­lo­ge sein Leben damit ver­bringt, sich in uralte, ver­ges­se­ne Skri­pe zu ver­sen­ken, sie aus ihrem geschicht­li­chen Kon­text her­aus zu deu­ten. Sei­ne aka­de­mi­sche Repu­ta­ti­on ver­dient Tol­ki­en sich mit einer Neue­di­ti­on von “Sir Gawain and the Green Knight”, ein im 14. Jahr­hun­dert in Stab­rei­men abge­fass­tes Hel­den­epos und den größ­ten Teil sei­nes Lebens ver­bringt er als Pro­fes­sor für Anglis­tik in Oxford. Die­sen Hin­ter­grund, die­sen Bil­dungs- und Inter­es­sens­ho­ri­zont spürt jeder, der das “Sil­ma­ril­li­on” liest. Tol­ki­en erzählt nicht ledig­lich span­nen­de Mär­chen, er ent­wirft eine eige­ne Kos­mo­lo­gie, eine mythi­sche Samm­lung fik­ti­ver Früh­ge­schich­te, von der Welt­schöp­fung bis in die Gegen­wart, die ähn­lich der Bibel so etwas wie den Über­lie­fe­rungs­ka­non einer fik­ti­ven Kul­tur formt. Und er greift dafür immer auch auf rea­le Vor­bil­der zurück, was den Ton, die Kon­stel­la­ti­on, die Moti­ve betrifft. So erhält sein Werk eine Tie­fe, das sei­ne Nach­fol­ger — denn erst dadurch erschafft er das Gen­re, das wir heu­te als “Fan­ta­sy” bezeich­nen — bis heu­te zumeist nicht annä­hernd errei­chen. Irgend­et­was in Tol­ki­ens Werk ist mehr gewor­den als ein Spiel, der bloß exzen­tri­sche Spleen eines eng­li­schen Pro­fes­sors, er berührt tie­fe­re Sai­ten in uns und macht so die meist in jun­gen Jah­ren erfol­gen­de Lek­tü­re auch heu­te noch für vie­le zu einem prä­gen­den Erleb­nis, das einen lebens­lang nicht mehr verlässt. 

So ent­facht die­se Ver­fil­mung iro­ni­scher­wei­se gera­de in dem, wor­in sie gelun­gen ist, einen grund­sätz­li­chen Kon­flikt. Umso mensch­li­cher und nah­ba­rer, umso nach­voll­zieh­ba­rer in ihren Lei­den­schaf­ten uns die Cha­rak­te­re des Zwei­ten Zeit­al­ters geschil­dert wer­den, so ver­schwin­det gleich­zei­tig auch etwas — nen­nen wir es das Erha­be­ne, ein bestimm­tes, fei­er­li­ches Pathos, die hero­isch-tra­gi­sche Distanz zu den gro­ßen kos­mi­schen Schick­sals­mo­men­ten, die das Wesen klas­si­scher Epik aus­ma­chen wie auch einen nicht uner­heb­li­chen Teil des Rei­zes des Sil­ma­ril­li­ons. In der Wand­lung zum Mythos wird Mensch und Gesche­hen dem bloß Pro­fa­nen und Indi­vi­du­el­len ent­ho­ben, wird Teil einer Erzäh­lung, die weni­ger über ihn selbst als viel­mehr über die Beschaf­fen­heit der Ord­nung aus­sagt, die sie wei­ter­gibt — in der Ver­mensch­li­chung dage­gen ver­blasst die­ses Höhe­re wieder.

Dabei, und nun wird es lang­sam inter­es­sant, ist die­ser Zwie­spalt weni­ger der Unzu­läng­lich­keit der Autoren zuzu­rech­nen, son­dern bereits Tol­ki­en besitzt ein kla­res Bewußt­sein dafür. An einem zen­tra­len Moment der Geschich­te, dem Zeit­punkt, als Fro­do und Sam­weis den Pass von Cirith Ungol erreicht haben, der den Ein­gang in das lebens­feind­li­che, ver­heer­te Mordor bedeu­tet, lässt Tol­ki­en die bei­den über Hel­den­sa­gen spre­chen. “Die tap­fe­ren Taten in den alten Geschich­ten und Lie­dern, Herr Fro­do: Aben­teu­er, wie ich sie immer nann­te. Ich glaub­te, das wären Taten, zu denen die wun­der­vol­len Leu­te in den Geschich­ten sich auf­mach­ten und nach denen sie Aus­schau hiel­ten, weil sie es woll­ten, weil das auf­re­gend war und das Leben ein biß­chen lang­wei­lig, eine Art Zeit­ver­treib, könn­te man sagen. Aber so ist es nicht bei den Geschich­ten, die wirk­lich wich­tig waren, oder bei denen, die einem im Gedächt­nis blei­ben. Gewöhn­lich schei­nen die Leu­te ein­fach hin­ein­ge­ra­ten zu sein — ihre Wege waren nun ein­mal so fest­ge­legt, wie du es aus­drückst. Aber ich neh­me an, sie hat­ten eine Men­ge Gele­gen­hei­ten umzu­keh­ren, wie wir. Nur taten sie es nicht. Und wenn sie es getan hät­ten, dann wüss­ten wir’s nicht, denn dann wären sie ver­ges­sen wor­den. Wir hören von denen, die ein­fach wei­ter­gin­gen — und nicht immer alle zu einem guten Ende, wohlgemerkt.”

Und so trös­ten und moti­vie­ren die bei­den sich in der Gefahr, ihr Leben auf qual­vol­le Wei­se zu ver­lie­ren mit der Aus­sicht, viel­leicht dadurch am Ende selbst Teil der Geschich­ten zu wer­den, die sie selbst so ger­ne gehört haben. “Immer­hin wüss­te ich gern, ob wir jemals in Lie­dern oder Geschich­ten vor­kom­men wer­den. Wir sind natür­lich in einer; aber ich mei­ne: in Wor­te gefasst, weißt du, am Kamin erzählt oder aus einem gro­ßen, dicken Buch mit roten und schwar­zen Buch­sta­ben vor­ge­le­sen, Jah­re und Jah­re spä­ter. Und die Leu­te wer­den sagen: ‘Lass uns von Fro­do und dem Ring hören!’ Und sie wer­den sagen: “Das ist eine mei­ner Lieb­lings­ge­schich­ten. Fro­do war sehr tap­fer, nicht wahr, Papa?’ — ‘Ja, mein Jun­ge, der berühm­tes­te der Hob­bits, und das sagt viel.’ ” Damit ist bereits der Herr der Rin­ge in sei­nem Auf­bau zwie­ge­spal­ten: in Ara­gorn, den ver­lo­re­nen Königs­sohn, als klas­si­schen Hel­den, und Fro­do und Sam­weis als Anti-Hel­den, viel­leicht auch als Tol­ki­ens eige­nes, moder­nes Bewußt­sein, die Kluft zwi­schen Wirk­lich­keit und Über­lie­fe­rung immer bereits reflektierend.

Es wird Fro­do sein, der in Tol­ki­ens Erzäh­lung die Geschich­te des Ring­kriegs nie­der­schreibt, nicht Ara­gorn, der Teil der Geschich­te ist, Teil des sich voll­zie­hen­den, geschicht­li­chen Schick­sals, von dem er selbst gar kein Bewußt­sein besitzt, weil er es als Figur aus­drückt. Zwar fügen auch Fro­do und Sam­weis sich dem Schick­sals­sog, doch bereits als moder­ne Men­schen aus einem kla­ren Bewußt­sein, aus zwar zöger­li­cher, ängst­li­cher, aber doch ver­nünf­ti­ger Ent­schei­dung her­aus, die Distanz ihrer selbst zur Welt der Hel­den immer klar vor Augen. Wo das unter­ge­hen­de Mit­tel­er­de des Drit­ten Zeit­al­ters noch der Welt des Aben­teu­ers, der Dra­chen, Trol­le und Unge­heu­er ange­hört, so schwimmt dar­in das Auen­land als Nach­bil­dung des bra­ven, eng­li­schen Klein­bür­ger­tums, dem Tol­ki­en selbst ent­stammt, die Men­ta­li­tät der Hob­bits ist sicht­lich immer auch eine iro­ni­sche Kari­ka­tur der dama­li­gen eng­li­schen Gesellschaft. 

Ara­gon als klas­si­scher Held bewegt sich durch den Herrn der Rin­ge wie ein Schlaf­wand­ler, wie eine Mario­net­te, die von einem unsicht­ba­ren, längst gezo­ge­nen Schick­sals­fa­den bis an sein bereits seit Äonen fest­ste­hen­des Ziel gelei­tet wird. Er ist ganz eins mit sei­nem Schick­sal, es liegt nicht in sei­nem (von Tol­ki­en so kon­zep­tio­nier­ten) Wesen, es zu hin­ter­fra­gen, pro­ble­ma­ti­sie­ren oder abzu­leh­nen. So bleibt unser Ver­hält­nis zu ihm bis zuletzt von einer cha­rak­te­ris­ti­schen Distan­ziert­heit. Sein Dasein als klas­si­scher Held macht ihn uns zum Wunsch­bild, zum idea­len Vor­bild, doch löscht die Idea­li­tät sei­ner Rol­le sei­ne Indi­vi­dua­li­tät und damit sei­ne Mensch­lich­keit weit­ge­hend aus. Er besitzt kei­ne Per­sön­lich­keit im eigent­li­chen Sinn, kein Innen­le­ben, das irgend­ei­ner Schil­de­rung wert wäre, son­dern steht so per­fekt wie ste­ril als Ansamm­lung der Ide­al­ei­gen­schaf­ten eines Krie­gers und Königs vor uns, wäh­rend er als blo­ßes Bedeu­tungs-Medi­um die ihm von Anbe­ginn sei­ner Exis­tenz ein­ge­schrie­be­ne Bestim­mung voll­zieht. Sogar sei­ne Lie­be zu Arwen wird bereits zum Zeit­punkt des Erzäh­lens auf eigen­ar­tig see­len­kal­te Wei­se ver­my­tho­lo­gi­siert, der authen­ti­schen mensch­lich-emo­tio­na­len Züge beraubt und so der Welt­ge­schich­te eingeschrieben.

Aus Fro­do und Sam­weis dage­gen spricht ganz das moder­ne Bewußt­sein, die moder­ne Figur des Anti-Hel­den, die ihren Reiz gera­de aus dem Gegen­teil, der Indi­vi­dua­li­tät, der Gewöhn­lich­keit und Nor­ma­li­tät des Prot­ago­nis­ten zieht. Hier ist plötz­lich eine ganz ande­re Art von Sym­pa­thie und Iden­ti­fi­ka­ti­on mög­lich, wenn wir Fro­do und Sam­weis bei ihrem unbe­hol­fe­nen Vor­wärts­stol­pern beob­ach­ten, stets über­for­dert, grü­belnd, zöger­lich, um am Ende sich ganz im Ethos der Moder­ne doch empor­zu­schwin­gen zum Ent­schluß, zur Selbst­über­win­dung als Aus­druck indi­vi­du­el­len Cha­rak­ters, das schick­sals­haf­te Sein des hel­di­schen Ara­gorn am Ende durch ein zähes Wer­den im Pro­fa­nen doch irgend­wie überkränzend. 

Tol­ki­en Zwei­ge­sicht, Digi­tal­acryl, 2022.

Auf die Span­nung die­ser bei­den Pole stößt der Betrach­ter auch in “Die Rin­ge der Macht”, ver­wan­delt aller­dings in die Distanz der Epo­chen von Ent­ste­hung und Ver­fil­mung. Nicht unre­le­vant dürf­te sein, daß Tol­ki­en, gebo­ren 1892, ledig­lich drei Jah­re älter als ein Ernst Jün­ger (und drei Jah­re jün­ger als Adolf Hit­ler) ist. Er ist Teil der Genera­ti­on, die in Deutsch­land die “Kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on” und über­all in Euro­pa jene anti­mo­der­nen Poli­tik­kon­zep­te ent­wirft, die heu­te gemein­hin als “Faschis­mus” zusam­men­ge­fasst wer­den, einer Genera­ti­on, die auf viel­fäl­tigs­te Wei­se in einem Zwie­spalt mit der ent­zau­ber­ten, ratio­na­lis­ti­schen Moder­ne des 19. Jahr­hun­derts steht, der sie selbst entstammt.

Doch wäh­rend im Faschis­mus die Neu­ver­bin­dung von moder­nem und vor­mo­der­nem Bewußt­sein durch die Syn­the­ti­sie­rung von Mas­sen­ge­sell­schaft und Tech­nik einer­seits und der Reak­ti­vie­rung von Herrschafts‑, Krie­ger- und Schick­sals­my­then ande­rer­seits mit­tels Poli­tik ver­sucht wird, wählt Tol­ki­en die Kunst für eine ver­gleich­ba­re Grund­kon­stel­la­ti­on und erschafft auf die­se Wei­se die für sein Werk cha­rak­te­ris­ti­sche Dop­pe­lung von Held und Anti-Held, von Epos und Bür­ger­tum, auf die wir sowohl im Herrn der Rin­ge als auch im Hob­bit (dort Bil­bo und Tho­rin Eichen­schild) sto­ßen. (Auch bei C.S. Lewis, sei­nem Autoren­kol­le­gen und Freund, muss die Kluft zwi­schen moder­nem und mythi­schen Bewußt­sein geschlos­sen wer­den, in die­sem Fall durch eine gehei­me Tür, die in eine schick­sals­durch­wo­be­ne Sagen­welt führt.)

Die­se heim­li­che See­len­ver­wandt­schaft ist mög­li­cher­wei­se der Grund, wie­so Tol­ki­en sich im rech­ten Spek­trum, von Varg Viker­nes bis Geor­gia Melo­ni, einer so anhal­ten­den Beliebt­heit erfreut. Doch trotz ähn­li­cher Gestimmt­heit ist der Ton Tol­ki­ens schlu­ßend­lich ein ganz ande­rer als der kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­tio­nä­re sei­ner Zeit. Es ist ein iro­ni­scher Ton, mit dem er sei­ne Hob­bits in das gefähr­li­che Mit­tel­er­de hin­ein­wirft, Aus­druck einer Hal­tung, die man viel­leicht am ehes­ten mit “Huma­nis­mus” bezeich­nen könn­te, getra­gen von melan­cho­li­schem Ver­ste­hen, einem humor­vol­len Beja­hen und Akzep­tie­ren, das gera­de den faschis­ti­schen Bewe­gun­gen der Zeit völ­lig fremd ist. Das moder­ne, gegen­warts­be­ja­hen­de Bewußt­sein behält die Ober­hand und lässt die Welt von Mit­tel­er­de schon wäh­rend des Erzäh­lens im Ver­ge­hen begrif­fen sein, mit der Zer­stö­rung des Rings endet auch die Anwe­sen­heit der Elben in Mit­tel­er­de und das Zeit­al­ter der Men­schen zieht her­auf. Wo man in den Schrif­ten der Wei­mar-Rech­ten ein regel­rech­tes Ent­set­zen, ein Nicht-Ertra­gen-Kön­nen der Gegen­wart ver­nimmt, dort taucht Tol­ki­en sei­ne Hob­bit­welt ledig­lich in freund­li­chen Spott, hält sie als etwas lächer­li­ches Refu­gi­um der Klein­bür­ger­lich­keit aber immer ins Herz geschlos­sen. Sei­ne Hel­den dür­fen schließ­lich ins Auen­land in ihre behag­li­chen Wohn­höh­len zurück­keh­ren, erleich­tert, die erschre­cken­de Welt des Hel­den­epos hin­ter sich gelas­sen zu haben. Hit­ler dage­gen, der den Mythos als Wahr­heit auf­fass­te, zur Wirk­lich­keit machen woll­te, legt schließ­lich in sei­nem Bun­ker unter dem zer­stör­ten Ber­lin — bezeich­nen­der­wei­se gleich­zei­tig mit der Nie­der­schrift des Herrn der Rin­ge — noch ein letz­tes Mal Wag­ner auf und schießt sich dann in den Kopf.

(Doch auch der Ring­trä­ger trägt ein unheil­ba­res Mal auf der See­le, das ihn der pro­fa­nen Welt des Auen­lan­des ent­frem­det, eine wirk­li­che Rück­kehr bleibt ihm ver­wehrt, er wird sich am Ende sei­nes Lebens zusam­men mit den Elben auf­ma­chen nach Vali­nor. Ein dem “Gol­de­nen Zweig” ent­lehn­tes Motiv, wonach das Berüh­ren des Sakra­len einen Preis for­dert, oder am Ende doch das heim­li­che Ein­ge­ständ­nis Tol­ki­ens eines tie­fe­ren Leidens?)

Und so bewegt das Zahn­rad der abend­län­di­schen Geschich­te sich Mit­te des 20. Jahr­hun­derts wie­der einen Zahn wei­ter und erschafft eine neue Genera­ti­on, die nicht mehr zwi­schen den Wel­ten steht, son­dern mit bei­den Bei­nen in der Moder­ne; eine Genera­ti­on, wel­che die iro­ni­sche Melan­cho­lie als heim­li­che Grun­die­rung von Tol­ki­ens Werk längst nicht mehr kennt. Die kom­men­de Welt, die Welt der Men­schen, wie Tol­ki­en sie am Ende des Herrn der Rin­ge bereits her­auf­däm­mern lässt, als die Elben zusam­men mit sei­nem dem Auen­land ent­frem­de­ten Alter Ego Fro­do Mit­tel­er­de end­gül­tig ver­las­sen, die­se Welt ist unse­re heu­ti­ge Welt, wor­in die Autoren der Ama­zon-Serie leben. Mit dem Tod der Genera­ti­on Tol­ki­ens ist auch das Lebens­ge­fühl gestor­ben, das zur Erschaf­fung von Mit­tel­er­de führte.

Und so füllt nun die gegen­wär­ti­ge Genera­ti­on Tol­ki­ens Werk, das unleug­bar ja noch immer wie eine ver­ges­se­ne, ver­schlos­se­ne Tru­he auf dem Spei­cher einen schwer deut­ba­ren, schim­mern­den Zau­ber aus­strahlt für jeden, der ihm begeg­net, mit der Vor­stel­lung der Welt, die sie selbst in sich tra­gen. Es liegt eine Kon­se­quenz dar­in, auch wenn sie sei­nen eher kon­ser­va­tiv gestimm­ten Anhän­gern nicht gefal­len dürf­te. Wo ein Tol­ki­en noch weh­mü­tig Abschied nimmt von der vor­mo­der­nen Welt der Elben, Zwer­ge und aus­er­wähl­ten Königs­söh­ne, so ist der Abschied in “Rin­ge der Macht” bereits als Kul­tur­pro­zess voll­zo­gen, die unsterb­li­chen, halb­gott­haf­ten Elben tre­ten ganz irdisch, leben­dig, kurz gesagt: mensch­lich vor uns. Sie exis­tie­ren nun als Figu­ren, die “auch nur Men­schen” sind, doch das eigent­lich Elbi­sche als mythen­haf­te Erzähl­pa­ti­na hat Mit­tel­er­de tat­säch­lich verlassen. 

Galadri­el erspürt nicht län­ger in einer mit Was­ser gefüll­ten Scha­le die Tra­gö­di­en der Zukunft, son­dern forscht als Aben­teue­rin nach Spu­ren Sau­rons und orga­ni­siert mili­tä­ri­schen Wider­stand gegen ihn. Was Tol­ki­en noch als halb spie­le­ri­sches, halb ergrif­fe­nes Zitier-Spiel mit den Ele­men­ten euro­päi­scher Mythen­ge­schich­te treibt, wäre den Ama­zon-Autoren heu­te kaum noch ver­ständ­lich zu machen. Der Ursprung von Gut und Böse in Vali­nor wer­den geschil­dert als Kind­heits­epi­so­de, wor­in das gute Kind ein Papier­schiff­chen baut und es auf dem Bach schwim­men lässt, wäh­rend das böse Kind aus Neid dar­auf Stei­ne wirft. Das lässt sich als schö­ne Sym­bo­lik auf­fas­sen, aber der Ver­dacht kommt auf, daß hin­ter der Sym­bo­lik gar nichts liegt, wor­auf es ver­wei­sen wür­de, daß wir es hier also gar nicht mit einer Sym­bo­lik, son­dern einer blo­ßen psy­cho­lo­gi­sie­ren­den Pro­fa­ni­sie­rung zu tun haben, da den heu­ti­gen Autoren ent­spre­chen­de reli­giö­se Hori­zon­te nicht bekannt, ja nicht ein­mal intel­lek­tu­ell zugäng­lich wären. 

Das klingt etwas bit­ter, aber liegt dar­in nun iro­nischwei­se nicht genau die Lek­ti­on, die wir von Fro­do und Sam am Pass von Cirith Ungol ler­nen? Eine Lek­ti­on also, die uns Tol­ki­en selbst gibt, wor­in sei­ne eige­ne Erkennt­nis aus­ge­drückt ist? Voll­zie­hen Hel­den­ge­schich­ten sich in der Wirk­lich­keit nicht tat­säch­lich weni­ger als die strah­len­den Tri­umph­zü­ge, als die sie uns mög­li­cher­wei­se über­lie­fert wer­den, als die mühe­lo­se Geschmei­dig­keit, mit der ein Ara­gorn den seit Urzei­ten ver­wais­ten Thron wie­der ein­nimmt, son­dern indem ganz gewöhn­li­che Men­schen an irgend­ei­nem Punkt muti­ge Ent­schei­dun­gen tref­fen, sich quä­len, viel­leicht zugrun­de­ge­hen und trotz Aus­sichts­lo­sig­keit doch nicht auf­ge­ben? Wird Galadri­el nicht in “Die Rin­ge der Macht” zum ers­ten Mal wirk­lich zu Galadri­el, also zu einem wirk­li­chen, leben­di­gen, indi­vi­du­el­len Wesen?

Radi­kal gefragt: gewin­nen wir nicht auch etwas dabei, uns Jesus nicht als Got­tes­sohn, son­dern als Men­schen vor­zu­stel­len? Gewin­nen wir dabei nicht das an Imma­nenz, was wir an Tran­szen­denz ver­lie­ren? Wenn ich schrei­be, dass das “eigent­lich Elbi­sche” ver­lo­ren­gin­ge, so ist, da Elben ja nur eine Fan­ta­sie­schöp­fung sind, mit dem “eigent­lich Elbi­schen” letzt­lich ein Poten­ti­al, eine Wahr­heit des Men­schen aus­ge­drückt, ein Fan­ta­sie-Mitt­ler, womit der Mensch mit sei­ner eige­nen See­le kom­mu­ni­ziert. Und wenn ich schrei­be, daß sich der Ursprung von Gut und Böse in “Die Rin­ge der Macht” kaum noch als Sym­bol auf­fas­sen lässt, so drückt im Sym­bol sich ledig­lich ein Zusam­men­hang aus, der auf die Anla­ge des Men­schen selbst verweist. 

“But what ends, when the sym­bols shat­ter”? Und umge­kehrt: was wird sicht­bar, wenn es nicht län­ger durch das Sym­bol ver­deckt wird? Die Moder­ne ver­weist den Men­schen uner­bitt­lich auf sich selbst, das macht sie so kalt und karg, das macht sie so mäch­tig und dyna­misch, und das ist es letzt­lich, womit einen die­se künst­le­risch durch­aus gelun­ge­ne Inter­pre­ta­ti­on des Sil­ma­ril­li­ons als Aus­druck unse­res gegen­wär­ti­gen Mensch­seins kon­fron­tiert. Was die Moder­ne dem Men­schen an äuße­rer Ord­nung, an in äuße­re Ord­nung gewi­ckel­te Gebor­gen­heit nimmt, das gibt sie ihm an Kraft und eige­nem Ver­mö­gen, dar­in liegt ihr eige­ner Mythos, auch wenn wir die­sen in der Regel kaum wahr­neh­men, weil wir ganz in ihm exis­tie­ren, ihn als selbst­ver­ständ­lich erach­ten. Der Mensch wird sich selbst als Mensch Sym­bol, trägt den Kos­mos samt sei­nen Göt­tern in sich selbst hin­ein wie ein Hams­ter das Essen in sei­ne Höh­le. So kahl das Außen wird, so leuch­tend und total wird das Innen. Und die­ses Leuch­ten brau­chen wir auch, denn da die Elben nach Vali­nor zurück­ge­kehrt sind, sind wir nun ganz allein in Mit­tel­er­de und ein kal­ter Wind weht stets durch die ver­las­se­nen Rui­nen von Bruch­tal. (Nur eini­ge alte, mis­an­thro­pi­sche Ents sol­len noch in den Wäl­dern leben.)

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Posted on 14. Oktober 202214. Oktober 2022

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