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Styler Ornament

Neubau des Deutschen Reiches 1: Der Sumpf

Styler Ornament

1.

So schwer es heu­te dem wachen Bür­ger zuneh­mend fal­len mag, kei­nen Ekel vor der zeit­ge­nös­si­schen Poli­tik zu emp­fin­den, so schwer fällt ihm gleich­zei­tig das For­mu­lie­ren von Ände­rungs­vor­schlä­gen. Zu sank­ro­sankt die Säu­len des Sys­tems, das für sich das Recht, die Ver­fas­sung, Begrif­fe wie “Ver­nunft” oder “Demo­kra­tie” in Anspruch nimmt, ohne dem damit ver­bun­de­nen Anspruch in der Rea­li­tät oft­mals gerecht wer­den zu kön­nen. Zu gefähr­lich das Sägen an Fun­da­men­ten, das bei deren Ein­sturz doch mut­maß­lich aufs Neue den “ewi­gen Deut­schen” — den Mas­sen­mör­der, den auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter, den Kriegs­trei­ber — zum Vor­schein bräch­te, will man den ein­schlä­gi­gen (und in der Regel vom Staat direkt oder indi­rekt bezahl­ten) Exper­ten Glau­ben schenken.

Und den­noch gibt es viel­leicht ein Moment, wenn der Ekel über die täg­li­che Poli­tik­f­ar­ce über das gewohn­heits­mä­ßig Akzep­ta­ble, Ver­dräng­ba­re, Nor­ma­li­sier­ba­re not­wen­di­ger­wei­se hin­aus­ge­hen muss. Wenn eine chro­nisch unfä­hi­ge Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rin wie Ursu­la von der Ley­en wäh­rend eines noch lau­fen­den Amts­miss­brauchs­ver­fah­rens als Prä­si­den­tin der Euro­päi­schen Uni­on instal­liert wird, mögen Abscheu und gal­li­ges Geläch­ter noch aus­rei­chen. Doch wenn eine rea­le Gefahr wie das Coro­na-Virus tat­säch­lich ein­mal kon­kret die Fra­ge nach Leben und Tod von hun­dert­tau­sen­den Men­schen auf­wirft, wenn das von Poli­tik und Medi­en ver­an­stal­te­te Geham­pel, die Phra­sen­dre­sche­rei, die fort­wäh­ren­de Wider­sprüch­lich­keit nicht ein­mal mehr not­dürf­tig die intel­lek­tu­el­le wie cha­rak­ter­li­che Über­for­de­rung zu ver­de­cken imstan­de sind, über­kommt auch den zyni­schen Beob­ach­ter das Grau­en, unser wort­wört­li­ches Leben einer dilet­tan­ti­schen Clowns­kas­te aus­ge­lie­fert zu sehen.

Die­se Ein­sicht ist nicht neu, und wird den­noch — im Zuge einer ver­in­ner­lich­ten “Alter­na­tiv­lo­sig­keit” des Bestehen­den — zumeist als Pole­mik for­mu­liert. Der Wut­bür­ger lässt am Stamm­tisch (heu­te oft vir­tu­ell) sei­nen Frust ab, und das erlau­ben ihm die Mäch­ti­gen auch, denn es ermög­licht ihm einen emo­tio­na­len Aus­gleich, der ihn zumin­dest so weit beru­higt, um auf ernst­haf­te Infra­ge­stel­lung oder Oppo­si­ti­on zu ver­zich­ten. Doch ver­stellt die Pole­mik, die in unse­rer Gesell­schaft zuneh­mend eine ähn­li­che Rou­ti­ne ent­wi­ckelt wie der Dilet­tan­tis­mus der Poli­tik, die Per­spek­ti­ve auf sub­stan­zi­el­le Kri­tik. Wo die Kri­tik am Betrieb selbst zum Betrieb dege­ne­riert, ist das fina­le Reich des Gere­des vollendet. 

Wird der Befund aller­dings nicht bloß pole­misch, son­dern als ernst­haf­te The­se getrof­fen, schlie­ßen sich ihm eine Rei­he hoch­in­ter­es­san­ter Fra­gen an: Wie­so eigent­lich wer­den wir nicht von Fähi­gen, son­dern von Unfä­hi­gen regiert? Was sind die Mecha­nis­men, die im Hin­ter­grund wir­ken, um die­se Aus­wahl her­vor­zu­brin­gen? Ist das Sys­tem, das unser Land zur Gene­se poli­ti­scher Ent­schei­dungs­trä­ger pflegt, viel­leicht ein­fach falsch, undurch­dacht, reform­be­dürf­tig? Wenn unser aktu­el­les Sys­tem dys­funk­tio­nal ist, wor­in besteht die­se Dys­funk­tio­na­li­tät und wie könn­te sie über­wun­den werden?

2.

In die­ser grü­beln­den Stim­mung also qua­ran­tä­ni­siert auf dem Bal­kon in der früh­lings­mil­den Luft sit­zend [1] fällt mir bei der Suche nach Lek­tü­re Oswald Speng­lers Auf­satz “Vom Neu­bau des Deut­schen Rei­ches” aus dem Jahr 1924 in die Hän­de. Die poli­ti­schen Schrif­ten der als “Kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on” Sum­mier­ten sind aus heu­ti­ger Sicht nur reflek­tiert zu genie­ßen, denn ihnen wohnt ein star­ker Zeit­cha­rak­ter inne. Ers­tens sind sie von mas­si­ver Frus­tra­ti­on über die deut­sche Nie­der­la­ge und die in deren Zuge instal­lier­te Wei­ma­rer Repu­blik erfüllt, was ihre Wahr­neh­mung ein­sei­tig macht. Zwei­tens schrei­ben sie aus der Per­spek­ti­ve der noch wäh­rend der Kai­ser­zeit Sozia­li­sier­ten her­aus, und jen­seits der Fra­ge, ob die­se Affir­ma­ti­on der alten Ord­nung denn berech­tigt wäre oder nicht, kön­nen wir Heu­ti­gen fest­stel­len, daß die­se Vor­kriegs­ge­sell­schaft mitt­ler­wei­le nicht mehr exis­tiert. Bezieht Speng­ler sich in “Preu­ßen­tum und Sozia­lis­mus” auf den preu­ßi­schen Mili­ta­ris­mus, so beschreibt er dabei eine damals noch leben­di­ge Tra­di­ti­on und Kul­tur, die tat­säch­lich auf eine den Staat kon­sti­tu­ie­ren­de Wei­se hät­te genutzt wer­den kön­nen. (Und 9 Jah­re spä­ter durch die Natio­nal­so­zia­lis­ten auch genutzt und “ver­nutzt” wur­de.) Heu­te sind davon nur noch Erin­ne­run­gen übrig, deren Wirk­lich­keits­ge­halt nicht wesent­lich höher als der von Mit­tel­er­de oder Hog­warts lie­gen dürf­te, ein all­zu direk­ter Bezug, ein unre­flek­tier­tes Ver­sen­ken dar­in dem­entspre­chend mehr den Cha­rak­ter roman­ti­schen Eska­pis­mus’ denn poli­ti­scher Kri­tik trägt. 

Dabei ist es gera­de die poli­ti­sche Roman­tik, die Speng­ler, der als Nietz­sche-Schü­ler stets zwi­schen Idea­len und Tat­sa­chen trennt, zeit­le­bens bekämpft hat: “Ich gab [in “Preu­ßen­tum und Sozia­lis­mus” und “Neu­bau des deut­schen Rei­ches”] kei­ne all­ge­mei­ne, nebel­haf­te Theo­rie, kein ideo­lo­gi­sches Wunsch­bild, über das Dilet­tan­ten in Ver­zü­ckung gera­ten könn­ten, kein “opti­mis­ti­sches” Pro­gramm, durch das Pro­ble­me vor­nehm igno­riert und bei­sei­te gescho­ben wer­den, son­dern ein Bild der Tat­sa­chen, und wei­ter nichts. Es war hart, uner­bitt­lich, grau­sam, aber es kommt nur dar­auf an, ob es rich­tig ist oder nicht. Weil es das war, erhob sich das Geschrei über Pes­si­mis­mus: ich stell­te Tat­sa­chen fest, wofür es den ande­ren an Mut, viel­leicht auch an Ehr­lich­keit fehl­te. Daß sie sehr ernst sind, ist unser Schick­sal, nicht mei­ne Art, es zu sehen.” (Vor­wort zu den “Poli­ti­schen Schrif­ten”, 1932) 

Speng­ler zu lesen muss also in die­sem Sinn immer auch bedeu­ten: Speng­ler zu über­win­den, sei­ne Tex­te nicht als meta­phy­si­sches Lehr­ge­bäu­de, nicht als objek­ti­ve Wahr­heit, deren Ziel ledig­lich die pas­si­ve Affir­ma­ti­on sein kann, auf­zu­fas­sen, son­dern als Hal­tung begrei­fen zu ler­nen, um sich der Gegen­wart aktiv und illu­si­ons­los zu wid­men. “Wer auf der Höhe sei­ner Zeit steht, muß­te 1830 Demo­krat sein und 1930 das Gegen­teil davon, wie er 1730 Abso­lu­tist sein muss­te und 1830 nicht.”, schreibt Speng­ler, und zeigt damit, daß er selbst im Gegen­satz zu vie­len sei­ner Kri­ti­ker und auch Anhän­ger den Zeit­cha­rak­ter sei­ner poli­ti­schen Schrif­ten durch­aus reflektierte. 

Des­sen ein­ge­denk sind auf der ande­ren Sei­te die Köp­fe der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on, die­se Ver­tei­di­ger einer alten, mitt­ler­wei­le unter­ge­gan­ge­nen Ord­nung, bei wei­tem nicht so beschränkt, wie die heu­te zum aka­de­mi­schen Gemein­gut zäh­len­de Pole­mik ihrer Geg­ner es ger­ne glau­ben machen will. Gera­de dadurch, daß ihnen bio­gra­phisch der Ver­gleich von Mon­ar­chie und Demo­kra­tie mög­lich ist, neh­men sie die Schwä­chen des Wei­ma­rer Modells mit frap­pan­ter Schär­fe wahr, und tre­ten in den 20ern mit sei­nen Ver­tei­di­gern in einen erbit­ter­ten Wett­streit der Ideen. Die gesamt­kul­tu­rell noch weit­ge­hend unver­mit­tel­te Neu­heit der Demo­kra­tie erlaubt ihren Kri­ti­kern dabei eine radi­ka­le Grund­satz­kri­tik, wie sie heu­te, sei es aus genera­tio­nen­lan­ger Gewöh­nung oder aus Scheu, nicht mehr gepflegt wird. Damit schießt sie teil­wei­se weit über das Ziel hin­aus. Speng­lers Annah­me, daß die Demo­kra­tie welt­weit, nicht nur in Deutsch­land, son­dern auch in den USA, Groß­bri­tan­ni­en oder Frank­reich, in den letz­ten Todes­krämp­fen läge, wirkt aus heu­ti­ger Sicht obskur — im Rück­blick ist es statt­des­sen die Demo­kra­tie, die sich im Kampf der Sys­te­me des 20. Jahr­hun­derts als lang­fris­tig lebens­fä­hig und mora­lisch human erwie­sen hat. Doch eben­so­we­nig wie die Sozia­lis­ten sich vom Aus­blei­ben des jahr­zehn­te­lang pathe­tisch pro­gnos­ti­zier­ten, bal­di­gen Unter­gangs des Kapi­ta­lis­mus ent­mu­ti­gen lies­sen, statt­des­sen in der Nach­kriegs­zeit ihre Theo­rie mit gro­ßem Erfolg in demo­kra­ti­schem Kon­text erneu­er­ten, so kann viel­leicht auch aus kon­ser­va­ti­ver Sicht der Kes­sel der Wei­ma­rer Repu­blik als Ideen­stein­bruch betrach­tet wer­den, um dar­aus ein erneu­er­tes, kri­ti­sches Bewußt­sein auf der Höhe der Zeit zu ent­wi­ckeln. “Demo­kra­tie ist die schlech­tes­te Regie­rungs­form, mit Aus­nah­me aller ande­ren” — das mag in der Tat eine Leh­re des 20. Jahr­hun­derts sein, die Speng­ler noch ver­schlos­sen war. Den­noch trägt die­ser Satz auch das Ein­ge­ständ­nis von Schwä­chen mit sich, deren Reflek­ti­on auch der heu­ti­gen Gesell­schaft gut zu Gesicht steht, da Fehl­ent­wick­lun­gen, Pro­ble­me, gesell­schaft­li­che Span­nun­gen sich unüber­seh­bar mehren. 

3.

“Der Sumpf” über­schreibt Oswald Speng­ler das ers­te Kapi­tel, und bemer­kens­wert ist, wie aktu­ell sei­ne Schil­de­rung dama­li­ger Miß­stän­de klingt.

“Wäh­rend man in der gan­zen Welt dar­an ging […], die mar­xis­ti­sche Mode der letz­ten Kriegs­jah­re zurück­zu­drän­gen, die nichts war als der Ver­such, gan­ze Völ­ker und Staa­ten zu Objek­ten der Aus­beu­tung durch eine ein­zel­ne Klas­se zu machen, begann die Aus­beu­tung Deutsch­lands durch die Gewerk­schaft sei­ner selbst­er­nann­ten Befrei­er. Tau­sen­de von Pos­ten wur­den geschaf­fen, bis in die Dör­fer hin­ein, Minis­te­ri­en gegrün­det, Aus­schüs­se nie­der­ge­setzt. […] Minis­ter­pen­sio­nen blüh­ten zu Hun­der­ten in der Mai­en­son­ne des repu­bli­ka­ni­schen Deutsch­land und hin­ter dem Minis­ter­tanz erblick­te man die offe­nen Mäu­ler und gie­ri­gen Augen von tau­send Par­tei- und Gewerk­schafts­se­kre­tä­ren, Par­tei­jour­na­lis­ten, Vet­tern, Geschäfts­freun­den, die noch nicht dar­an gekom­men waren. […] Die Minis­ter­sit­ze wur­den bei den ewig wech­seln­den Koali­tio­nen als Beu­te auf­ge­teilt, ohne Rück­sicht auf Eig­nung, Arbeits­wil­len oder Arbeits­kraft. Die gro­ßen Ämter zer­fie­len, ohne sach­ver­stän­di­ge Lei­tung, sich selbst über­las­sen, über­füllt, durch Par­tei­krea­tu­ren verseucht.”

Speng­lers Feind­bild sind dabei die Par­tei­en selbst. Er fasst sie als ziel­be­wuß­te, orga­ni­sier­te Gemein­schaf­ten auf, denen Wah­len und Wahl­er­fol­ge nur stra­te­gisch die­nen, um die dadurch gewon­ne­ne Macht zur Ver­sor­gung der eige­nen Mit­glie­der zu nut­zen. Sie kapern den Staat, schrei­ben sich die Geset­ze in ihrem Sin­ne zurecht, und bedie­nen sich dann ego­is­tisch an den Res­sour­cen des Lan­des, wäh­rend über­ge­ord­ne­te Zie­le, das Wohl des Lan­des an sich, kei­ner­lei Rol­le mehr spielen. 

“In ihren Sat­zun­gen ist nicht von Volk die Rede, son­dern von Par­tei­en; nicht von Macht, von Ehre und Grö­ße, son­dern von Par­tei­en. Wir haben kein Vater­land mehr, son­dern Par­tei­en; kei­ne Rech­te, son­dern Par­tei­en; kein Ziel, kei­ne Zukunft mehr, son­dern Parteien.”

Auf die­se Wei­se betrach­tet Speng­ler also den Par­la­men­ta­ris­mus der Wei­ma­rer Repu­blik. Das mag in man­cher Hin­sicht pole­misch über­zo­gen sein, aber bringt den­noch einen häss­li­chen Aspekt zum Vor­schein, der damals wie heu­te die Ide­al­kon­struk­tio­nen poli­ti­schen Gesche­hens durch­wu­chert: den des kon­kre­ten, per­sön­li­chen Vorteils. 

Doch wie lässt sich die Gene­se sol­cher Kor­rum­pie­rung beschrei­ben? Wie wer­den Par­tei­en, Poli­ti­ker, Par­la­men­te das, was sie sind? Es ist inter­es­san­ter­wei­se gera­de kein dezi­diert rech­ter Ansatz, der hier bei der Beschrei­bung des Par­tei­en­ver­hal­tens wei­ter­hilft, son­dern die Public Choice Theo­rie des libe­ra­len Theo­re­ti­kers und Nobel­preis­trä­gers James Buchanan. Aus­ge­hend von der Prä­mis­se, daß Men­schen Ent­schei­dun­gen im Sin­ne je-eige­ner, indi­vi­du­el­ler Nut­zens­ma­xi­mie­rung tref­fen, kommt er zu dem ernüch­tern­den Ergeb­nis, daß das Han­deln demo­kra­ti­scher Poli­ti­ker nicht not­wen­di­ger­wei­se an rich­ti­gen oder sinn­vol­len Ent­schei­dun­gen aus­ge­rich­tet sein muss, son­dern — an ihrer Wiederwahl. 
In der Kon­se­quenz von Buchanans Theo­rie, gesell­schaft­li­ches Han­deln und damit auch Wah­len als Tausch­be­zie­hung auf­zu­fas­sen, führt das zu einer popu­lis­ti­schen Kli­en­tel­po­li­tik, bei der der Staat fort­wäh­rend Geschen­ke und Zuwen­dun­gen ver­tei­len muss, um sich dabei zum Scha­den des Gemein­we­sens immer wei­ter auf­zu­blä­hen. [2]

An die­sem vor­her­seh­bar staats­kri­ti­schen und rela­tiv bie­de­ren Punkt enden Buchanans Über­le­gun­gen lei­der bereits wie­der. Doch neh­men wir sei­nen Ansatz und kom­bi­nie­ren ihn mit Speng­lers Par­tei­en­kri­tik, sto­ßen wir im Sin­ne der Public Choice Theo­rie auf eine zwei­te, wirk­sa­me Bezie­hung, die bis heu­te weit­ge­hend unre­flek­tiert geblie­ben ist: die zwi­schen Poli­ti­ker und Partei. 

4.

Ver­set­zen wir uns also in einen ambi­tio­nier­ten Jung­po­li­ti­ker hin­ein. Er mag durch­aus aus idea­lis­ti­schen Grün­den in die Par­tei sei­ner Wahl ein­ge­tre­ten sein, moti­viert vom Wunsch, sein Land zum Bes­se­ren zu ver­än­dern. Die Par­tei­en freu­en sich immer über neue Mit­glie­der, er wird sicher­lich will­kom­men gehei­ßen, fin­det vor Ort eine Grup­pe von welt­an­schau­lich Gleich­ge­sinn­ten, und sofern er auch ent­spre­chen­de Fähig­kei­ten, sei es orga­ni­sa­to­ri­scher, red­ne­ri­scher oder poli­ti­scher Natur, erken­nen lässt, wird er sicher­lich zunächst ein­mal auch freund­li­che För­de­rung erfahren. 

Doch an dem Punkt, an dem er nicht nur die Pla­ka­te ande­rer auf­hän­gen will, son­dern selbst nach oben strebt, sei es als Wahl­kreis­kan­di­dat oder regio­na­ler Vor­sit­zen­der, kippt die woh­li­ge Par­tei­en­har­mo­nie in ein außer­or­dent­lich har­tes Kon­kur­renz- und Wett­be­werbs­ver­hält­nis, denn natür­lich sind die ent­spre­chen­den Pos­ten bereits besetzt, und wer­den in der Regel nicht frei­wil­lig geräumt. Da aber die Par­tei­en auch intern demo­kra­ti­schen Prin­zi­pi­en fol­gen, wer­den die begehr­ten Pos­ten regel­mäs­sig inner­par­tei­lich zur Wahl gestellt. Im ide­al­de­mo­kra­ti­schen Sin­ne nun stellt unser Jung­po­li­ti­ker sich ein­fach wacker zur Wahl, und über­zeugt mit einer lei­den­schaft­li­chen Rede, mit Inhalt, Aus­strah­lung und Beherzt­heit sei­ne Par­tei­ge­nos­sen, die nun unwill­kür­lich mit­ge­ris­sen begeis­tert applau­die­rend auf­sprin­gen, wäh­rend der intri­gan­te Amts­in­ha­ber mit ver­stei­ner­tem Gesicht am Rand sitzt. Ja, wir alle ken­nen die Filme.

Nur: so läuft es natür­lich nicht. “Freund, Feind, Par­tei­freund” — Par­tei­en sind tra­di­tio­nell abgrün­di­ge, dar­wi­nis­ti­sche Hai­fisch­be­cken, bestehend aus einer Unzahl ver­schie­dens­ter Grüpp­chen, die regio­nal, ideo­lo­gisch oder durch cha­ris­ma­ti­sche Ein­zel­cha­rak­te­re geprägt sein kön­nen; aus Netz­wer­ken, Ver­bin­dun­gen, aus Sym­pa­thie und Anti­pa­thie und im Kreis der ambi­tio­nier­ten Alpha­tie­re aus rück­sichts­lo­sem Ehr­geiz, eige­nen Kar­rieream­bi­tio­nen und hoch­gra­dig stra­te­gi­schem Kal­kül. Unser Jung­po­li­ti­ker wird letzt­lich auf eben­so müh­sa­me Wei­se wie sei­ne Kon­kur­ren­ten und Vor­gän­ger ver­su­chen müs­sen, bereits vor der Wahl Unter­stüt­zer, För­de­rer, inner­par­tei­lich ein­fluß­rei­che Grup­pen und Netz­wer­ke auf­zu­spü­ren und für sich zu gewin­nen, um sich das auf­zu­bau­en, was gemein­hin “Haus­macht” genannt wird. Einen quan­ti­ta­tiv maß­geb­li­chen Unter­stüt­zer­kreis also, der ihm in den ent­schei­den­den inter­nen Kampf­ab­stim­mun­gen die Mehr­heit ver­schafft, und auch lang­fris­tig, wenn also nach dem Ende einer Wahl­pe­ri­ode erneu­te Abstim­mun­gen anste­hen, und viel­leicht schon das nächs­te, jun­ge Talent nach vor­ne drängt, treu hin­ter ihm steht. 

“Er will Kreis­vor­sit­zen­der wer­den, zieht Strip­pen, geht durch Stahl­bä­der – anders kann man die kom­mu­nal­po­li­ti­schen Gemet­zel in der Tie­fe des Müns­ter­lan­des, wie Brö­cker sie schil­dert, nicht bezeich­nen. Es gelingt Spahn, über­all Getreue zu plat­zie­ren, die ihm bis heu­te hel­fen. 2002 zieht er mit 48,2 Pro­zent als jüngs­ter direkt gewähl­ter Abge­ord­ne­ter in den Bun­des­tag ein.” — so heißt es bei­spiels­wei­se in einer Rezen­si­on zu Jens Spahns Bio­gra­phie, und so liest man es häu­fig. Das Fun­da­ment einer Poli­ti­ker­kar­rie­re bil­den kei­ne Hol­ly­wood-Momen­te, son­dern anstren­gen­de und mora­lisch oft durch­aus grenz­wer­ti­ge Netzwerkarbeit. 

Für James Buchanan steht der Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­te in einem direk­ten Abhän­gig­keits- und Nut­zens­ver­hält­nis zum Wäh­ler, zu des­sen Inter­es­sen und Wün­schen, wodurch die Gefahr besteht, den oft kurz­sich­ti­gen, ego­is­ti­schen Wün­schen des Wäh­lers die eigent­lich ver­nünf­ti­gen Ent­schei­dun­gen zu opfern. Nun aber wird sicht­bar, daß ein ver­gleich­ba­res Ver­hält­nis auch im inner­par­tei­li­chen Rah­men besteht. Denn wie gewinnt der auf­stre­ben­de Poli­ti­ker all die­se inter­nen Grüpp­chen, die oft mit­ein­an­der in einem riva­li­sie­ren­den Ver­hält­nis ste­hen, wie über­zeugt er die Basis, wie umgarnt er die Füh­rungs­fi­gu­ren, damit sie ihn nicht als Bedro­hung der eige­nen Ambi­tio­nen wahr­neh­men? Wie hält er die­sen Unter­stüt­zer­kreis über Jah­re, viel­leicht Jahr­zehn­te in sta­bi­ler Treue zu ihm, um die stets vor­han­de­nen Her­aus­for­de­rer auf sei­nen attrak­ti­ven Pos­ten abzu­weh­ren? Er muss ihnen allen etwas bieten.

Das kann durch­aus auch bloß Cha­ris­ma, Auf­merk­sam­keit, Teil­ha­be, oder ehr­li­che Inter­es­sens­re­prä­sen­ta­ti­on sein. Wir wol­len nicht zynisch wer­den. Und doch liegt die Ver­mu­tung nahe, daß auf­grund der demo­kra­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on der Par­tei­en auch hier in der Pra­xis ger­ne der kor­rum­pier­te, ver­ant­wor­tungs­lo­se Weg beschrit­ten wird, wie ihn die Public Choice Theo­rie beschreibt. Das bedeu­tet, daß die Par­tei­eli­ten in einem ver­gleich­ba­ren Nut­zens- und Abhän­gig­keits­ver­hält­nis zu den rest­li­chen Par­tei­mit­glie­dern ste­hen wie der Poli­ti­ker zum Wäh­ler, und des­halb im Sin­ne der eige­nen Nut­zens­ma­xi­mie­rung Ent­schei­dun­gen tref­fen, die pri­mär vom eige­nen, inner­par­tei­li­chen Macht­er­halt moti­viert sind. Daß Minis­ter­pos­ten nicht nach Kom­pe­tenz, son­dern nach inner­par­tei­li­chem Rück­halt, inner­par­tei­li­chen Macht­ver­hält­nis­sen stra­te­gisch ver­teilt wer­den, daß eigent­lich bereits als falsch reflek­tier­te Ent­schei­dun­gen den­noch getrof­fen wer­den, weil die Mehr­heits­ver­hält­nis­se in der Par­tei ungüns­tig sind. Daß nicht zuletzt auch Ver­sor­gungs­struk­tu­ren ent­ste­hen, um mit­tels gut­do­tier­ter Pos­ten in Stif­tun­gen, Ver­ei­nen, Gewerk­schaf­ten, Medi­en, ange­schlos­se­nen Unter­neh­men die Treue der eige­nen Anhän­ger­schaft zu sichern.

Außer­dem erzeugt der Wahl­mo­dus in sei­ner dar­wi­nis­ti­schen Selek­ti­ons­dy­na­mik struk­tur­be­dingt unun­ter­bro­chen Aus­ge­son­der­te. In der öffent­li­chen Wahl unter­le­ge­ne Spit­zen­kan­di­da­ten, die fal­len­ge­las­sen wer­den, Opfer poli­ti­scher Skan­da­le, deren öffent­li­cher Leu­mund zer­stört ist, oder auch ver­dien­te, lang­jäh­ri­ge Spit­zen­po­li­ti­ker, die irgend­wann doch in einer Kampf­ab­stim­mung dem auf­stre­ben­den Jung­spund unter­lie­gen — in allen die­sen Fäl­len ver­fü­gen die Aus­ge­son­der­ten über einen beträcht­li­chen Rück­halt in der Par­tei, wes­halb es not­wen­dig wird, ihnen mög­lichst gesichts­wah­ren­de Abstell­glei­se zu schaf­fen, damit kei­ne Unru­hen der düpier­ten Anhän­ger, soge­nann­te “Palast­re­vol­ten” ent­ste­hen. [3]

Kurz­um: in der Über­tra­gung der Public Choice Theo­rie auf inner­par­tei­li­che Vor­gän­ge wird genau die Eigen­dy­na­mik sicht­bar, die Speng­ler in “Neu­bau des Deut­schen Rei­ches” zor­nig beschreibt, und die wir auch heu­te im poli­ti­schen All­tag fort­wäh­rend als von außen absurd und wider­wär­tig wir­ken­des Schau­spiel erleben. 

5.

Jedoch ist Speng­lers Text nicht bloß Abrech­nung, son­dern der Ver­such, der fal­schen poli­ti­schen Struk­tur eine rich­ti­ge gegen­über­zu­stel­len. Dabei inter­es­sie­ren ihn weder die hei­li­gen Käl­ber demo­kra­ti­scher Prin­zi­pi­en noch abs­trak­te Rech­te, es zäh­len allei­ne die Ergeb­nis­se: “ ‘Rech­te des Vol­kes’ sind lächer­lich, solan­ge man dar­un­ter die Frei­heit ver­steht, sich von Par­tei­en ver­der­ben zu las­sen. Es gibt nur ein Volks­recht: das auf die Leis­tun­gen derer, wel­che regie­ren. Wenn in der gro­ßen Wen­de vom 18. zum 19. Jahr­hun­dert die ‘Fürs­ten­frei­heit’ durch Völ­ker­frei­heit ersetzt wer­den soll­te, so konn­te ein Sinn nur dar­in lie­gen, wenn die Aus­le­se der Regie­ren­den bes­ser, deren Metho­den erfolg­rei­cher, ihre Leis­tun­gen grö­ßer wurden.”

“Ein Volk hat nur ein Recht: gut regiert zu wer­den, und da es als Mas­se ohne Erfah­rung und Über­blick das nicht selbst über­neh­men kann, so müs­sen es Ein­zel­ne tun und die­se müs­sen rich­tig aus­ge­sucht und ange­setzt wer­den. Das ist das gan­ze Geheim­nis aller gut regier­ten Staa­ten und alle mit Über­le­gung aus­ge­ar­bei­te­ten Ver­fas­sun­gen kön­nen nur sichern — oder ver­hin­dern -, was in pri­mi­ti­ven Zei­ten mit rascher Anwen­dung von Gewalt ganz von selbst geschieht.”

Theo­re­tisch aus­ge­drückt ist Speng­ler Anhän­ger des “posi­ti­ven Rechts”: dem Men­schen kom­men kei­ne “unver­äu­ßer­li­chen” oder “natür­li­chen” Rech­te zu, er besitzt ledig­lich Anspruch auf das, was er aus eige­nen Fähig­kei­ten her­aus zu erschaf­fen ver­mag. Und da ein Volk sich nicht unver­mit­telt, also ohne orga­ni­sa­to­ri­sche Struk­tur regie­ren kann, ist das, was man als “Kul­tur”, als “Poli­tik” oder auch “Lebens­qua­li­tät” bezeich­nen könn­te, pri­mär ein Resul­tat der eige­nen Fähig­keit zur Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on, zur Aus­le­se und Aus­bil­dung einer fähi­gen Führungsschicht.

Demo­kra­tie hat kei­nen Wert an sich, sagt Speng­ler. Die­se Regie­rungs­me­tho­de macht nur dann Sinn, wenn die dar­aus resul­tie­ren­de Poli­tik der Leis­tung ande­rer Sys­te­me über­le­gen ist. Doch wie gese­hen weist Demo­kra­tie sys­te­mi­sche Schwä­chen auf: ers­tens erge­ben sich aus der Bezie­hung demo­kra­ti­scher Wah­len kor­rum­pie­ren­de Abhän­gig­keits­ver­hält­nis­se, sowohl im Ver­hält­nis von Wäh­ler zu Poli­ti­ker, als auch par­tei­in­tern. Zwei­tens, und dar­auf wird spä­ter noch geson­dert ein­zu­ge­hen sein, ist auch frag­lich, ob die inner­par­tei­li­che Orga­ni­sa­ti­on unse­rer Par­tei­en tat­säch­lich die fähigs­ten Leu­te in Füh­rungs­po­si­tio­nen bringt, bzw. umge­kehrt aus­ge­drückt: womög­lich sind die Fähig­kei­ten, die für den inner­par­tei­li­chen Auf­stieg benö­tigt wer­den, nicht unbe­dingt deckungs­gleich mit den Fähig­kei­ten, die es für ver­ant­wor­tungs­vol­les, klu­ges Regie­ren braucht.

Es sind letzt­lich drei zen­tra­le Aspek­te, um die Speng­lers Den­ken kreist, um in Über­win­dung eines kor­rum­pie­ren­den Par­tei­en­den­kens den Neu­bau des Deut­schen Rei­ches zu leisten:

a) Gemeinwohlorientierung
b) Erzie­hung und Auswahl
c) Leis­tung und Rechenschaft

Wir wer­den sie in den fol­gen­den Tei­len behan­deln. Es lebe das Hei­li­ge Deutschland. 

Fußnoten:

[1] Der Text hat eine län­ge­re Ent­wick­lung hin­ter sich, da sich anfangs vie­le grund­le­gen­de Fra­gen auf­ta­ten, die von Speng­ler aus nicht beant­wor­tet wer­den konn­ten. Erst im Som­mer dann mach­te mei­ne Bekannt­schaft mit der Public Choice Theo­rie das Ver­hal­ten der Par­tei­en erklär­bar, wodurch ich den Text fort­set­zen konnte.

[2] Popu­lis­ti­sche, sinn­lo­se Wahl­ge­schen­ke haben sich frag­los als prak­ti­ka­bles, poli­ti­sches Mit­tel erwie­sen, um als Köder im Wahl­kampf auf die anvi­sier­ten Zustim­mungs­wer­te zu kom­men. Als Bei­spiel sei hier die Sen­kung des Ren­ten­al­ters von 65 auf 63 Jah­re genannt, wie sie von der Koali­ti­on aus CDU und SPD ent­ge­gen aller unüber­seh­ba­ren demo­gra­phi­schen Pro­ble­me als voll­kom­men ver­ant­wor­tungs­lo­ses Wahl­ge­schenk beschlos­sen wur­de. Auch kra­ken­haf­te Staats­auf­bläh­nung infol­ge einer aus­ufern­den Kli­en­tel-För­de­rungs­po­li­tik, die immer mehr zu einem qua­si-tota­li­tä­ren, gut­mei­nen­den Pater­na­lis­mus ten­diert, ist zwei­fel­los beob­acht­bar, und treibt durch wuchern­de, büro­kra­ti­sche Struk­tu­ren und wach­sen­de Abga­ben dem Libe­ra­len den Angst­schweiß auf die arbeit­sa­me Stirn.
Dar­über­hin­aus kann Buchanans Ansatz noch wei­te­re inter­es­san­te Fra­ge­stel­lun­gen sicht­bar machen, die ich aller­dings hier in die Fuß­no­ten aus­la­ge­re, um die argu­men­ta­ti­ve Strin­genz des Tex­tes zu erhalten.
1: In Buchanans Modell fin­den wir eine völ­lig trans­pa­ren­te 1:1‑Situation vor: der Poli­ti­ker agiert, der Wäh­ler wer­tet ent­spre­chend. Doch was wäre, wenn die Poli­tik die ihr vom Sou­ve­rän ver­lie­he­ne Macht nut­zen wür­de, um den Infor­ma­ti­ons­fluß zu mani­pu­lie­ren? Die­se Metho­de wur­de bereits in der Ära Schrö­der bei den Arbeits­lo­sen­sta­tis­ti­ken üblich, die damals, als Deutsch­land als “kran­ker Mann Euro­pas” galt, jeden Monat, von ban­gen Bli­cken beglei­tet über die Bild­schir­me flim­mer­ten. Ist der Arbeits­lo­se über 58, macht er gera­de eine Wei­ter­bil­dung, wur­de er zu einer Maß­nah­me ver­don­nert, oder ist er krank — in allen Fäl­len wird er aus der Sta­tis­tik gestri­chen, obwohl er de fac­to arbeits­los ist und Sozi­al­leis­tun­gen bezieht. Gestri­chen wird auch, wer auf­grund feh­len­der Sprach­kennt­nis­se auf dem Arbeits­markt unver­mit­tel­bar ist — dies wur­de nach 2015 bei hun­dert­tau­sen­den Flücht­lin­gen so prak­ti­ziert, um den mas­si­ven Anstieg von asyl­be­ding­ter Arbeits­lo­sig­keit unsicht­bar zu machen.
2: Und ein wei­te­res Fra­ge­zei­chen im Ver­hält­nis von Poli­tik und Wäh­ler: was wäre, wenn nicht die Poli­tik selbst mani­pu­liert, son­dern die Pres­se ein Eigen­in­ter­es­se ent­wi­ckelt? Die Pres­se als ent­schei­den­der Ver­mitt­ler, als aus­schließ­li­ches Dis­kurs­me­di­um moder­ner Mas­sen­de­mo­kra­tien taucht im For­ma­lis­mus der Public Choice Theo­rie über­haupt nicht auf, obwohl in der Rea­li­tät das indi­vi­du­el­le Ent­schei­dungs­ver­fah­ren selbst­re­dend von der zur Ver­fü­gung ste­hen­den Infor­ma­ti­on abhängt. Tra­di­tio­nel­ler­wei­se spricht man frei­en Medi­en ein regie­rungs­kri­ti­sches, auf­klä­re­ri­sches, oppo­si­tio­nel­les Inter­es­se zu, man könn­te spiel­theo­re­tisch über­dies davon aus­ge­hen, daß sie auch ein kom­mer­zi­el­les Inter­es­se an der Auf­de­ckung von Skan­da­len und Pro­ble­men haben müss­ten. Doch was wäre, wenn sie die Sei­ten wech­seln würden?
Von Buchanan aus­ge­hend ist näm­lich auch eine gedreh­te Kon­stel­la­ti­on mög­lich: wenn die Poli­tik “rich­ti­ge” Ent­schei­dun­gen zu tref­fen wünscht, die aller­dings auf­grund dem kurz­sich­ti­gen Ego­is­mus der Wäh­ler auf Ableh­nung sto­ßen. In die­sem Fall kann sich ein Eli­ten-Bünd­nis aus Poli­tik und Medi­en bil­den, um durch das Vor­ent­hal­ten oder Ver­zer­ren von Infor­ma­tio­nen eine aus Sicht der Eli­ten irra­tio­na­le, ego­is­ti­sche oder kurz­sich­ti­ge Reak­ti­on des Wäh­lers zu vermeiden.
Wit­zi­ger­wei­se befin­det die­se eigen­ar­ti­ge Kon­stel­la­ti­on sich mitt­ler­wei­le außer­or­dent­lich nahe an der Rea­li­tät west­li­cher Gesell­schaf­ten. Auch die im Sin­ne des Markt-Sze­na­ri­os erwart­ba­re Reak­ti­on, daß näm­lich die Ver­kaufs­zah­len der der­ge­stalt ihre vor­ma­li­ge Rol­le auf­ge­ben­den Medi­en mas­siv ein­bre­chen, weil ein Inter­es­sens-Bruch zwi­schen Pres­se und Leser ent­steht, ist beob­acht­bar. Der Markt kor­ri­giert indes nichts, viel­mehr bewer­ben die klam­men Medi­en­häu­ser sich zuneh­mend um staat­li­che Unter­stüt­zung, die ihnen auf­grund ihres aus Sicht des Staa­tes vor­bild­li­chen Enga­ge­ments auch ger­ne gewährt wird. (Wobei die­ses Sze­na­rio mit­tels Buchanans Public Choice Theo­rie durch­aus model­liert wer­den könn­te, da er im Gegen­satz zu manch ande­ren libe­ra­len Theo­re­ti­kern ethi­sche oder altru­is­ti­sche Moti­ve durch­aus auch als sub­jek­tiv gesuch­ten “Nut­zen” anzu­er­ken­nen imstan­de ist. Den­noch müss­ten dafür die Jour­na­lis­ten als eigen­stän­di­ge Akteu­re ein­ge­führt wer­den. Fas­zi­nie­ren­de Ange­le­gen­heit, aber lei­der weit ent­fernt von unse­rem Thema.) 

[3] Inter­es­sant wäre noch die Fra­ge, wie die Über­la­ge­rung von öffent­li­chen und inner­par­tei­li­chen Abhän­gig­keits­ver­hält­nis­sen sich kon­sti­tu­iert. Im Zeit­al­ter der Mas­sen­me­di­en ist es zwei­fel­los weni­ger der per­sön­li­che Kon­takt vor Ort, der den Aus­schlag für eine Wahl­ent­schei­dung gibt, als viel­mehr die in den über­re­gio­na­len Medi­en prä­sen­ten Spit­zen­po­li­ti­ker, die das Gesicht und den Ruf der Par­tei prä­gen. Das Wahl­ver­hal­ten ist dar­über­hin­aus lang­fris­tig rela­tiv sta­bil und kal­ku­lier­bar, die Anhän­ger­schaft des Wäh­lers, die oft eine lebens­lan­ge ist, gilt in der Regel einer Par­tei, nicht dem jewei­li­gen Kan­di­da­ten; es müs­sen mas­si­ve Kri­sen ein­tre­ten, damit es hier zu einer Ver­än­de­rung kommt. Die Ambi­ti­on ehr­gei­zi­ger Jung­po­li­ti­ker gilt in die­sem Sin­ne weni­ger der Bevöl­ke­rung eines Wahl­krei­ses, die es zu über­zeu­gen gilt, nach 40 Jah­ren CDU end­lich SPD zu wäh­len. Denn ers­tens errei­chen loka­le Wahl­ver­an­stal­tung ver­hält­nis­mä­ßig wenig Leu­te, zwei­tens kommt er über­haupt erst mit der Öffent­licht­keit in Kon­takt, wenn er schon vor­her par­tei­in­tern in eine Füh­rungs­po­si­ti­on gewählt wurde. 
Der Ehr­geiz rich­tet sich dem­entspre­chend auf die inner­par­tei­li­chen Aus­wahl­mo­di, es sind die attrak­ti­ven Wahl­krei­se, in denen seit Jahr­zehn­ten kla­re Mehr­hei­ten erzielt wer­den, es sind die vor­de­ren Lis­ten­plät­ze, die im Rah­men vor­ab meist recht genau pro­gnos­ti­zier­ter Wahl­aus­gän­ge den Ein­zug ins Par­la­ment ver­spre­chen. Die eigent­li­che Arbeit des auf­stre­ben­den Poli­ti­kers fin­det inner­halb der Par­tei statt, hier wird die Kar­rie­re in die Wege gelei­tet, gegen Kon­kur­ren­ten agi­tiert, hier mani­fes­tie­ren sich lang­jäh­ri­ge, per­sön­li­che Ver­trau­ens- und Soli­da­ri­täts­ver­hält­nis­se, hier muss eine dezi­dier­te, poli­ti­sche Posi­ti­on aus­ge­ar­bei­tet und ver­tei­digt werden. 
Der kon­kre­te Wäh­ler vor Ort dage­gen ver­langt vom durch­schnitt­li­chen Abge­ord­ne­ten nicht viel, dem Poli­ti­ker reicht in der Regel neben kon­sens­fä­hi­gem Abspu­len aktu­el­ler Kern­po­si­tio­nen die Fähig­keit, auch nach dem hun­derts­ten “Also in echt sehen Sie ja ganz anders aus!” Aus­ruf irgend­ei­ner exal­tier­ten Haus­frau beim Besuch des zwan­zigs­ten Dorf­kin­der­gar­tens nicht gelang­weilt und über­heb­lich, son­dern stets auf­merk­sam, freund­lich und beschei­den auf­zu­tre­ten, ins Blaue hin­ein vage Unter­stüt­zung zuzu­si­chern, und mit­tels einer Hand­voll rou­ti­nier­ter Scher­ze gele­gent­lich soge­nann­te “Volks­nä­he” zu demons­trie­ren. Eine dezi­dier­te­re Erwar­tungs­hal­tung an Poli­ti­ker ist in unse­rer Gesell­schaft nicht üblich.

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Posted on 11. September 202011. September 2020

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