Der “solidarische Patriotismus” tritt als Strömung innerhalb der AfD mit dem Anspruch an, die richtige Richtung für den zukünftigen Erfolg der AfD zu sein. Vordenker Benedikt Kaiser betätigt sich dabei nicht nur als Theoretiker, sondern auch als engagierter Politikberater und interpretiert in regelmäßigen Artikeln für den Blog der Sezession Wahl- und Umfrageergebnisse, um der AfD strategische Ratschläge mit auf den Weg zu geben. Gerade die große Erfolgskluft zwischen Ost- und West-AfD dient ihm dabei regelmässig als Argument, um für seine eigene Programmatik zu werben.
Sein Engagement indes ist nicht ganz selbstlos, denn Kaiser ist nicht nicht lediglich Anhänger des “solidarischen Patriotismus”, sondern auch zufälligerweise Verfasser des gleichlautenden Buches und dürfte sich damit auf dem in etwa selben Neutralitätslevel befinden, wie ein Rechtsextremismusexperte von der Antifa, besitzt also zweifellos ein ausgeprägtes Eigeninteresse an einer Deutung im eigenen, politischen Sinn. Ein wenig Skepsis also sollte angebracht sein, und diese Skepsis, so bestätigt sich schnell, ist angebracht, bei Kaisers forschen Vorstößen wird die Differenz zwischen Analyse und Agitation regelmässig eingeschmolzen. Zeit für den Faktencheck von rechts.
A: IST DER SOLIDARISCHE PATRIOTISMUS FÜR DIE AFD-ERFOLGE IN OSTDEUTSCHLAND VERANTWORTLICH?
“Der bürgerlich-opportunistische Kurs hat noch nirgends bewiesen, daß er Erfolge einfahren kann, so mantrahaft auch betont wird, man müsse dies im Westen so betreiben, weil man andernfalls das Bürgertum nicht erreiche. … Es spricht also alles dafür, das solidarisch-patriotische Erfolgsrezept aus dem Osten auch in westlichen Bundesländern zu versuchen.” (Benedikt Kaiser)
Aus dem Umstand also, daß Bundesländer, in denen die AfD mit “solidarisch-patriotischer” Ausrichtung auftritt, in der Vergangenheit bei Wahlen bemerkenswerte Erfolge erzielt wurden, während Bundesländer mit “bürgerlich-opportunistischem” Kurs deutlich schwächer abschneiden, schließt Kaiser, daß der Grund für den Erfolg in ebendieser “solidarisch-patriotischen” Ausrichtung liegen müsse. Diese Vermutung ist natürlich naheliegend, andererseits aber fällt sie mit der Trennung von Ost- und Westdeutschland zusammen, zwei Regionen, die sich in so gut wie jeder statistischen Erhebung signifikant voneinander unterscheiden, was vermuten lässt, daß weitere Faktoren ebenfalls eine Rolle spielen.
Doch soll dieser These zunächst einmal nachgegangen werden. Wie können wir überprüfen, ob sie zutrifft? Nun, läge tatsächlich die Ursache für den größeren Zuspruch im Osten in der sozialen Orientierung der Ost-Verbände, müsste das in den Umfragen der Meinungsforscher sichtbar werden, die AfD müsste also in diesen Bundesländern als soziale Partei wahrgenommen und aufgrund ihrer sozialen Ausrichtung gewählt werden.
Genau das ist allerdings nicht erkennbar. (Ich verwende im Folgenden die Daten der ARD-Wähleranalysen, die auch Benedikt Kaiser nutzt.) Beginnen wir in Sachsen, wo die AfD 2019 mit 27,5% ihren bis dato größten Erfolg erzielte. Fragt man nun aber den sächsischen Wähler, welche Partei seines Erachtens für “soziale Gerechtigkeit” stünde, findet sich die AfD auf dem letzten Platz wieder. (Die Grünen tauchen faszinierenderweise in den Fragen nach “sozialer Gerechtigkeit” bei der ARD niemals auf, was vermuten lässt, daß sie noch hinter der AfD lägen, von den grünenfreundlichen ARD-Mitarbeitern aber vor dieser unschmeichelhaften Bloßstellung durch Verschweigen geschützt werden.) Dennoch aber hat sie wohlgemerkt in Sachsen ein herausragendes Ergebnis erzielt. Unter den Motiven, wieso die Wähler sich für die AfD entschieden haben, stoßen wir auf ganz andere Gründe: ganz oben stehen Zuwanderung und Kriminalität, auch Protestwahl spielt eine Rolle, soziale Fragen dagegen sind klar untergeordnet.
Deckungsgleiches Bild in Thüringen. Obwohl dort mit Björn Höcke die populäre Symbolfigur des “Solidarischen Patriotismus” waltet, wird auch die Thüringer AfD von der Allgemeinheit in keinster Weise als soziale Partei wahrgenommen. (“Löhne, Rente” wirkt womöglich auf den ersten Blick wie ein potentielles SolPat-Thema, taucht allerdings auch bei den anderen Parteien in ähnlicher Höhe auf — es scheint also eine ganz allgemeine Sorge zu sein, aus der keine spezifische Parteipräferenz abgeleitet wird.)
Was den Wähler dagegen tatsächlich Richtung AfD treibt, zeigt die Abfrage konkreter Ansichten. Es sind bis an die 100% der Themenkomplex von Massenmigration, Islamisierung und kurz gesagt dem, was die Neue Rechte den “Großen Austausch” nennt. In diesem Kontext tauchen durchaus auch ökonomische Zukunftsängste auf, selbstverständlich, doch wird sich noch zeigen, daß darin keine Präferenz für sozialistische Politik liegen muss. Erstes Fazit also: die AfD wird im Osten weder als soziale Partei wahrgenommen, noch wegen ihrer sozialen Ausrichtung gewählt.
Wenden wir nun den Blick gen Westen, wo die Wahlergebnisse deutlich niedriger liegen. Benedikt Kaiser bemüht sich nach Kräften, einen Zusammenhang zwischen dem fraglos kläglichen Ergebnis von 5,3% in Hamburg und der liberal-bürgerlichen Ausrichtung des Landesverbandes herstellen: “Das krasse Gegenteil muß für die in Hamburg zahlreichen sozial schwächeren Gegenden gelten. Die AfD wollte sich nicht um sie bemühen, paßte es doch nicht zur liberalkonservativen Programmatik, die nicht nur weltanschaulich falsch war, sondern auch ein strategisches Desaster darstellt. In den einwohnerstarken und damit elektoral besonders bedeutenden Arbeiterbezirken siegte konsequenterweise die Sozialdemokratie. […] Die AfD erhielt in den diesen von Arbeitern und Geringverdienern bewohnten Stadtteilen dennoch 12 Prozent – und das ohne jedes (programmatisches, strategisches usw.) Bemühen um sie. Was hier möglich gewesen wäre, ist selbsterklärend.”
Selbsterklärend ist es natürlich nicht: die Argumentation soll hier offenkundig lauten, daß die über 20% im Osten durch die sozial bis sozialistische Ausrichtung der ostdeutschen Landesverbände zustandegekommen ist, weil diese die unteren Einkommenssegmente, bzw. enttäuschte linksorientierte Wähler politisch aktivieren konnten. In Hamburg dagegen wären durch einen “bürgerlich-opportunistischen”, bzw. “liberalkonservativen” Wahlkampf diese Milieus abgeschreckt worden, während gleichzeitig das umworbene Bürgertum aber ablehnend blieb. Dieser ja durchaus nachvollziehbare Gedankengang wird allerdings wiederum nirgendwo in den Wahlumfragen abgebildet. Stattdessen ist bemerkenswert, daß in Bezug auf die soziale Wahrnehmung der AfD zwischen Hamburg, Sachsen, Thüringen und Baden-Württemberg kaum ein signifikanter Unterschied feststellbar ist.
In Bezug auf die sozial schwächeren Milieus hat Kaiser zumindest nicht ganz unrecht: der Anteil derjenigen, die ihre eigene wirtschaftliche Lage subjektiv als “schlecht” einschätzen, ist bei der AfD bundesweit höher. Wo die meisten anderen Parteien um die 90% an wirtschaftlich zufriedenen Wählern aufweisen, sind es bei der AfD nur um die 75%. Doch ist dieser Wert immer noch verhältnismäßig hoch: wenn 3/4 aller AfD-Wähler gar keine akuten ökonomischen Probleme empfinden, kann darin kaum ein zentrales Wahl-Motiv gesehen werden. Und überdies ist der Anteil an sich wirtschaftlich bedrängt Fühlenden in Ost und West wiederum quasi-identisch. Was zeigt, daß die schwachen Ergebnisse im Westen gerade nicht durch Demobilisierung derselben verursacht wurden.
Das zweite Fazit lautet also: worin auch immer die Gründe für das fraglos desolate Abschneiden in Hamburg (bzw. das allgemein schlechtere Im Westen) liegen mögen: es sind nicht die programmatischen Unterschiede in Bezug auf eine liberale oder soziale Ausrichtung der jeweiligen Landesverbände. Nicht jede Korrelation ist eine Kausalität — und genau diese klassische Fehlinterpretation liegt hier vor. Denn wenn die AfD auch den höchsten Anteil an ökonomisch Unzufriedenen unter ihren Wählern versammelt so wird sie doch gleichzeitig als die neben den Grünen am wenigsten soziale Partei wahrgenommen. Weder die eigene soziale Lage noch die soziale Ausrichtung der AfD war also bei den bisherigen Wahlen entscheidend. Überdies nehmen drei Viertel der AfD-Wähler ihre wirtschaftliche Situation als “gut” wahr — weniger als in anderen Parteien, aber dennoch eine deutliche Mehrheit.
Vielmehr scheint es, als wäre die AfD längst in ihrer eigenen diskursiven Parallelgesellschaft gefangen: während intern immer erbittertere Konflikte zwischen dem sozialen/proletarischen/“grundsätzlichen” und dem liberalen/bürgerlichen/“gemäßigten” Flügel als ein Kampf um Sein oder Nichtsein geführt werden, nehmen die Wähler solche regionalen Programm-Unterschiede offensichtlich kaum wahr, die AfD wird bundesweit relativ einheitlich rezipiert und gerade sozialpolitische Aspekte sind länderübergreifend dabei weitgehend irrelevant. Die Frage, was die AfD im Westen weniger erfolgreich macht, kann damit zunächst nicht beantwortet werden. Doch das angebliche “solidar-patriotische Erfolgsrezept” war es zumindest bei den bisherigen Wahlen offenkundig nicht.
B: IST DIE AFD EINE ARBEITERPARTEI?
“Die AfD ist auch bei den NRW-Kommunalwahlen trotz dezidiert klischeebürgerlicher Programmatik nicht in bürgerlich geprägten Regionen stark, sondern dort, wo Arbeiter – ob Facharbeiter oder ehemalige Zechenkumpels — und ihre Familien einen relevanten Anteil an der Bevölkerung ausmachen: 12,9 Prozent in Gelsenkirchen, 9,29 Prozent in Duisburg und 7,59 Prozent in Oberhausen unterstreichen dies.” (Benedikt Kaiser)
In These 1 ging es um die programmatische Ausrichtung, These 2 dreht sich um die Zielgruppe: die AfD ist unter denen, die Kaiser “Arbeiter” nennt, erfolgreich, sagt Kaiser, während das, was Kaiser “Bürgertum” nennt, trotz einer Ausrichtung, die Kaiser “klischeebürgerliche Programmatik” nennt und mutmaßlich ein vages Feindbild wie “liberaler Kapitalismus” meint, kaum politisches Interesse zeigt. Grund dafür liegt laut Kaiser in den komfortablen materiellen Verhältnissen: “Solange die materielle Sicherheit in Ländern wie NRW gegeben ist, werden Ältere weiter CDU als Anker der Stabilität wählen und Jungwähler die immateriellen Fragen beackernde Wohlstandslinke der Grünen favorisieren.”
Überprüfen wir auch diese These. Glücklicherweise ist das bereits im Jahr 2018 vom “Informationsdienst der deutschen Wirtschaft” unternommen worden. Dabei zeigt sich aber, daß ökonomische Kennzahlen AfD-Erfolge nicht erklären können. AfD-Hochburgen existieren sowohl in den hochgradig arbeitslosen, proletarisch geprägten Regionen des Ruhrgebiets, im ländlich geprägten CSU-Kernland Ostbayern, wo nahezu Vollbeschäftigung herrscht, es gibt sie sowohl in den liberalen Gutverdiener-Regionen Süddeutschlands als auch im strukturschwachen, kapitalismuskritischen Osten. Diese Regionen sind ökonomisch und soziologisch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Sie scheinen überdies auch unabhängig vom lokalen Migrantenanteil vor Ort zu sein, der speziell in Ostbayern und Sachsen relativ niedrig ist.
Die Annahme also, daß der AfD-Wähler aufgrund einer unmittelbaren sozioökonomischen Betroffenheit zum Rechtspopulismus griffe, wird nicht bestätigt. Allenfalls, so versuchen ernsthaftere Deutungsversuche zu erklären, zeichnet der AfD-Wähler sich durch ein primär subjektives Bedrohtheitsgefühl aus, das von seiner objektiven ökonomischen Situation weitgehend unabhängig zu sein scheint. “Es geht nicht um Arbeitslosigkeit, sondern um die Angst davor. Nicht um Armut, sondern um die Befürchtung, seine gesellschaftliche Stellung nicht halten zu können. Ob jemand die AfD wählt, hängt vor allem von der subjektiven Wahrnehmung ab und weniger von objektiven Kriterien wie dem Einkommen.” stellt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung fest. Ökonomische Aspekte spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle: “Es ist ein Gefühl des Kontrollverlustes, des Fremdbestimmseins, das offenbar bei den AfD-Wählern vorherrscht. Man fürchtet sich vor Globalisierung, offenen Grenzen und hoher Zuwanderung. Ausgeprägt sind die Zweifel am Funktionieren der Demokratie und an der Glaubwürdigkeit politischer Institutionen. Viele AfD-Wähler fühlen sich von der Politik vernachlässigt. Nur sieben Prozent haben Vertrauen in die Bundesregierung, während es über alle Wählergruppen hinweg 35 Prozent sind.”
Das ist eine außerordentlich wichtige Erkenntnis. Denn wenn wir hier den Begriff “Angst”, der in Establishment-Kreisen gerne zur Pathologisierung und Abwertung der ungeliebten Abweichler verwendet wird, sozusagen nach rechts wenden, dann lautet er: Problembewußtsein.
Natürlich zählen auch ökonomische Aspekte zum Niedergangsszenario, das vom AfD-Wähler befürchtet wird, doch zu seinem Problembewußtsein kommt er gerade nicht dadurch, daß er in seinem persönlichen oder beruflichen Umfeld von den negativen Folgen der Globalisierung betroffen wäre. Stattdessen taucht ein der eigenen sozialen Lage übergeordnetes Werteprofil auf: Souveränitätsverlust, Ablehnung von Migration und Globalisierung, Skepsis gegenüber den ihm entfremdeten Institutionen. Wie diese Haltungen zustande kommen, wissen wir an dieser Stelle schlichtweg nicht. Denn jede Studie fragt nur das ab, was für sie von Interesse ist, und da der politische Diskurs von ökonomistischen Prämissen geprägt ist — sei es aus liberalkapitalistischer oder sozialistischer Sicht -, so werden nur diese Aspekte systematisch behandelt. Doch was aus einer ökonomistischen Gesellschaftsinterpretation heraus als “Abstiegsangst” aufscheint, oder vom Antifaschismus-Aktivisten als “Rassismus” skandalisiert wird, ist letztlich vielleicht doch dieser tote Winkel der menschlichen Konstitution, den die linksliberalen Politikeliten in ihrer utopischen Transformations- und Dekonstruktionsbesessenheit weder sehen noch berücksichtigen wollen: Heimatverbundenheit, Verantwortungsgefühl gegenüber dem eigenen Land und dessen Zukunft, der Wunsch nach Bewahrung eigener Werte, eigener Kultur — auch über den Horizont individueller Befindlichkeit hinaus.
Zugestanden sei dabei, daß sich seit 2017 die Situation in Deutschland durchaus verschoben hat. Lagen noch 2017, quasi zur Blütezeit der Protestwahl, die AfD-Wähler durchaus im soliden, nationalen Mittel, so ist der AfD-Durchschnittswähler in den letzten Jahren zunehmend Richtung “gering gebildete Männer der finanziellen Unterschicht” gewandert. Doch geht diese Entwicklung eben gerade nicht mit der Erschließung neuer Wählerschichten einher, sondern mit dem Gang ins Abseits, mit dem Verlust von Wählerzuspruch und gesellschaftlicher Akzeptanz, gerade in Westdeutschland. Sie ist kein Grund zum Jubeln, sondern lediglich Ausdruck wachsender Isolation.
Der einzige Punkt, worin Kaisers Projektion marxistischer Schemata auf die politische Wirklichkeit tatsächlich ein Ergebnis zeitigt, ist der hohe Anteil von “Arbeitern” bei den AfD-Wählern. Dieser Anteil ist zwar auch relativ zu sehen, in Hamburg beispielsweise haben zwar 11% der Arbeiter AfD gewählt, gleichzeitig aber auch 16% die Grünen — spöttisch gesagt vertreten die Grünen in Hamburg in höherem Maße “Arbeiterinteressen” als die AfD. Aber die statistische Signifikanz ist zweifellos vorhanden.
Zunächst fällt auf: neben den “Arbeitern” ist die AfD auch bei den “Selbstständigen” überdurchschnittlich erfolgreich, eine Gruppe, die gemeinhin als “liberal”, also leistungsorientiert, individualistisch, möglichst wenig Staat und Steuern fordernd, charakterisiert wird. Gerade im AfD-affinen Osten wählen paradoxerweise die Selbstständigen besonders gerne AfD, was wieder ein Indiz dafür ist, wie wenig der dezidiert antiliberale, wohlstandsskeptische, staats- und kontrollaffine Sozialpatriotismus den Wähler interessiert oder überhaupt wahrgenommen wird.
Darüberhinaus muss aber reflektiert werden, daß das, was die zeitgenössische Statistik unter “Arbeiter” versteht, mittlerweile weit von den klassenkämpferischen Klischees des 19. Jahrhunderts entfernt ist. Sie drückt lediglich die Art der Tätigkeit aus: der “Arbeiter” ist jemand, der sein Geld mit körperlich orientierter Arbeit verdient, der “Angestellte” ist jemand, der sein Geld mit primär geistig orientierter Arbeit verdient. Dabei verschwimmen in der Berufswelt der Gegenwart die Grenzen zunehmend: durchaus fällt unter die Schublade des “Arbeiters” der gesamte Niedriglohn-Zeitarbeits-Sektor, gleichzeitig aber ist der Facharbeiter (also der Arbeiter mit abgeschlossener Ausbildung und Berufserfahrung) auf dem Arbeitsmarkt begehrt und wird in der Regel gut bezahlt. Durchaus fällt umgekehrt das Segment der Akademiker und Führungskräfte unter die “Angestellten”, gleichzeitig aber auch die breite Masse an mittelmäßig verdienenden Büroangestellten, und gerade im sozialen und geisteswissenschaftlichen Bereich ist die Entlohnung oft mässig, die Arbeitsverträge lediglich befristet oder Teilzeit. Der Unterschied zwischen Arbeiter und Angestelltem wird heute also entgegen aller marxistischen Romantik im Gros eher im Habituellen als in den materiellen Verhältnissen oder gar Klassengegensätzen zu suchen sein, es sind Kategorien, die heute nur noch wenig Aussagekraft haben.
Der eigentliche Haken an der Fokussierung auf das Arbeitermilieu aber ist, daß es im Zuge des Strukturwandels in unseren westlichen Industrieländern quantitativ nur noch eine Randgruppe stellt. Der Anteil von Arbeitern bei den Beschäftigten sinkt von Jahr zu Jahr und liegt heute nur noch bei 16,6%.
Wenn Kaiser also schwärmt: “Was hier möglich gewesen wäre, ist selbsterklärend, zumal die größten Nichtwählerreservoirs auch noch ebendort zu finden sind. […] In Billbrook, einem sozial prekären Stadtteil mit 78 Prozent Ausländeranteil, erzielte die AfD ihren Bestwert von 24 Prozent.” — dann ist das kurz gesagt eine Luftnummer, das Wahlerfolgspotential ist aufgrund des geringen Anteils von Arbeitern an der Gesamtbevölkerung relativ beschränkt. Die angebliche AfD-Bastion Billbrook wird dabei unfreiwillig zum Symbol dieses Irrglaubens. Der Blick auf die Wikipedia-Seite offenbart nämlich folgendes: “Bei der Europawahl 2019 kam Billbrook in die Schlagzeilen, weil es der einzige Stadtteil Hamburgs war, in dem die AfD mit 27,1 % stärkste Partei wurde. Aufgrund des hohen Anteils von nicht-EU-Ausländern und Kindern waren bei rund 2000 Einwohnern, davon rund 1400 Erwachsenen, allerdings nur 361 wahlberechtigt, von ihnen gingen nur 92 zur Wahl und 25 stimmten für die AfD.”
Richtig: 25 Stimmen. Billbrook ist damit gerade nicht Nachweis für die Richtigkeit von Kaisers Wahlanalyse, sondern tragisches Symbol für die Realitätsferne seines ideologischen Fetischs. Wo er sich mutmaßlich noch uferlose, urwüchsige, desillusionierte Arbeitermilieus imaginiert, die es nur politisch zu aktivieren gälte, bleiben in der Realität magere 25 Stimmen, das ehemalige Arbeiterquartier ist in der Realität längst von einer migrantischen Parallelgesellschaft ersetzt worden. Ähnliches gilt für das “prekäre Milieu” in der Bertelsmann-Studie (siehe Anhang). Auf die dort erzielten 27% verweist Kaiser nur zu gerne — übersieht dabei aber, daß dieses Milieu nur einen Anteil von 9% bildet.
Die Arbeiterklasse, das gilt es zu akzeptieren, existiert in der Gegenwart westlicher Gesellschaften nur noch als politischer Mythos. Bereits die Linkspartei hat das in Westdeutschland schmerzhaft zu spüren bekommen, und der solidarische Patriot macht sich aus seiner ureigenen, von Jünger, Spengler und Konsorten gespeisten Perspektive lediglich daran, die Borniertheit zeitgenössischer Salonsozialisten von rechts zu reproduzieren.
In der realen Gesellschaft dagegen liegt der Abiturientenanteil mittlerweile bei 50%, drei Viertel aller Berufstätigen zählen zur Gruppe der “Angestellten”. Hier liegt die Mitte der Gesellschaft, und will die AfD “Volkspartei” sein — und diesen Anspruch betonen bekanntlich gerade die Anhänger des Solidarischen Patriotismus unentwegt -, dann muss sie auch das Volk ansprechen. “Arbeiterpartei” oder “Volkspartei” — was als Gemeinsames phantasiert wird, ist im 21. Jahrhundert faktisch zum Widerspruch geworden. Es ist offenkundig: wer wirklich Volkspartei sein will, wer überdies eine hegemoniale Wende als langfristiges politisches Ziel verfolgt, und das tut die Neue Rechte bekanntermaßen, kann nicht “Arbeiterpartei” sein, sich mit Erfolgen in diesem Segment der Gesellschaft zufriedengeben oder gar die künftige, politische Strategie danach ausrichten.
C: ERZEUGT DER GLOBALISMUS EINEN NEUEN KLASSENKAMPF?
In Bezug auf das Thema “Arbeiter” legt Benedikt Kaiser eine diffuse Aaligkeit an den Tag. Einerseits betont er regelmäßig, ein über das Segment der Arbeiter hinausgehendes Spektrum ansprechen zu wollen. Andererseits aber fällt er regelmäßig den eigenen Klischees zum Opfer, was zu extrem undifferenzierten Aussagen führt. Beispielsweise in diesem Tweet, den ich stellvertretend für die Haltung der Solidarischen Patrioten bezüglich der Wahlergebnisse in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zitieren möchte.
Doch um das einmal kurz vorzurechnen: 18% bei einem Bevölkerungsanteil von 16,6% bedeuten 3%, das sind 36% des Gesamtergebnisses von 8,3%. Die 7% der Angestellten bei einem Bevölkerungsanteil von 65% aber bedeuten 4,5%, also einen Anteil von 55% am AfD-Ergebnis. Die Mandate der AfD haben also faktisch die Angestellten in höherem Maße gesichert als die Arbeiter, Kaiser kann nur nicht rechnen.
Dennoch stoßen wir an diesem Punkt der Untersuchungen auf eine grundlegende Frage: Wieso sollen es unbedingt die Arbeiter, die Prekären, die Schlechtverdiener, also, grob gesagt, die ökonomisch untere Hälfte der Gesellschaft sein? Das hat diverse ideengeschichtliche und theoretische Hintergründe, die hier aber nicht im Mittelpunkt stehen sollen. In Bezug auf die aktuelle politische Situation indes lässt sich die solidarpatriotische Sichtweise folgendermaßen skizzieren: die Globalisierung als aus solidarpatriotischer Perspektive eminent kapitalistischer Vorgang erzeugt Profiteure und Verlierer. Die Profiteure sind die linksgrünen, urbanen “Anywheres”, die Kaiser in launigen Momenten auch als “Bürgertum” bezeichnet oder mit den “Angestellten” gleichsetzt. Dieser nebulösen Gruppe wird nun aus einem marxistischen Menschenbild heraus unterstellt, daß sie als ökonomische Profiteure gegenwärtiger Politik diese selbstredend weiter wählen werden, sie nehmen sozusagen in Bezug auf die Globalisierung eine Klassenperspektive ein.
Die Verlierer dagegen, eine Gruppe, in der Kaiser ebenso undifferenziert Begriffe wie “Arbeiter”, “Volk”, “unter- und abstiegsbedrohte Mittelschichten” oder auch “populäre Klassen” verquirlt, bilden das potentielle Wählerreservoir der AfD. Denn sie sind die Verlierer von Globalisierung und Masseneinwanderung, sie sind dem Wettbewerb sowohl des globalen Marktes als auch der Konkurrenz und zunehmenden Verdrängung durch Migranten ausgesetzt. Gleichzeitig haben die ehemals linken Parteien die Unter- und Mittelschicht weitgehend aufgegeben und engagieren sich nur noch für neulinke Wohlstandsthemen wie Energiewende oder LGBT. Die Frucht ist also gewissermaßen reif, gepflückt zu werden, alles, was die AfD noch benötigt, ist Solidarischer Patriotismus.
So sieht, grob skizziert, die Argumentation des solidarischen Patrioten aus. Doch damit dieses Szenario als AfD-Gewinnerstrategie funktioniert, müssen zwei wesentliche Annahmen zutreffen: erstens muss durch die gegenwärtige Politik die Anzahl wirtschaftlich Unzufriedener hoch sein oder zumindest wachsen. Und zweitens muss dieser Kreis primär durch linksorientierte Programmatik aktivierbar sein. Wie Björn Höcke es ausdrückt, und damit wiederum von Benedikt Kaiser begeistert zitiert wird: “Nur mit einem klaren sozialpolitischen Profil läßt sich die große Wählergruppe der »kleinen Leute« gewinnen, die am meisten unter den Zumutungen der Globalisierung, des Klimawahns (Strompreise!) und den Migrationsfolgen leidet.”
Jedoch, und der Leser ahnt es vielleicht bereits: diese Annahmen bestätigen sich abermals in der Realität nicht. Zumindest was wirtschaftliche Parameter betrifft, scheint die Politik unter Angela Merkel nämlich durchaus ein Erfolgsmodell zu sein. Die wirtschaftliche Zufriedenheit wächst seit 15 Jahren kontinuierlich an, auch die Massenmigration von 2015 hatte darauf keinen Einfluß. Ein bedeutsamer Unterschied zwischen Ost und West ist auch schon lange nicht mehr vorhanden. Wo hier eine “abstiegsbedrohte Mittelschicht” unter “Zumutungen der Globalisierung” zugrunde gehen soll, bleibt ein Rätsel. Man muss es geradezu als Wunschdenken bezeichnen.
Und auch die Assoziation von Arbeiterschaft und sozialistischer Weltanschauung erweist sich bei näherem Hinsehen als bloßes Klischee. Was der Arbeiter wählt, ist vielmehr stark von regionalen Milieus abhängig. Klassisch sozialdemokratisch wählt er nur in den urbanen Gebieten Westdeutschlands wie dem Ruhrgebiet oder Hamburg. In der AfD-Hochburg Sachsen dagegen, ein Bundesland, das seit der Wende CDU-regiert ist und dabei von allen ostdeutschen Ländern die beste wirtschaftliche Entwicklung genommen hat, ist es nicht die Sozialdemokratie, sondern die liberalkapitalistische CDU, die hauptsächlich mit der AfD um die Arbeiterstimmen konkurriert. Und auch in Baden-Württemberg (von Bayern ganz zu schweigen) sind die Arbeitermilieus traditionell tiefschwarz. Gerade in Süddeutschland, gerade im ländlichen Raum besaß der Sozialismus und die von ihm selbsternannte “Arbeiterbewegung” als sozialistische Deutung gesellschaftlicher Prozesse nie sonderlich viel Sympathie, im Gegenteil ist die Abneigung gegen “die Roten” dort oft tief verwurzelt. “Rentner und Beamte sind in der Wählerschaft leicht über‑, die Angestellten leicht unterrepräsentiert. Letzteres gilt seit den 1980er-Jahren auch für die Arbeiter, was den Charakter der CDU/CSU als einer schichtübergreifenden Volkspartei unterstreicht. Größere Einbrüche in dieser Gruppe hatte die Union seit der Wiedervereinigung nur bei den Bundestagswahlen 1994 und 1998 zu verzeichnen. Seit 2009 liegt sie bei den Arbeitern in absoluten Zahlen sogar vor der SPD.” berichtet die Bundeszentrale für politische Bildung dazu.
Während also die brillante SolPat-Strategie darauf hinausläuft, die ständig wachsende Anzahl von wirtschaftlich Bedrängten mit sozialistischer Politik abzuholen, gibt es in der Realität weder eine wachsende Anzahl von wirtschaftlich Bedrängten, noch sind diese unteren Schichten mehrheitlich sozialdemokratisch orientiert.
Durchaus, so viel sei zugestanden, ist die Sozialstaatsorientierung im deutschen Volk übergreifend stark ausgebildet, soziale Themen spielen bei jedem Wahlkampf zweifellos eine gewichtige Rolle. Dennoch, so qualvoll dem überzeugten solidarischen Patrioten dieser Gedanke auch sein mag, ist ein bedeutender Teil des deutschen Arbeiter- und Kleinbürgertums traditionell pro-kapitalistisch und pro-liberal orientiert. Wenngleich darunter vielleicht weniger ein neoliberaler Raubtierkapitalismus im Sinne Friedmans und der US-Neocons verstanden wird als vielmehr die eingedeutschte “soziale Marktwirtschaft” Ludwig Erhards, also ein Kapitalismus mit konservativer Werteorientierung und sozialem Ausgleich.
(Bei meiner Suche nach einer gesamtgesellschaftlichen, detaillierten Abbildung der CDU-Wählerschaft konnte ich leider nur die ältere Studie “Sozialstruktur und Wählerverhalten” der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Zahlen aus den 90ern finden, diese aber untermauert die Aussage der BPD. Auch die Bertelsmann-Studie im Anhang zeichnet ein relativ ausgewogenes Bild.)
D: FAZIT / DIE FATA MORGANA
Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, daß der Großteil dessen, was im Kontext der Theorie des “Solidarischen Patriotismus” von Benedikt Kaiser an Wähleranalyse und politischer Strategie formuliert wurde, nur wenig mit der Realität übereinstimmt. Dieser Text soll wohlgemerkt nicht die Theoriebildung an sich kritisieren — der aufmerksame Leser wird zwar diverse Kritikpunkte ausmachen können, doch ist das hier nicht Thema. Auch soll gerne der Idealismus der Solidarischen Patrioten anerkannt werden, in dem Sinne, daß sie sicherlich aufrichtig ihre politische Idee als die für ihr Land bestmögliche erachten.
Doch von einer Idee überzeugt zu sein ist etwas anderes als mit ihr auf gesellschaftliche Resonanz zu stoßen. Der Wunsch ist hier in hohem Maße Vater des Gedankens — weil die Theorie des “solidarischen Patriotismus” für richtig befunden wird und deshalb das Profil der AfD künftig prägen soll, man also von dem Wunsch getrieben ist, die AfD und ihr Umfeld von diesem Kurs zu überzeugen, ist von Benedikt Kaiser und seinen Mitstreitern ein außerordentlich unseriöser, agitatorischer Umgang mit Statistiken und Fakten etabliert worden.
Sogar wer den theoretischen Ansatz teilt, sollte sich nach Lektüre dieses Textes eingestehen, daß der Übertrag in die gegenwärtige politische Realität Deutschlands so einfach nicht vonstatten geht. Die Ergebnisse — Erfolge wie Niederlagen — der AfD spiegeln in nur geringem Maße die theoretischen Mutmaßungen des “solidarischen Patriotismus” wieder. Und daraus wiederum folgt, daß die Ratschläge von Benedikt Kaiser kaum zu Wahlerfolgen der AfD beitragen werden. Was wiederum nicht bedeutet, daß sein theoretischer Ansatz völlig verfehlt wäre, generell liegt die Tragik der Demokratie bekanntlich in der Inkongruenz von Wahrheit und Mehrheitszustimmung. Anzuraten wäre also hier vielmehr, Theoriearbeit und politstrategische Ideen zu trennen, und beides mit der gebotenen Sorgfalt zu behandeln. Doch wer im unbedingten Willen, alle anderen zu überzeugen, Wunsch und Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen, letztlich beginnt, unsauber zu arbeiten, schadet der Bewegung, der er angehört, mehr als er nutzt.
Dazu kommt, daß der Schaden umso größer wird, als die Theorie des Solidarischen Patriotismus in ihrer marxistisch inspirierten ökonomischen Dialektik alle Beteiligten zu einem fatalistischen, zynischen Akzelerationismus verleitet. “Die Illusionen weichen erst, wenn die Lebensumstände prekärer werden und Entwürfe von existentialistischem Format erfordert sind. Dann kommt wieder erst das Fressen und dann die Moral. Dies ist zwar immer so, wird aber verdrängt, weil man in satten Zeiten von solcher Desillusionierung gekränkt würde.” orakelt beispielsweise Sezessions-Autor Heino Bosselmann mit Brecht-von-rechts Pose. Sympathieträger Christian Lüth, der als Pressesprecher zum inneren Zirkel der AfD gezählt werden konnte, brachte es bereits letztes Jahr knackig auf den Punkt: “„Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD. Das ist natürlich scheiße, auch für unsere Kinder. (…) Aber wahrscheinlich erhält uns das.“
Vom hässlichen Zynismus dieser Haltung, die sich allen Ernstes das Leid des eigenen Volkes zum eigenen ideologischen Wohl herbeiwünschen muss, einmal abgesehen: Die Fixierung auf ökonomische Dynamik, die Erwartung ihrer entscheidenden Wirkmächtigkeit, die sich selbst die Pose eines hemdsärmeligen, antiintellektuellen rechten “Realismus’ ” gibt, erlaubt der deutschen Rechten gerade in einer Phase, in der sie zunehmend erfolgslos, ausgegrenzt und in die Enge getrieben wird, das Allereinfachste zu tun: nichts. Was stattdessen etabliert wird, ist ein hämisches, kleingeistiges “Wer nicht hören will, muss fühlen”, womit sich die eigene politische Wirkungslosigkeit und Ratlosigkeit, die innere Resignation zur elitären Pose zu adeln sucht. Nur daß sich damit in Wahrheit genau das Gegenteil eines abgeklärten Tatsachensinnes einstellt: ein eskapistischer Ideologie-Elfenbeinturm, dessen Bewohner sich mit Märchen und Phantasien vom finalen Triumph, der ja nur noch eine Frage der Zeit sein könne, gegen die kalte, unerfreuliche Wirklichkeit abschirmen.
Und es mag letztlich gerade die kalte Wirklichkeit gewesen sein, die zur zwischenzeitlichen Popularität dieser Haltung geführt hat. In einer Phase, worin schwindender Erfolg und wachsende Ausgrenzung die deutsche Rechte zunehmend ratlos und frustriert werden hat lassen, konnte der Solidarische Patriotismus einfache Antworten, plakativ-emotionalisierende Freund-Feind-Schemata und schlichtweg Hoffnung anbieten. Manchmal sind falsche Antworten besser als gar keine, so funktioniert die Psyche des Menschen, gerade in schwierigen Zeiten. Die Herausforderung dieses Textes für den Solidarpatrioten dürfte nun sein, daß er alle angesammelte Hoffnung , die bequeme, entspannte Gewissheit, die ihn Abends beruhigt entschlummern lässt, daß nämlich am Ende alles ja doch gut werden wird, weil man ja auf der Seite der sogenannten “Wirklichkeit” stünde, fahren lassen muss. Dem ist in aller Offenkundigkeit nicht so.
Ich indes hoffe auf etwas anderes: daß durch falsche Antworten auf falsche Fragen nicht länger die Auseinandersetzung mit der politischen und gesellschaftlichen Realität verstellt wird. Daß nicht im bequemen Glauben an einen vermeintlichen politischen Generalschlüssel weiterhin Handeln und Denken aller Beteiligten eingeschläfert wird. Daß überhaupt erst einmal ein echtes Denken an die Stelle oberflächlicher Agitation tritt. Vielleicht gilt es auch für einige, dem naiven Glauben abschwören, es könne in einem offenen, demokratischen Diskurs verlässliche “Siegstrategien” geben.
Um mit einer Allegorie zu schließen: wer als Verirrter in der Wüste einer Fata Morgana nachläuft, stirbt genauso wie derjenige, der das nicht tut. Er gewinnt lediglich dahingehend, daß er optimistischer stirbt. Was er sich im Antizipieren einer Illusion allerdings nimmt, ist die winzige, reale Chance auf eine echte Rettung. Durch die Fokussierung auf die Fata Morgana wird er blind für alle anderen Optionen, Ideen und Potentiale, die möglicherweise an der Peripherie aufscheinen. Während die Fata Morgana ihn natürlich fortwährend narrt: so verzweifelt er ihr auch entgegenstürzt und dabei seine letzten Kräfte mobilisiert, so vehement entzieht sie sich ihm wieder. Und erkennt er vielleicht am Ende resignierend den Sinnestrug, so ist es bereits zu spät, noch umzukehren oder einen neuen Kurs einzuschlagen, denn alle Reserven sind bereits verbraucht.
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E: ANHÄNGE UND FRAGMENTE
1. Die Bertelsmann-Studie “Populäre Wahlen” von 2017
Beschäftigt man sich mit der Frage, woher der solidarische Patriotismus überhaupt seine Begründung nimmt, stößt man auf die Bertelsmann-Studie “Populäre Wahlen” von 2017, die Benedikt Kaiser häufig als Beleg zitiert.
“Im Jargon der Sinus-Geo-Milieus, die der Bertelsmann-Studie zugrundeliegen, erzielte die AfD insgesamt 28 Prozent im Lager der “Prekären” – also einschließlich der abstiegsbedrohten unteren Mittelschicht, um es umgangssprachlich zu formulieren. Die sogenannte Bürgerliche Mitte (nicht: die Oberschicht), ein weiteres Sinus-Milieu, wählte zu 20 Prozent AfD. Daraus folgt: Prekäre und Bürger der (unteren) Mittelschichten sind das doppelte Standbein der AfD — und das sind exakt die Zielgruppen der Wagenknecht-Gruppe »Aufstehen«.”
“Zeit-typische Begriffsnutzungen und Interpretationen ignorierend, bleibt der Eindruck zu korrigieren, daß ich nur »Einkommensschwache als natürliche Wählerklientel der Rechtsparteien« identifiziere. Das sind sie freilich auch, aber nicht alleine: 28 Prozent der »Prekären« wählten bei der Bundestagswahl 2017 AfD, aber eben auch 20 Prozent der unteren Mittelschicht (wenn man so will: »Kleinbürger«), die im Bereich von Selbständigen, Arbeitern und Angestellten aller Schattierung zu finden sind.”
Die Studie selbst ist frei im Internet abrufbar, kann deshalb umstandslos einer eigenen Betrachtung unterzogen werden. Ihr Ansatz ist durchaus interessant — sie unterteilt im Rahmen einer ethischen x‑Achse und einer ökonomischen y‑Achse die deutsche Gesellschaft in 10 “Sinus-Milieus”. Diesen wird dann eine gewisse Charakteristik (“liberal-intellektuell”, “hedonistisch”, etc.) zugesprochen, und man analysiert die Besonderheiten in den jeweiligen Wahlergebissen. Bei der AfD ist auffällig, daß sie in drei Segmenten überdurchschnittlich abschneidet: bei den Prekären erzielt sie 28%, bei der bürgerlichen Mitte 20% und bei den Traditionellen 16%.
Nun sollten vielleicht beim Namen “Bertelsmann-Stiftung” gewisse Alarmglocken schrillen, da diese Stiftung bekanntlich durchaus eine politische Agenda verfolgt. Unter linken Intellektuellen herrscht die Tendenz, rechte Bewegungen lediglich als Sublimierungen ökonomischer Verteilungskonflikte, als substanzlose Irrtümer aufzufassen. Die Rechte wird nur dann groß, wenn die Linke versagt. Weshalb rechte Erfolge nicht mit einem Rechtsruck in der Politik, sondern nur mit einer entschieden linken Politik bekämpft werden können. Grundlage dieser Haltung ist zum einen die theoretische Zirkelschlüssigkeit der materialistischen Auffassung des Menschen, wie sie der Marxismus postuliert: sofern man den Menschen als primär ökonomisch motiviert definiert, ist jedes Verhalten immer auf ökonomische Probleme zurückzuführen, während andere Aspekte (Moral, Religion, Volk, etc.) automatisch als aufgesetzt und uneigentlich aufgefasst werden. Welches Problem sich auch stellt: immer wird linke Politik die richtige Lösung sein.
Zum anderen dürfte das Ziel auch in politischer Propaganda bestehen, Handreichung von und für linke Politikaktivisten, gerichtet an die durch eine Denkzettelwahl wie 2017 potentiell verunsicherten Eliten: nicht die Konservativen haben etwas falsch gemacht, vielmehr braucht es jetzt ein Mehr an linker Politik, denn es ist ja nur der abgehängte Bodensatz, der hier protestwählt.
In der Praxis führt diese weltferne Theorie zu skurrilen Ergebnissen wie beispielsweise den Phantasie-Reportagen von Claas Relotius, der unbedingt im amerikanischen Mittelwesten das degenerierte, abgehängte “White Trash” Nest schildern wollte, das linke, deutsche Intellektuelle sich als Bild des Trump-Wählers konstruiert hatten. Nur konnte er das vor Ort zu seinem Erstaunen gar nicht vorfinden, also erfand er es einfach, und wurde mit einem Journalismuspreis belohnt. In der Realität dagegen waren, wie bereits 2016 eine Studie zeigte, Trump-Wähler in Bezug auf Einkommen und Bildung durchweg überdurchschnittlich. Da es nicht ins ideologische Schema passt, wird das allerdings ignoriert. Und ähnlich ist es auch hier. Zwar erfinden die Bertelsmann-Autoren nichts, aber sie geben den Ergebnissen durchaus den gewünschten Dreh.
Zunächst stoßen wir in dieser Studie auf eine Begriffsverwirrung: denn im gängigen Sprachgebrauch werden die “Prekären” verallgemeinert als die ökonomisch unterste Schicht der Gesellschaft betrachtet. Im Rahmen der Sinus-Milieus allerdings setzt die Unterschicht sich aus 3 Gruppen zusammen, neben den “Prekären” noch die “Traditionellen” und die “Hedonisten”. Diese Verwirrung nutzt Benedikt Kaiser für seine obigen Aussage, die auf den Leser den Eindruck macht, als hätte die gesamte Unterschicht zu 28% AfD gewählt. Das allerdings ist falsch, das Milieu der “Prekären” stellt nur eines von drei Unterschichten-Milieus mit lediglich 9% Bevölkerungsanteil. Bereits bei den Traditionellen fällt der Wahlerfolg mit 16% deutlich geringer aus, hier hält man stark an Bewährtem (CDU) fest, während bei den Hedonisten — trotz ähnlich schlechter, ökonomischer Lage — begeistert linksgrün gewählt wird.
“Das zeigt, dass Die Linke den Kampf um ihr früheres Kernmilieu der Prekären bereits weitgehend [gegen die AfD] verloren hat.” heisst es nun im Resümee der Studie, das wiederum von Benedikt Kaiser natürlich freudig aufgegriffen wird. Und genau hier liegt das politische Framing. Denn tatsächlich gilt dieser Befund nur für die kleine Milieu-Blase am mittleren, unteren Rand, die nicht mehr als 9% Bevölkerungsanteil stellt. Alleine dort — und nirgendwo anders — verlieren SPD und Linke stark, während die AfD mit einem 18%-Plus durch die Decke geht. (Zweifelhaft ist zudem die Aussage, die “Prekären” wären das Kernmilieu der Linken. Sie findet auch bei den Hedonisten und einigen Topverdiener-Segmenten überdurchschnittlich Zuspruch.)
Bei konservativen Unterschicht-Milieu, den “Traditionellen” dagegen gewinnt die AfD hauptsächlich von der CDU, während die Linke in diesem Segment keine Rolle spielt. Und beim linken Unterschicht-Mileu, den “Hedonisten” ist es umgekehrt: hier ist die CDU nahezu irrelevant und die AfD bleibt bei unterdurchschnittlichen 10%, während Linke und Grüne Spitzenergebnisse erzielen.
Ähnlich differenziert verhält es sich bei den Mittelschicht-Milieus. Ausschließlich in der Oberschicht ist Wahl der AfD signifikant seltener. Drittelt man die Gesellschaft einfach ökonomisch, so erhält man am Ende dieses relativ unspektakuläre AfD-Ergebnis:
Über ein Intervall, das zwei Drittel der Gesellschaft umfasst, erzielt die AfD also ein relativ homogenes Ergebnis. Was im Kontext eines anderen Zahl, nämlich der weitgehenden ökonomischen Zufriedenheit sowohl der gesamten Gesellschaft als auch der AfD-Wähler darauf hinweist, daß es nicht die prekäre oder abstiegsbedrohte Lage ist, die Bürger zu AfD-Wählern macht.
Die eigentliche Anomalie liegt also nicht in der Unterschicht, wie die Bertelsmannstudie aus mutmaßlich politisch motivierten Gründen glauben machen will, sondern in der Oberschicht. Das obere Drittel der Gesellschaft wählt nur halb so oft AfD wie der Rest der Gesellschaft. Wobei die Oberschicht ähnlich zersplittert wie die anderen Schichten ist, die klischeehafterweise angenommene Grünen-Präferenz zeigen nur einige Segmente, während rational-leistungsorientierte Milieus wie die “Performer” für die Grünen wenig übrig haben und 2017 auch Anzeichen von Protestwahl zeigten. Sowohl CDU als auch SPD verlieren durchaus, doch profitiert im Oberschicht-Milieu davon weniger die AfD als die FDP.
Liest man also die Studie ohne Klassenkampf-Brille, so zeichnet sie gerade in Bezug auf die innerparteilichen Konflikte der AfD ein sehr diffuses, schwieriges Bild. Der herbeikonstruierte Kampf zwischen AfD und Linker um die Prekariats-Stimmen spielt jedenfalls auf das Ganze bezogen nur eine untergeordnete Rolle. Die Unterschicht ist stark fragmentiert, mit einer linken und “grundsätzlichen” (also radikalen) Ausrichtung, wie Kaiser und die solidarischen Patrioten des AfD-Flügels sie wünschen, könnte man vielleicht im prekären Milieu tatsächlich noch Zugewinne erzielen, würde dabei aber wahrscheinlich die beiden anderen Erfolgsmilieus, die Traditionellen und die bürgerliche Mitte, verprellen. Und die Hedonisten stellen vermutlich eher die dezidiert linke #fckafd-Fraktion, dürften also trotz trister wirtschaftlicher Lage von rechts kaum ansprechbar sein.
Ähnlich verhält es sich in der Mittelschicht. Auch hier ist sichtbar der ökonomische Faktor untergeordnet, die weltanschaulich Beweglicheren der Mitte wählen überproportional AfD, der konservative Flügel hält am Bewährten fest, der progressive sowieso, er hat ja aus seiner Sicht auch keinen Grund zur Beschwerde.
Auch in der Oberschicht lässt sich Protestwahl-Potential ausmachen, nur daß hier die FDP statt der AfD als Protestmittel gewählt wird. Einige Milieus wären wahrscheinlich mit einem liberalistischen Lucke-Meuthen-Kurs durchaus ansprechbar. Allerdings mit der Einschränkung, daß dezidiert liberalkapitalistische Programmatik und Rhetorik vielleicht die prekären und kleinbürgerlichen Schichten (gerade im kapitalismuskritischen Osten), die aktuell zu den Kernmilieus der AfD zählen, vor den Kopf gestoßen würden.
Unter dem Strich lässt die Bertelsmann-Studie also schlichtweg keine einfachen Antworten zu, wenn man sie nüchtern liest.
(Die spannendste Stelle ist meines Erachtens der Übergang von der “bürgerlichen Mitte” ins “sozial-ökologische Milieu”. Es gibt an dieser Stelle weder eine bedeutende Werte- noch eine bedeutende Einkommens-Divergenz. Und doch findet hier ein radikales, politisches Kippen statt, dessen Position im Zentrum der Gesellschaft vielleicht nicht zufällig ist.)
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2. Wie kommen die Unterschiede zwischen Ost und West zustande? Spekulative Spurensuche
Nun ist natürlich noch die Anfangsfrage offen: wenn weder solidarisch-patriotische Programmatik noch sozioökonomischer Hintergrund ausschlaggebenden Einfluß darauf haben, wieso jemand AfD wählt — wieso ist die AfD im Osten dann so viel erfolgreicher? Zumindest die in diesem Rahmen vorliegenden Daten können darauf keine Antwort geben. Begeben wir uns also ins buntschillernde Reich der Spekulation.
Was zunächst ins Auge fällt, ist die massive Wahrnehmung der AfD als Partei, die sich zu wenig von Rechtsextremismus abgrenzt. Daran allerdings scheint es gar nicht zu liegen, eine Differenz zwischen Ost und West ist zwar erkennbar, doch sie ist erstaunlich gering. Dreht man aber die Fragestellung um, fragt also, wie groß die Zustimmung zur AfD ist, stößt man auf einen bemerkenswerten Unterschied. Die Aussage “Ich finde es gut, daß die AfD den Zuzug von Flüchtlingen und Ausländern stärker begrenzen will” als eine der Kernthesen der AfD bejahen im Osten ungefähr die Hälfte aller (!) Wähler, im Westen sind es nur 25 — 33%. Anscheinend stimmen also im Westen schlichtweg weniger Bürger dem AfD-Programm zu.
Auch über die Gründe kann hier nur spekuliert werden: Es ist seit längerem feststellbar, daß in Bezug auf linksliberale Politik sich EU-weit eine Ost-West-Spaltung entwickelt hat. In den meisten osteuropäischen Ländern regieren heute konservative bis rechtspopulistische Parteien, die eine stabile Mehrheit ihrer Bevölkerung hinter sich versammeln können, und sich vehement gegen Massenmigration, LGBT-Ideologie und Aufgabe ihrer nationalen Souveränität wehren. Was wiederum daran liegen könnte, daß es hinter dem Eisernen Vorhang keine 68er Bewegung gab. Denn, und das ist zu beachten, die 68er Bewegung war nie explizit politisch orientiert, bis in die Gegenwart hinein verharrte ihr politisches Projekt, die Grünen, zumeist bei Wahlergebnissen im einstelligen Bereich. Die 68er waren/sind eine kulturelle Bewegung, eine Bewegung des Bürgertums, eine Bewegung der Zivilgesellschaft bis in lokale Gemeinderäte hinein, wo sie sich gegen den Bau von Umgehungsstraßen zum Schutz aussterbender Salamanderarten engagieren. Sie sickerten ein in die Redaktionen, in die Verlage, in den akademischen Betrieb. Sie prägten das kulturelle Klima, den diskursiven Stil der letzten Jahrzehnte, sie schufen überdies weitverflochtene Netzwerk- und Aktivistenstrukturen, womit sie ihre Werte und Projekte in die Gesellschaft hineintragen. Vielleicht also ist die Annahme nicht ganz absurd, daß im Zuge dieser Kulturrevolution die Zustimmung zu multikulturellen Konzepten in Westdeutschland einfach langsam gewachsen ist, der “common sense” sozusagen um die entscheidenden Prozentwerte Richtung linksgrün verschoben wurde.
(Parallelgedanke: es könnte auch am höheren Migrationsanteil liegen. Doch das ist eine schwer zu beantwortende Frage, da Migranten erstens seltener zur Wahl gehen, und zweitens die AfD gerade von osteuropäischen Migranten gerne gewählt wird. Bereits der Volksverpetzer musste in einem irritierten Beitrag damit umgehen, daß die AfD-Fraktion im Bundestag nach Linken und Grünen die meisten Migranten hat. Diese These klingt also im Kontext populärer “ethnic vote” Theorien einleuchtend, doch wie viele populäre rechte Thesen zerbröselt sie bei näherer Betrachtung.)
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3. Ein weiteres Oasenflimmern am Horizont: Corona.
Wirtschaftliche Verwerfungen durch Corona werden von vielen Solidarischen Patrioten — eben gerade weil sie sich in diese ideologische Sackgasse hineinmanövriert haben und schon lange nichts anderes mehr denken können — mittlerweile geradezu herbeigesehnt. “Nach dem mitunter schmerzhaften ökonomischen Erwachen in der Post-Corona-Zeit werden wirtschaftliche Themen explizit jene Themen seien, mit denen man Leute aufwecken wird können.” frohlockt auch Benedikt Kaiser bereits und legt erneut einen Köder aus, um die Verzweifelten weiterzulocken.
Doch es sei abschließend angemerkt: Corona ist keine Systemkrise, keine Krise des Kapitalismus, des Liberalismus, der Multikulturalisierung oder anderen rechten Kernthemen. Corona ist lediglich eine ansteckende Krankheit, zu deren Bekämpfung der gesellschaftliche und wirtschaftliche Betrieb temporär drastisch heruntergefahren wird. Zweifellos wird ein massives Konjunkturpaket notwendig sein, um das System wieder hochzufahren.
Doch erstens ist dieses Paket von den Eliten bereits auf den Weg gebracht, mit einer Strategie in ihrem Sinn (Vereinigte Staaten von Europa) verknüpft worden und wird über die verbündeten Medien den Unzufriedenen gegenüber recht überzeugend angepriesen werden. Die EU wird das Geld auf die Unglücklichen regnen lassen, um damit ihr eigenes Image zu verbessern und den Zweiflern endlich ihre Notwendigkeit in Krisenzeiten, ihre großherzige paternalistische Güte zu beweisen. (Daß der Geldregen insgeheim mit Inflation und schleichender Verarmung bezahlt wird, wird wahrscheinlich niemanden interessieren, denn das ist bereits seit Einführung des Euros für die reichen Nord-EU-Länder der Fall, und hat dennoch bislang kaum politische Mobilisierung erzeugt.)
Zweitens werden nach Corona Bedarf und Konsum wieder dasselbe Niveau wie vor der Krise erreichen. Denn, wie gesagt: es ist keine Systemkrise. Banken und der Staat werden deshalb relativ großzügig sein, um Neustart-Kredite zu gewähren, der Neuaufbau wird mutmaßlich sehr schnell vonstatten gehen. Lediglich bereits vor der Krise in Schieflage befindliche Unternehmen oder Sparten werden vielleicht nicht zurückkehren.
Und drittens: sogar wenn ich mich täuschen sollte und tatsächlich eine Wirtschaftskrise weimarischen Ausmaßes eintritt, so steht ein umfangreicher, gut organisierter und theoretisch geschulter Apparat bereit, um mittels eines ökosozialistischen “Great Reset” die Frustrationsenergien auf ein globalistisches, klassisch linkes Ziel zu richten. Der Rechte hofft auf die Wirtschaftskrise, doch besser wäre es womöglich, er würde Angst davor verspüren. Die Polemik bezüglich der Fixierung der “Neuen Linken” auf identitätspolitische Themen übersieht, daß in den letzten Jahren eine neue Garde aggressiver Junglinker hervorgetreten ist, die nur zu gerne in oldschooliger Romantik von Klassenkampf, Umverteilung und Enteignung badet. Dabei besitzt sie den Vorteil einer umfassenden kulturellen wie medialen Hegemonie, um ihre Ideen zu popularisieren, während die AfD (die dann eine vergleichbare Ansprache wählen würde) für weite Teile der Bevölkerung als unwählbar gilt. Sofern also 2 Fraktionen mit denselben Argumenten antreten, wobei die eine sozial geächtet, bekämpft und totgeschwiegen wird, während die andere jeden Abend aus dem Fernseher grüßt — welche wird wohl die Unzufriedenen weitgehend einsammeln?
Interessant hierzu folgende Aussagen von K&K (SR-podcast “Am Rande der Gesellschaft” #16 von Ende März, ab 50:15):
Kositza: “Ich würde auf den Begriff ‘Arbeiter’ verzichten, da Klassenkampfbegriff, der nicht mehr opportun ist.”
Kubitschek: “Ich halte daher diesen Krieg gegen das Liberale bzw. die Liberalen in der AfD katastrophal falsch, weil man sich doch über den Punkt der Normalität ganz und gar einig sein könnte. Dieser antikapitalistische Reflex, hier der Arbeiter dort der Ausbeuter […], das halte ich für einen überhaupt nicht zeitgemäßen Kampf. […] Entsetzlich, dass die AfD in eine Richtung kippt, in der wir noch mehr Bemutterung für den einzelnen Bürger brauchen, noch mehr Sozialstaat, noch mehr Ausgleich usw. Führt dazu, dass kein revolutionäres Potenzial entstehen kann und führt zu völliger Abhängigkeit, Ideenlosigkeit etc. Ich wünsche mir härtere Zeiten.”
https://youtu.be/yiseadeCPoQ
Schüchtern-aufrichtig in anderer Sache nachgefragt, weil man beim “Contemporary Odin” (noch) nicht kommentieren kann (und die angegebene Emailadresse “poststelle@…” nicht zu funktionieren scheint):
Könnten Sie mir bitte kurz bedeuten, was am folgenden Satz (etwas) dämlich sein soll:
»“Den Globalisten war der Nationalstaat als einziger ernstzunehmender Gegenspieler multinationaler Konzerne und supranationaler Organisationen ein Dorn im Auge.”
Das ist dann sogar der ansonsten pflegeleichten Alice Weidel ein klein wenig zu dämlich.«
Daß man sich damit “unnötig” als “Verschwörungsgläubiger” angreifbar macht?
Daß darin nicht zum Ausdruck kommt, daß auch “nationales” Kapital nach Bedarf, also wenn sich’s rechnet, schon immer ein “vaterlandsloser Gesell” war?
Übersehe ich etwas?
Es ist einfach ein sehr platter, kitschiger Satz, das den ökonomischen, politischen und ideologischen Aspekten nicht gerecht wird, die in den letzten Jahrzehnten die Debatten und Entwicklungen geprägt haben. Stattdessen, in der Tat, erschafft man mit “den Globalisten” nur eine Art neo-antisemitischer Verschwörungstheorie, einen unsichtbaren, dämonischen Feind, in den eine vage, destruktive Energie hineinprojiziert wird. In meinem Text “Neubau des deutschen Reiches: Gemeinwohl” habe ich mich selbst auch mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Ich leugne also nicht das Vorhandensein von etwas, dem man den Namen “Globalismus” geben könnte, und trotzdem wird eine Opposition nur dann konstruktiv wirken können, besser sein als das Bestehende, wenn Kritik und Auseinandersetzung ein ernsthaftes Niveau erreichen.