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Sackgasse Solidarischer Patriotismus?

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Der “soli­da­ri­sche Patrio­tis­mus” tritt als Strö­mung inner­halb der AfD mit dem Anspruch an, die rich­ti­ge Rich­tung für den zukünf­ti­gen Erfolg der AfD zu sein. Vor­den­ker Bene­dikt Kai­ser betä­tigt sich dabei nicht nur als Theo­re­ti­ker, son­dern auch als enga­gier­ter Poli­tik­be­ra­ter und inter­pre­tiert in regel­mä­ßi­gen Arti­keln für den Blog der Sezes­si­on Wahl- und Umfra­ge­er­geb­nis­se, um der AfD stra­te­gi­sche Rat­schlä­ge mit auf den Weg zu geben. Gera­de die gro­ße Erfolgs­kluft zwi­schen Ost- und West-AfD dient ihm dabei regel­mäs­sig als Argu­ment, um für sei­ne eige­ne Pro­gram­ma­tik zu wer­ben.
Sein Enga­ge­ment indes ist nicht ganz selbst­los, denn Kai­ser ist nicht nicht ledig­lich Anhän­ger des “soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus”, son­dern auch zufäl­li­ger­wei­se Ver­fas­ser des gleich­lau­ten­den Buches und dürf­te sich damit auf dem in etwa sel­ben Neu­tra­li­täts­le­vel befin­den, wie ein Rechts­ex­tre­mis­mus­ex­per­te von der Anti­fa, besitzt also zwei­fel­los ein aus­ge­präg­tes Eigen­in­ter­es­se an einer Deu­tung im eige­nen, poli­ti­schen Sinn. Ein wenig Skep­sis also soll­te ange­bracht sein, und die­se Skep­sis, so bestä­tigt sich schnell, ist ange­bracht, bei Kai­sers for­schen Vor­stö­ßen wird die Dif­fe­renz zwi­schen Ana­ly­se und Agi­ta­ti­on regel­mäs­sig ein­ge­schmol­zen. Zeit für den Fak­ten­check von rechts.

A: IST DER SOLIDARISCHE PATRIOTISMUS FÜR DIE AFD-ERFOLGE IN OSTDEUTSCHLAND VERANTWORTLICH?

“Der bür­ger­lich-oppor­tu­nis­ti­sche Kurs hat noch nir­gends bewie­sen, daß er Erfol­ge ein­fah­ren kann, so man­tra­haft auch betont wird, man müs­se dies im Wes­ten so betrei­ben, weil man andern­falls das Bür­ger­tum nicht errei­che. … Es spricht also alles dafür, das soli­da­risch-patrio­ti­sche Erfolgs­re­zept aus dem Osten auch in west­li­chen Bun­des­län­dern zu ver­su­chen.” (Bene­dikt Kai­ser)

Aus dem Umstand also, daß Bun­des­län­der, in denen die AfD mit “soli­da­risch-patrio­ti­scher” Aus­rich­tung auf­tritt, in der Ver­gan­gen­heit bei Wah­len bemer­kens­wer­te Erfol­ge erzielt wur­den, wäh­rend Bun­des­län­der mit “bür­ger­lich-oppor­tu­nis­ti­schem” Kurs deut­lich schwä­cher abschnei­den, schließt Kai­ser, daß der Grund für den Erfolg in eben­die­ser “soli­da­risch-patrio­ti­schen” Aus­rich­tung lie­gen müs­se. Die­se Ver­mu­tung ist natür­lich nahe­lie­gend, ande­rer­seits aber fällt sie mit der Tren­nung von Ost- und West­deutsch­land zusam­men, zwei Regio­nen, die sich in so gut wie jeder sta­tis­ti­schen Erhe­bung signi­fi­kant von­ein­an­der unter­schei­den, was ver­mu­ten lässt, daß wei­te­re Fak­to­ren eben­falls eine Rol­le spielen. 

Doch soll die­ser The­se zunächst ein­mal nach­ge­gan­gen wer­den. Wie kön­nen wir über­prü­fen, ob sie zutrifft? Nun, läge tat­säch­lich die Ursa­che für den grö­ße­ren Zuspruch im Osten in der sozia­len Ori­en­tie­rung der Ost-Ver­bän­de, müss­te das in den Umfra­gen der Mei­nungs­for­scher sicht­bar wer­den, die AfD müss­te also in die­sen Bun­des­län­dern als sozia­le Par­tei wahr­ge­nom­men und auf­grund ihrer sozia­len Aus­rich­tung gewählt werden.

Genau das ist aller­dings nicht erkenn­bar. (Ich ver­wen­de im Fol­gen­den die Daten der ARD-Wäh­ler­ana­ly­sen, die auch Bene­dikt Kai­ser nutzt.) Begin­nen wir in Sach­sen, wo die AfD 2019 mit 27,5% ihren bis dato größ­ten Erfolg erziel­te. Fragt man nun aber den säch­si­schen Wäh­ler, wel­che Par­tei sei­nes Erach­tens für “sozia­le Gerech­tig­keit” stün­de, fin­det sich die AfD auf dem letz­ten Platz wie­der. (Die Grü­nen tau­chen fas­zi­nie­ren­der­wei­se in den Fra­gen nach “sozia­ler Gerech­tig­keit” bei der ARD nie­mals auf, was ver­mu­ten lässt, daß sie noch hin­ter der AfD lägen, von den grü­nen­freund­li­chen ARD-Mit­ar­bei­tern aber vor die­ser unschmei­chel­haf­ten Bloß­stel­lung durch Ver­schwei­gen geschützt wer­den.) Den­noch aber hat sie wohl­ge­merkt in Sach­sen ein her­aus­ra­gen­des Ergeb­nis erzielt. Unter den Moti­ven, wie­so die Wäh­ler sich für die AfD ent­schie­den haben, sto­ßen wir auf ganz ande­re Grün­de: ganz oben ste­hen Zuwan­de­rung und Kri­mi­na­li­tät, auch Pro­test­wahl spielt eine Rol­le, sozia­le Fra­gen dage­gen sind klar untergeordnet.

Deckungs­glei­ches Bild in Thü­rin­gen. Obwohl dort mit Björn Höcke die popu­lä­re Sym­bol­fi­gur des “Soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus” wal­tet, wird auch die Thü­rin­ger AfD von der All­ge­mein­heit in keins­ter Wei­se als sozia­le Par­tei wahr­ge­nom­men. (“Löh­ne, Ren­te” wirkt womög­lich auf den ers­ten Blick wie ein poten­ti­el­les SolPat-The­ma, taucht aller­dings auch bei den ande­ren Par­tei­en in ähn­li­cher Höhe auf — es scheint also eine ganz all­ge­mei­ne Sor­ge zu sein, aus der kei­ne spe­zi­fi­sche Par­tei­prä­fe­renz abge­lei­tet wird.)

Was den Wäh­ler dage­gen tat­säch­lich Rich­tung AfD treibt, zeigt die Abfra­ge kon­kre­ter Ansich­ten. Es sind bis an die 100% der The­men­kom­plex von Mas­sen­mi­gra­ti­on, Isla­mi­sie­rung und kurz gesagt dem, was die Neue Rech­te den “Gro­ßen Aus­tausch” nennt. In die­sem Kon­text tau­chen durch­aus auch öko­no­mi­sche Zukunfts­ängs­te auf, selbst­ver­ständ­lich, doch wird sich noch zei­gen, daß dar­in kei­ne Prä­fe­renz für sozia­lis­ti­sche Poli­tik lie­gen muss. Ers­tes Fazit also: die AfD wird im Osten weder als sozia­le Par­tei wahr­ge­nom­men, noch wegen ihrer sozia­len Aus­rich­tung gewählt.

Wen­den wir nun den Blick gen Wes­ten, wo die Wahl­er­geb­nis­se deut­lich nied­ri­ger lie­gen. Bene­dikt Kai­ser bemüht sich nach Kräf­ten, einen Zusam­men­hang zwi­schen dem frag­los kläg­li­chen Ergeb­nis von 5,3% in Ham­burg und der libe­ral-bür­ger­li­chen Aus­rich­tung des Lan­des­ver­ban­des her­stel­len: “Das kras­se Gegen­teil muß für die in Ham­burg zahl­rei­chen sozi­al schwä­che­ren Gegen­den gel­ten. Die AfD woll­te sich nicht um sie bemü­hen, paß­te es doch nicht zur libe­ral­kon­ser­va­ti­ven Pro­gram­ma­tik, die nicht nur welt­an­schau­lich falsch war, son­dern auch ein stra­te­gi­sches Desas­ter dar­stellt. In den ein­woh­ner­star­ken und damit elek­to­ral beson­ders bedeu­ten­den Arbei­ter­be­zir­ken sieg­te kon­se­quen­ter­wei­se die Sozi­al­de­mo­kra­tie. […] Die AfD erhielt in den die­sen von Arbei­tern und Gering­ver­die­nern bewohn­ten Stadt­tei­len den­noch 12 Pro­zent – und das ohne jedes (pro­gram­ma­ti­sches, stra­te­gi­sches usw.) Bemü­hen um sie. Was hier mög­lich gewe­sen wäre, ist selbsterklärend.”

Selbst­er­klä­rend ist es natür­lich nicht: die Argu­men­ta­ti­on soll hier offen­kun­dig lau­ten, daß die über 20% im Osten durch die sozi­al bis sozia­lis­ti­sche Aus­rich­tung der ost­deut­schen Lan­des­ver­bän­de zustan­de­ge­kom­men ist, weil die­se die unte­ren Ein­kom­mens­seg­men­te, bzw. ent­täusch­te links­ori­en­tier­te Wäh­ler poli­tisch akti­vie­ren konn­ten. In Ham­burg dage­gen wären durch einen “bür­ger­lich-oppor­tu­nis­ti­schen”, bzw. “libe­ral­kon­ser­va­ti­ven” Wahl­kampf die­se Milieus abge­schreckt wor­den, wäh­rend gleich­zei­tig das umwor­be­ne Bür­ger­tum aber ableh­nend blieb. Die­ser ja durch­aus nach­voll­zieh­ba­re Gedan­ken­gang wird aller­dings wie­der­um nir­gend­wo in den Wahl­um­fra­gen abge­bil­det. Statt­des­sen ist bemer­kens­wert, daß in Bezug auf die sozia­le Wahr­neh­mung der AfD zwi­schen Ham­burg, Sach­sen, Thü­rin­gen und Baden-Würt­tem­berg kaum ein signi­fi­kan­ter Unter­schied fest­stell­bar ist.

In Bezug auf die sozi­al schwä­che­ren Milieus hat Kai­ser zumin­dest nicht ganz unrecht: der Anteil der­je­ni­gen, die ihre eige­ne wirt­schaft­li­che Lage sub­jek­tiv als “schlecht” ein­schät­zen, ist bei der AfD bun­des­weit höher. Wo die meis­ten ande­ren Par­tei­en um die 90% an wirt­schaft­lich zufrie­de­nen Wäh­lern auf­wei­sen, sind es bei der AfD nur um die 75%. Doch ist die­ser Wert immer noch ver­hält­nis­mä­ßig hoch: wenn 3/4 aller AfD-Wäh­ler gar kei­ne aku­ten öko­no­mi­schen Pro­ble­me emp­fin­den, kann dar­in kaum ein zen­tra­les Wahl-Motiv gese­hen wer­den. Und über­dies ist der Anteil an sich wirt­schaft­lich bedrängt Füh­len­den in Ost und West wie­der­um qua­si-iden­tisch. Was zeigt, daß die schwa­chen Ergeb­nis­se im Wes­ten gera­de nicht durch Demo­bi­li­sie­rung der­sel­ben ver­ur­sacht wurden.

Das zwei­te Fazit lau­tet also: wor­in auch immer die Grün­de für das frag­los deso­la­te Abschnei­den in Ham­burg (bzw. das all­ge­mein schlech­te­re Im Wes­ten) lie­gen mögen: es sind nicht die pro­gram­ma­ti­schen Unter­schie­de in Bezug auf eine libe­ra­le oder sozia­le Aus­rich­tung der jewei­li­gen Lan­des­ver­bän­de. Nicht jede Kor­re­la­ti­on ist eine Kau­sa­li­tät — und genau die­se klas­si­sche Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on liegt hier vor. Denn wenn die AfD auch den höchs­ten Anteil an öko­no­misch Unzu­frie­de­nen unter ihren Wäh­lern ver­sam­melt so wird sie doch gleich­zei­tig als die neben den Grü­nen am wenigs­ten sozia­le Par­tei wahr­ge­nom­men. Weder die eige­ne sozia­le Lage noch die sozia­le Aus­rich­tung der AfD war also bei den bis­he­ri­gen Wah­len ent­schei­dend. Über­dies neh­men drei Vier­tel der AfD-Wäh­ler ihre wirt­schaft­li­che Situa­ti­on als “gut” wahr — weni­ger als in ande­ren Par­tei­en, aber den­noch eine deut­li­che Mehrheit. 

Viel­mehr scheint es, als wäre die AfD längst in ihrer eige­nen dis­kur­si­ven Par­al­lel­ge­sell­schaft gefan­gen: wäh­rend intern immer erbit­ter­te­re Kon­flik­te zwi­schen dem sozialen/proletarischen/“grundsätzlichen” und dem liberalen/bürgerlichen/“gemäßigten” Flü­gel als ein Kampf um Sein oder Nicht­sein geführt wer­den, neh­men die Wäh­ler sol­che regio­na­len Pro­gramm-Unter­schie­de offen­sicht­lich kaum wahr, die AfD wird bun­des­weit rela­tiv ein­heit­lich rezi­piert und gera­de sozi­al­po­li­ti­sche Aspek­te sind län­der­über­grei­fend dabei weit­ge­hend irrele­vant. Die Fra­ge, was die AfD im Wes­ten weni­ger erfolg­reich macht, kann damit zunächst nicht beant­wor­tet wer­den. Doch das angeb­li­che “soli­dar-patrio­ti­sche Erfolgs­re­zept” war es zumin­dest bei den bis­he­ri­gen Wah­len offen­kun­dig nicht.

B: IST DIE AFD EINE ARBEITERPARTEI?

“Die AfD ist auch bei den NRW-Kom­mu­nal­wah­len trotz dezi­diert kli­schee­bür­ger­li­cher Pro­gram­ma­tik nicht in bür­ger­lich gepräg­ten Regio­nen stark, son­dern dort, wo Arbei­ter – ob Fach­ar­bei­ter oder ehe­ma­li­ge Zechenk­um­pels — und ihre Fami­li­en einen rele­van­ten Anteil an der Bevöl­ke­rung aus­ma­chen: 12,9 Pro­zent in Gel­sen­kir­chen, 9,29 Pro­zent in Duis­burg und 7,59 Pro­zent in Ober­hau­sen unter­strei­chen dies.” (Bene­dikt Kai­ser)

In The­se 1 ging es um die pro­gram­ma­ti­sche Aus­rich­tung, The­se 2 dreht sich um die Ziel­grup­pe: die AfD ist unter denen, die Kai­ser “Arbei­ter” nennt, erfolg­reich, sagt Kai­ser, wäh­rend das, was Kai­ser “Bür­ger­tum” nennt, trotz einer Aus­rich­tung, die Kai­ser “kli­schee­bür­ger­li­che Pro­gram­ma­tik” nennt und mut­maß­lich ein vages Feind­bild wie “libe­ra­ler Kapi­ta­lis­mus” meint, kaum poli­ti­sches Inter­es­se zeigt. Grund dafür liegt laut Kai­ser in den kom­for­ta­blen mate­ri­el­len Ver­hält­nis­sen: “Solan­ge die mate­ri­el­le Sicher­heit in Län­dern wie NRW gege­ben ist, wer­den Älte­re wei­ter CDU als Anker der Sta­bi­li­tät wäh­len und Jung­wäh­ler die imma­te­ri­el­len Fra­gen beackern­de Wohl­stands­lin­ke der Grü­nen favorisieren.”

Über­prü­fen wir auch die­se The­se. Glück­li­cher­wei­se ist das bereits im Jahr 2018 vom “Infor­ma­ti­ons­dienst der deut­schen Wirt­schaft” unter­nom­men wor­den. Dabei zeigt sich aber, daß öko­no­mi­sche Kenn­zah­len AfD-Erfol­ge nicht erklä­ren kön­nen. AfD-Hoch­bur­gen exis­tie­ren sowohl in den hoch­gra­dig arbeits­lo­sen, pro­le­ta­risch gepräg­ten Regio­nen des Ruhr­ge­biets, im länd­lich gepräg­ten CSU-Kern­land Ost­bay­ern, wo nahe­zu Voll­be­schäf­ti­gung herrscht, es gibt sie sowohl in den libe­ra­len Gut­ver­die­ner-Regio­nen Süd­deutsch­lands als auch im struk­tur­schwa­chen, kapi­ta­lis­mus­kri­ti­schen Osten. Die­se Regio­nen sind öko­no­misch und sozio­lo­gisch kaum auf einen gemein­sa­men Nen­ner zu brin­gen. Sie schei­nen über­dies auch unab­hän­gig vom loka­len Migran­ten­an­teil vor Ort zu sein, der spe­zi­ell in Ost­bay­ern und Sach­sen rela­tiv nied­rig ist. 

Die Annah­me also, daß der AfD-Wäh­ler auf­grund einer unmit­tel­ba­ren sozio­öko­no­mi­schen Betrof­fen­heit zum Rechts­po­pu­lis­mus grif­fe, wird nicht bestä­tigt. Allen­falls, so ver­su­chen ernst­haf­te­re Deu­tungs­ver­su­che zu erklä­ren, zeich­net der AfD-Wäh­ler sich durch ein pri­mär sub­jek­ti­ves Bedroht­heits­ge­fühl aus, das von sei­ner objek­ti­ven öko­no­mi­schen Situa­ti­on weit­ge­hend unab­hän­gig zu sein scheint. “Es geht nicht um Arbeits­lo­sig­keit, son­dern um die Angst davor. Nicht um Armut, son­dern um die Befürch­tung, sei­ne gesell­schaft­li­che Stel­lung nicht hal­ten zu kön­nen. Ob jemand die AfD wählt, hängt vor allem von der sub­jek­ti­ven Wahr­neh­mung ab und weni­ger von objek­ti­ven Kri­te­ri­en wie dem Ein­kom­men.” stellt eine Stu­die der Hans-Böck­ler-Stif­tung fest. Öko­no­mi­sche Aspek­te spie­len dabei nur eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le: “Es ist ein Gefühl des Kon­troll­ver­lus­tes, des Fremd­be­stimm­seins, das offen­bar bei den AfD-Wäh­lern vor­herrscht. Man fürch­tet sich vor Glo­ba­li­sie­rung, offe­nen Gren­zen und hoher Zuwan­de­rung. Aus­ge­prägt sind die Zwei­fel am Funk­tio­nie­ren der Demo­kra­tie und an der Glaub­wür­dig­keit poli­ti­scher Insti­tu­tio­nen. Vie­le AfD-Wäh­ler füh­len sich von der Poli­tik ver­nach­läs­sigt. Nur sie­ben Pro­zent haben Ver­trau­en in die Bun­des­re­gie­rung, wäh­rend es über alle Wäh­ler­grup­pen hin­weg 35 Pro­zent sind.”

Das ist eine außer­or­dent­lich wich­ti­ge Erkennt­nis. Denn wenn wir hier den Begriff “Angst”, der in Estab­lish­ment-Krei­sen ger­ne zur Patho­lo­gi­sie­rung und Abwer­tung der unge­lieb­ten Abweich­ler ver­wen­det wird, sozu­sa­gen nach rechts wen­den, dann lau­tet er: Problembewußtsein.

Natür­lich zäh­len auch öko­no­mi­sche Aspek­te zum Nie­der­gangs­sze­na­rio, das vom AfD-Wäh­ler befürch­tet wird, doch zu sei­nem Pro­blem­be­wußt­sein kommt er gera­de nicht dadurch, daß er in sei­nem per­sön­li­chen oder beruf­li­chen Umfeld von den nega­ti­ven Fol­gen der Glo­ba­li­sie­rung betrof­fen wäre. Statt­des­sen taucht ein der eige­nen sozia­len Lage über­ge­ord­ne­tes Wer­te­pro­fil auf: Sou­ve­rä­ni­täts­ver­lust, Ableh­nung von Migra­ti­on und Glo­ba­li­sie­rung, Skep­sis gegen­über den ihm ent­frem­de­ten Insti­tu­tio­nen. Wie die­se Hal­tun­gen zustan­de kom­men, wis­sen wir an die­ser Stel­le schlicht­weg nicht. Denn jede Stu­die fragt nur das ab, was für sie von Inter­es­se ist, und da der poli­ti­sche Dis­kurs von öko­no­mis­ti­schen Prä­mis­sen geprägt ist — sei es aus libe­ral­ka­pi­ta­lis­ti­scher oder sozia­lis­ti­scher Sicht -, so wer­den nur die­se Aspek­te sys­te­ma­tisch behan­delt. Doch was aus einer öko­no­mis­ti­schen Gesell­schafts­in­ter­pre­ta­ti­on her­aus als “Abstiegs­angst” auf­scheint, oder vom Anti­fa­schis­mus-Akti­vis­ten als “Ras­sis­mus” skan­da­li­siert wird, ist letzt­lich viel­leicht doch die­ser tote Win­kel der mensch­li­chen Kon­sti­tu­ti­on, den die links­li­be­ra­len Poli­ti­keli­ten in ihrer uto­pi­schen Trans­for­ma­ti­ons- und Dekon­struk­ti­ons­be­ses­sen­heit weder sehen noch berück­sich­ti­gen wol­len: Hei­mat­ver­bun­den­heit, Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl gegen­über dem eige­nen Land und des­sen Zukunft, der Wunsch nach Bewah­rung eige­ner Wer­te, eige­ner Kul­tur — auch über den Hori­zont indi­vi­du­el­ler Befind­lich­keit hinaus.

Zuge­stan­den sei dabei, daß sich seit 2017 die Situa­ti­on in Deutsch­land durch­aus ver­scho­ben hat. Lagen noch 2017, qua­si zur Blü­te­zeit der Pro­test­wahl, die AfD-Wäh­ler durch­aus im soli­den, natio­na­len Mit­tel, so ist der AfD-Durch­schnitts­wäh­ler in den letz­ten Jah­ren zuneh­mend Rich­tung “gering gebil­de­te Män­ner der finan­zi­el­len Unter­schicht” gewan­dert. Doch geht die­se Ent­wick­lung eben gera­de nicht mit der Erschlie­ßung neu­er Wäh­ler­schich­ten ein­her, son­dern mit dem Gang ins Abseits, mit dem Ver­lust von Wäh­ler­zu­spruch und gesell­schaft­li­cher Akzep­tanz, gera­de in West­deutsch­land. Sie ist kein Grund zum Jubeln, son­dern ledig­lich Aus­druck wach­sen­der Isolation.

Der ein­zi­ge Punkt, wor­in Kai­sers Pro­jek­ti­on mar­xis­ti­scher Sche­ma­ta auf die poli­ti­sche Wirk­lich­keit tat­säch­lich ein Ergeb­nis zei­tigt, ist der hohe Anteil von “Arbei­tern” bei den AfD-Wäh­lern. Die­ser Anteil ist zwar auch rela­tiv zu sehen, in Ham­burg bei­spiels­wei­se haben zwar 11% der Arbei­ter AfD gewählt, gleich­zei­tig aber auch 16% die Grü­nen — spöt­tisch gesagt ver­tre­ten die Grü­nen in Ham­burg in höhe­rem Maße “Arbei­ter­in­ter­es­sen” als die AfD. Aber die sta­tis­ti­sche Signi­fi­kanz ist zwei­fel­los vorhanden.

Zunächst fällt auf: neben den “Arbei­tern” ist die AfD auch bei den “Selbst­stän­di­gen” über­durch­schnitt­lich erfolg­reich, eine Grup­pe, die gemein­hin als “libe­ral”, also leis­tungs­ori­en­tiert, indi­vi­dua­lis­tisch, mög­lichst wenig Staat und Steu­ern for­dernd, cha­rak­te­ri­siert wird. Gera­de im AfD-affi­nen Osten wäh­len para­do­xer­wei­se die Selbst­stän­di­gen beson­ders ger­ne AfD, was wie­der ein Indiz dafür ist, wie wenig der dezi­diert anti­li­be­ra­le, wohl­stands­skep­ti­sche, staats- und kon­trollaf­fi­ne Sozi­al­pa­trio­tis­mus den Wäh­ler inter­es­siert oder über­haupt wahr­ge­nom­men wird.

Dar­über­hin­aus muss aber reflek­tiert wer­den, daß das, was die zeit­ge­nös­si­sche Sta­tis­tik unter “Arbei­ter” ver­steht, mitt­ler­wei­le weit von den klas­sen­kämp­fe­ri­schen Kli­schees des 19. Jahr­hun­derts ent­fernt ist. Sie drückt ledig­lich die Art der Tätig­keit aus: der “Arbei­ter” ist jemand, der sein Geld mit kör­per­lich ori­en­tier­ter Arbeit ver­dient, der “Ange­stell­te” ist jemand, der sein Geld mit pri­mär geis­tig ori­en­tier­ter Arbeit ver­dient. Dabei ver­schwim­men in der Berufs­welt der Gegen­wart die Gren­zen zuneh­mend: durch­aus fällt unter die Schub­la­de des “Arbei­ters” der gesam­te Nied­rig­lohn-Zeit­ar­beits-Sek­tor, gleich­zei­tig aber ist der Fach­ar­bei­ter (also der Arbei­ter mit abge­schlos­se­ner Aus­bil­dung und Berufs­er­fah­rung) auf dem Arbeits­markt begehrt und wird in der Regel gut bezahlt. Durch­aus fällt umge­kehrt das Seg­ment der Aka­de­mi­ker und Füh­rungs­kräf­te unter die “Ange­stell­ten”, gleich­zei­tig aber auch die brei­te Mas­se an mit­tel­mä­ßig ver­die­nen­den Büro­an­ge­stell­ten, und gera­de im sozia­len und geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Bereich ist die Ent­loh­nung oft mäs­sig, die Arbeits­ver­trä­ge ledig­lich befris­tet oder Teil­zeit. Der Unter­schied zwi­schen Arbei­ter und Ange­stell­tem wird heu­te also ent­ge­gen aller mar­xis­ti­schen Roman­tik im Gros eher im Habi­tu­el­len als in den mate­ri­el­len Ver­hält­nis­sen oder gar Klas­sen­ge­gen­sät­zen zu suchen sein, es sind Kate­go­rien, die heu­te nur noch wenig Aus­sa­ge­kraft haben.

Der eigent­li­che Haken an der Fokus­sie­rung auf das Arbei­ter­mi­lieu aber ist, daß es im Zuge des Struk­tur­wan­dels in unse­ren west­li­chen Indus­trie­län­dern quan­ti­ta­tiv nur noch eine Rand­grup­pe stellt. Der Anteil von Arbei­tern bei den Beschäf­tig­ten sinkt von Jahr zu Jahr und liegt heu­te nur noch bei 16,6%.

Wenn Kai­ser also schwärmt: “Was hier mög­lich gewe­sen wäre, ist selbst­er­klä­rend, zumal die größ­ten Nicht­wäh­ler­re­ser­voirs auch noch eben­dort zu fin­den sind. […] In Bill­brook, einem sozi­al pre­kä­ren Stadt­teil mit 78 Pro­zent Aus­län­der­an­teil, erziel­te die AfD ihren Best­wert von 24 Pro­zent.” — dann ist das kurz gesagt eine Luft­num­mer, das Wahl­er­folgs­po­ten­ti­al ist auf­grund des gerin­gen Anteils von Arbei­tern an der Gesamt­be­völ­ke­rung rela­tiv beschränkt. Die angeb­li­che AfD-Bas­ti­on Bill­brook wird dabei unfrei­wil­lig zum Sym­bol die­ses Irr­glau­bens. Der Blick auf die Wiki­pe­dia-Sei­te offen­bart näm­lich fol­gen­des: “Bei der Euro­pa­wahl 2019 kam Bill­brook in die Schlag­zei­len, weil es der ein­zi­ge Stadt­teil Ham­burgs war, in dem die AfD mit 27,1 % stärks­te Par­tei wur­de. Auf­grund des hohen Anteils von nicht-EU-Aus­län­dern und Kin­dern waren bei rund 2000 Ein­woh­nern, davon rund 1400 Erwach­se­nen, aller­dings nur 361 wahl­be­rech­tigt, von ihnen gin­gen nur 92 zur Wahl und 25 stimm­ten für die AfD.” 

Rich­tig: 25 Stim­men. Bill­brook ist damit gera­de nicht Nach­weis für die Rich­tig­keit von Kai­sers Wahl­ana­ly­se, son­dern tra­gi­sches Sym­bol für die Rea­li­täts­fer­ne sei­nes ideo­lo­gi­schen Fetischs. Wo er sich mut­maß­lich noch ufer­lo­se, urwüch­si­ge, des­il­lu­sio­nier­te Arbei­ter­mi­lieus ima­gi­niert, die es nur poli­tisch zu akti­vie­ren gäl­te, blei­ben in der Rea­li­tät mage­re 25 Stim­men, das ehe­ma­li­ge Arbei­ter­quar­tier ist in der Rea­li­tät längst von einer migran­ti­schen Par­al­lel­ge­sell­schaft ersetzt wor­den. Ähn­li­ches gilt für das “pre­kä­re Milieu” in der Ber­tels­mann-Stu­die (sie­he Anhang). Auf die dort erziel­ten 27% ver­weist Kai­ser nur zu ger­ne — über­sieht dabei aber, daß die­ses Milieu nur einen Anteil von 9% bildet. 

Die Arbei­ter­klas­se, das gilt es zu akzep­tie­ren, exis­tiert in der Gegen­wart west­li­cher Gesell­schaf­ten nur noch als poli­ti­scher Mythos. Bereits die Links­par­tei hat das in West­deutsch­land schmerz­haft zu spü­ren bekom­men, und der soli­da­ri­sche Patri­ot macht sich aus sei­ner urei­ge­nen, von Jün­ger, Speng­ler und Kon­sor­ten gespeis­ten Per­spek­ti­ve ledig­lich dar­an, die Bor­niert­heit zeit­ge­nös­si­scher Salon­so­zia­lis­ten von rechts zu reproduzieren.

In der rea­len Gesell­schaft dage­gen liegt der Abitu­ri­en­ten­an­teil mitt­ler­wei­le bei 50%, drei Vier­tel aller Berufs­tä­ti­gen zäh­len zur Grup­pe der “Ange­stell­ten”. Hier liegt die Mit­te der Gesell­schaft, und will die AfD “Volks­par­tei” sein — und die­sen Anspruch beto­nen bekannt­lich gera­de die Anhän­ger des Soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus unent­wegt -, dann muss sie auch das Volk anspre­chen. “Arbei­ter­par­tei” oder “Volks­par­tei” — was als Gemein­sa­mes phan­ta­siert wird, ist im 21. Jahr­hun­dert fak­tisch zum Wider­spruch gewor­den. Es ist offen­kun­dig: wer wirk­lich Volks­par­tei sein will, wer über­dies eine hege­mo­nia­le Wen­de als lang­fris­ti­ges poli­ti­sches Ziel ver­folgt, und das tut die Neue Rech­te bekann­ter­ma­ßen, kann nicht “Arbei­ter­par­tei” sein, sich mit Erfol­gen in die­sem Seg­ment der Gesell­schaft zufrie­den­ge­ben oder gar die künf­ti­ge, poli­ti­sche Stra­te­gie danach ausrichten. 

C: ERZEUGT DER GLOBALISMUS EINEN NEUEN KLASSENKAMPF?

In Bezug auf das The­ma “Arbei­ter” legt Bene­dikt Kai­ser eine dif­fu­se Aalig­keit an den Tag. Einer­seits betont er regel­mä­ßig, ein über das Seg­ment der Arbei­ter hin­aus­ge­hen­des Spek­trum anspre­chen zu wol­len. Ande­rer­seits aber fällt er regel­mä­ßig den eige­nen Kli­schees zum Opfer, was zu extrem undif­fe­ren­zier­ten Aus­sa­gen führt. Bei­spiels­wei­se in die­sem Tweet, den ich stell­ver­tre­tend für die Hal­tung der Soli­da­ri­schen Patrio­ten bezüg­lich der Wahl­er­geb­nis­se in Baden-Würt­tem­berg und Rhein­land-Pfalz zitie­ren möchte. 

Doch um das ein­mal kurz vor­zu­rech­nen: 18% bei einem Bevöl­ke­rungs­an­teil von 16,6% bedeu­ten 3%, das sind 36% des Gesamt­ergeb­nis­ses von 8,3%. Die 7% der Ange­stell­ten bei einem Bevöl­ke­rungs­an­teil von 65% aber bedeu­ten 4,5%, also einen Anteil von 55% am AfD-Ergeb­nis. Die Man­da­te der AfD haben also fak­tisch die Ange­stell­ten in höhe­rem Maße gesi­chert als die Arbei­ter, Kai­ser kann nur nicht rechnen.

Den­noch sto­ßen wir an die­sem Punkt der Unter­su­chun­gen auf eine grund­le­gen­de Fra­ge: Wie­so sol­len es unbe­dingt die Arbei­ter, die Pre­kä­ren, die Schlecht­ver­die­ner, also, grob gesagt, die öko­no­misch unte­re Hälf­te der Gesell­schaft sein? Das hat diver­se ideen­ge­schicht­li­che und theo­re­ti­sche Hin­ter­grün­de, die hier aber nicht im Mit­tel­punkt ste­hen sol­len. In Bezug auf die aktu­el­le poli­ti­sche Situa­ti­on indes lässt sich die soli­dar­pa­trio­ti­sche Sicht­wei­se fol­gen­der­ma­ßen skiz­zie­ren: die Glo­ba­li­sie­rung als aus soli­dar­pa­trio­ti­scher Per­spek­ti­ve emi­nent kapi­ta­lis­ti­scher Vor­gang erzeugt Pro­fi­teu­re und Ver­lie­rer. Die Pro­fi­teu­re sind die links­grü­nen, urba­nen “Any­whe­res”, die Kai­ser in lau­ni­gen Momen­ten auch als “Bür­ger­tum” bezeich­net oder mit den “Ange­stell­ten” gleich­setzt. Die­ser nebu­lö­sen Grup­pe wird nun aus einem mar­xis­ti­schen Men­schen­bild her­aus unter­stellt, daß sie als öko­no­mi­sche Pro­fi­teu­re gegen­wär­ti­ger Poli­tik die­se selbst­re­dend wei­ter wäh­len wer­den, sie neh­men sozu­sa­gen in Bezug auf die Glo­ba­li­sie­rung eine Klas­sen­per­spek­ti­ve ein.

Die Ver­lie­rer dage­gen, eine Grup­pe, in der Kai­ser eben­so undif­fe­ren­ziert Begrif­fe wie “Arbei­ter”, “Volk”, “unter- und abstiegs­be­droh­te Mit­tel­schich­ten” oder auch “popu­lä­re Klas­sen” ver­quirlt, bil­den das poten­ti­el­le Wäh­ler­re­ser­voir der AfD. Denn sie sind die Ver­lie­rer von Glo­ba­li­sie­rung und Mas­sen­ein­wan­de­rung, sie sind dem Wett­be­werb sowohl des glo­ba­len Mark­tes als auch der Kon­kur­renz und zuneh­men­den Ver­drän­gung durch Migran­ten aus­ge­setzt. Gleich­zei­tig haben die ehe­mals lin­ken Par­tei­en die Unter- und Mit­tel­schicht weit­ge­hend auf­ge­ge­ben und enga­gie­ren sich nur noch für neu­lin­ke Wohl­stands­the­men wie Ener­gie­wen­de oder LGBT. Die Frucht ist also gewis­ser­ma­ßen reif, gepflückt zu wer­den, alles, was die AfD noch benö­tigt, ist Soli­da­ri­scher Patriotismus. 

So sieht, grob skiz­ziert, die Argu­men­ta­ti­on des soli­da­ri­schen Patrio­ten aus. Doch damit die­ses Sze­na­rio als AfD-Gewin­nerstra­te­gie funk­tio­niert, müs­sen zwei wesent­li­che Annah­men zutref­fen: ers­tens muss durch die gegen­wär­ti­ge Poli­tik die Anzahl wirt­schaft­lich Unzu­frie­de­ner hoch sein oder zumin­dest wach­sen. Und zwei­tens muss die­ser Kreis pri­mär durch links­ori­en­tier­te Pro­gram­ma­tik akti­vier­bar sein. Wie Björn Höcke es aus­drückt, und damit wie­der­um von Bene­dikt Kai­ser begeis­tert zitiert wird: “Nur mit einem kla­ren sozi­al­po­li­ti­schen Pro­fil läßt sich die gro­ße Wäh­ler­grup­pe der »klei­nen Leu­te« gewin­nen, die am meis­ten unter den Zumu­tun­gen der Glo­ba­li­sie­rung, des Kli­ma­wahns (Strom­prei­se!) und den Migra­ti­ons­fol­gen leidet.”

Jedoch, und der Leser ahnt es viel­leicht bereits: die­se Annah­men bestä­ti­gen sich aber­mals in der Rea­li­tät nicht. Zumin­dest was wirt­schaft­li­che Para­me­ter betrifft, scheint die Poli­tik unter Ange­la Mer­kel näm­lich durch­aus ein Erfolgs­mo­dell zu sein. Die wirt­schaft­li­che Zufrie­den­heit wächst seit 15 Jah­ren kon­ti­nu­ier­lich an, auch die Mas­sen­mi­gra­ti­on von 2015 hat­te dar­auf kei­nen Ein­fluß. Ein bedeut­sa­mer Unter­schied zwi­schen Ost und West ist auch schon lan­ge nicht mehr vor­han­den. Wo hier eine “abstiegs­be­droh­te Mit­tel­schicht” unter “Zumu­tun­gen der Glo­ba­li­sie­rung” zugrun­de gehen soll, bleibt ein Rät­sel. Man muss es gera­de­zu als Wunsch­den­ken bezeichnen. 

Und auch die Asso­zia­ti­on von Arbei­ter­schaft und sozia­lis­ti­scher Welt­an­schau­ung erweist sich bei nähe­rem Hin­se­hen als blo­ßes Kli­schee. Was der Arbei­ter wählt, ist viel­mehr stark von regio­na­len Milieus abhän­gig. Klas­sisch sozi­al­de­mo­kra­tisch wählt er nur in den urba­nen Gebie­ten West­deutsch­lands wie dem Ruhr­ge­biet oder Ham­burg. In der AfD-Hoch­burg Sach­sen dage­gen, ein Bun­des­land, das seit der Wen­de CDU-regiert ist und dabei von allen ost­deut­schen Län­dern die bes­te wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung genom­men hat, ist es nicht die Sozi­al­de­mo­kra­tie, son­dern die libe­ral­ka­pi­ta­lis­ti­sche CDU, die haupt­säch­lich mit der AfD um die Arbei­ter­stim­men kon­kur­riert. Und auch in Baden-Würt­tem­berg (von Bay­ern ganz zu schwei­gen) sind die Arbei­ter­mi­lieus tra­di­tio­nell tief­schwarz. Gera­de in Süd­deutsch­land, gera­de im länd­li­chen Raum besaß der Sozia­lis­mus und die von ihm selbst­er­nann­te “Arbei­ter­be­we­gung” als sozia­lis­ti­sche Deu­tung gesell­schaft­li­cher Pro­zes­se nie son­der­lich viel Sym­pa­thie, im Gegen­teil ist die Abnei­gung gegen “die Roten” dort oft tief ver­wur­zelt. “Rent­ner und Beam­te sind in der Wäh­ler­schaft leicht über‑, die Ange­stell­ten leicht unter­re­prä­sen­tiert. Letz­te­res gilt seit den 1980er-Jah­ren auch für die Arbei­ter, was den Cha­rak­ter der CDU/CSU als einer schicht­über­grei­fen­den Volks­par­tei unter­streicht. Grö­ße­re Ein­brü­che in die­ser Grup­pe hat­te die Uni­on seit der Wie­der­ver­ei­ni­gung nur bei den Bun­des­tags­wah­len 1994 und 1998 zu ver­zeich­nen. Seit 2009 liegt sie bei den Arbei­tern in abso­lu­ten Zah­len sogar vor der SPD.” berich­tet die Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung dazu.

Wäh­rend also die bril­lan­te SolPat-Stra­te­gie dar­auf hin­aus­läuft, die stän­dig wach­sen­de Anzahl von wirt­schaft­lich Bedräng­ten mit sozia­lis­ti­scher Poli­tik abzu­ho­len, gibt es in der Rea­li­tät weder eine wach­sen­de Anzahl von wirt­schaft­lich Bedräng­ten, noch sind die­se unte­ren Schich­ten mehr­heit­lich sozi­al­de­mo­kra­tisch orientiert.

Durch­aus, so viel sei zuge­stan­den, ist die Sozi­al­staats­ori­en­tie­rung im deut­schen Volk über­grei­fend stark aus­ge­bil­det, sozia­le The­men spie­len bei jedem Wahl­kampf zwei­fel­los eine gewich­ti­ge Rol­le. Den­noch, so qual­voll dem über­zeug­ten soli­da­ri­schen Patrio­ten die­ser Gedan­ke auch sein mag, ist ein bedeu­ten­der Teil des deut­schen Arbei­ter- und Klein­bür­ger­tums tra­di­tio­nell pro-kapi­ta­lis­tisch und pro-libe­ral ori­en­tiert. Wenn­gleich dar­un­ter viel­leicht weni­ger ein neo­li­be­ra­ler Raub­tier­ka­pi­ta­lis­mus im Sin­ne Fried­mans und der US-Neo­cons ver­stan­den wird als viel­mehr die ein­ge­deutsch­te “sozia­le Markt­wirt­schaft” Lud­wig Erhards, also ein Kapi­ta­lis­mus mit kon­ser­va­ti­ver Wer­te­ori­en­tie­rung und sozia­lem Ausgleich.

(Bei mei­ner Suche nach einer gesamt­ge­sell­schaft­li­chen, detail­lier­ten Abbil­dung der CDU-Wäh­ler­schaft konn­te ich lei­der nur die älte­re Stu­die “Sozi­al­struk­tur und Wäh­ler­ver­hal­ten” der Kon­rad-Ade­nau­er-Stif­tung mit Zah­len aus den 90ern fin­den, die­se aber unter­mau­ert die Aus­sa­ge der BPD. Auch die Ber­tels­mann-Stu­die im Anhang zeich­net ein rela­tiv aus­ge­wo­ge­nes Bild.)

D: FAZIT / DIE FATA MORGANA

Zusam­men­fas­send lässt sich also kon­sta­tie­ren, daß der Groß­teil des­sen, was im Kon­text der Theo­rie des “Soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus” von Bene­dikt Kai­ser an Wäh­ler­ana­ly­se und poli­ti­scher Stra­te­gie for­mu­liert wur­de, nur wenig mit der Rea­li­tät über­ein­stimmt. Die­ser Text soll wohl­ge­merkt nicht die Theo­rie­bil­dung an sich kri­ti­sie­ren — der auf­merk­sa­me Leser wird zwar diver­se Kri­tik­punk­te aus­ma­chen kön­nen, doch ist das hier nicht The­ma. Auch soll ger­ne der Idea­lis­mus der Soli­da­ri­schen Patrio­ten aner­kannt wer­den, in dem Sin­ne, daß sie sicher­lich auf­rich­tig ihre poli­ti­sche Idee als die für ihr Land best­mög­li­che erachten.

Doch von einer Idee über­zeugt zu sein ist etwas ande­res als mit ihr auf gesell­schaft­li­che Reso­nanz zu sto­ßen. Der Wunsch ist hier in hohem Maße Vater des Gedan­kens — weil die Theo­rie des “soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus” für rich­tig befun­den wird und des­halb das Pro­fil der AfD künf­tig prä­gen soll, man also von dem Wunsch getrie­ben ist, die AfD und ihr Umfeld von die­sem Kurs zu über­zeu­gen, ist von Bene­dikt Kai­ser und sei­nen Mit­strei­tern ein außer­or­dent­lich unse­riö­ser, agi­ta­to­ri­scher Umgang mit Sta­tis­ti­ken und Fak­ten eta­bliert worden.

Sogar wer den theo­re­ti­schen Ansatz teilt, soll­te sich nach Lek­tü­re die­ses Tex­tes ein­ge­ste­hen, daß der Über­trag in die gegen­wär­ti­ge poli­ti­sche Rea­li­tät Deutsch­lands so ein­fach nicht von­stat­ten geht. Die Ergeb­nis­se — Erfol­ge wie Nie­der­la­gen — der AfD spie­geln in nur gerin­gem Maße die theo­re­ti­schen Mut­ma­ßun­gen des “soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus” wie­der. Und dar­aus wie­der­um folgt, daß die Rat­schlä­ge von Bene­dikt Kai­ser kaum zu Wahl­er­fol­gen der AfD bei­tra­gen wer­den. Was wie­der­um nicht bedeu­tet, daß sein theo­re­ti­scher Ansatz völ­lig ver­fehlt wäre, gene­rell liegt die Tra­gik der Demo­kra­tie bekannt­lich in der Inkon­gru­enz von Wahr­heit und Mehr­heits­zu­stim­mung. Anzu­ra­ten wäre also hier viel­mehr, Theo­rie­ar­beit und polit­stra­te­gi­sche Ideen zu tren­nen, und bei­des mit der gebo­te­nen Sorg­falt zu behan­deln. Doch wer im unbe­ding­ten Wil­len, alle ande­ren zu über­zeu­gen, Wunsch und Wirk­lich­keit in Über­ein­stim­mung zu brin­gen, letzt­lich beginnt, unsau­ber zu arbei­ten, scha­det der Bewe­gung, der er ange­hört, mehr als er nutzt.

Dazu kommt, daß der Scha­den umso grö­ßer wird, als die Theo­rie des Soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus in ihrer mar­xis­tisch inspi­rier­ten öko­no­mi­schen Dia­lek­tik alle Betei­lig­ten zu einem fata­lis­ti­schen, zyni­schen Akze­le­ra­tio­nis­mus ver­lei­tet. “Die Illu­sio­nen wei­chen erst, wenn die Lebens­um­stän­de pre­kä­rer wer­den und Ent­wür­fe von exis­ten­tia­lis­ti­schem For­mat erfor­dert sind. Dann kommt wie­der erst das Fres­sen und dann die Moral. Dies ist zwar immer so, wird aber ver­drängt, weil man in sat­ten Zei­ten von sol­cher Des­il­lu­sio­nie­rung gekränkt wür­de.” ora­kelt bei­spiels­wei­se Sezes­si­ons-Autor Hei­no Bos­sel­mann mit Brecht-von-rechts Pose. Sym­pa­thie­trä­ger Chris­ti­an Lüth, der als Pres­se­spre­cher zum inne­ren Zir­kel der AfD gezählt wer­den konn­te, brach­te es bereits letz­tes Jahr kna­ckig auf den Punkt: “„Je schlech­ter es Deutsch­land geht, des­to bes­ser für die AfD. Das ist natür­lich schei­ße, auch für unse­re Kin­der. (…) Aber wahr­schein­lich erhält uns das.“

Vom häss­li­chen Zynis­mus die­ser Hal­tung, die sich allen Erns­tes das Leid des eige­nen Vol­kes zum eige­nen ideo­lo­gi­schen Wohl her­bei­wün­schen muss, ein­mal abge­se­hen: Die Fixie­rung auf öko­no­mi­sche Dyna­mik, die Erwar­tung ihrer ent­schei­den­den Wirk­mäch­tig­keit, die sich selbst die Pose eines hemds­är­me­li­gen, anti­in­tel­lek­tu­el­len rech­ten “Rea­lis­mus’ ” gibt, erlaubt der deut­schen Rech­ten gera­de in einer Pha­se, in der sie zuneh­mend erfolgs­los, aus­ge­grenzt und in die Enge getrie­ben wird, das Aller­ein­fachs­te zu tun: nichts. Was statt­des­sen eta­bliert wird, ist ein hämi­sches, klein­geis­ti­ges “Wer nicht hören will, muss füh­len”, womit sich die eige­ne poli­ti­sche Wir­kungs­lo­sig­keit und Rat­lo­sig­keit, die inne­re Resi­gna­ti­on zur eli­tä­ren Pose zu adeln sucht. Nur daß sich damit in Wahr­heit genau das Gegen­teil eines abge­klär­ten Tat­sa­chen­sin­nes ein­stellt: ein eska­pis­ti­scher Ideo­lo­gie-Elfen­bein­turm, des­sen Bewoh­ner sich mit Mär­chen und Phan­ta­sien vom fina­len Tri­umph, der ja nur noch eine Fra­ge der Zeit sein kön­ne, gegen die kal­te, uner­freu­li­che Wirk­lich­keit abschirmen. 

Und es mag letzt­lich gera­de die kal­te Wirk­lich­keit gewe­sen sein, die zur zwi­schen­zeit­li­chen Popu­la­ri­tät die­ser Hal­tung geführt hat. In einer Pha­se, wor­in schwin­den­der Erfolg und wach­sen­de Aus­gren­zung die deut­sche Rech­te zuneh­mend rat­los und frus­triert wer­den hat las­sen, konn­te der Soli­da­ri­sche Patrio­tis­mus ein­fa­che Ant­wor­ten, pla­ka­tiv-emo­tio­na­li­sie­ren­de Freund-Feind-Sche­ma­ta und schlicht­weg Hoff­nung anbie­ten. Manch­mal sind fal­sche Ant­wor­ten bes­ser als gar kei­ne, so funk­tio­niert die Psy­che des Men­schen, gera­de in schwie­ri­gen Zei­ten. Die Her­aus­for­de­rung die­ses Tex­tes für den Soli­dar­pa­trio­ten dürf­te nun sein, daß er alle ange­sam­mel­te Hoff­nung , die beque­me, ent­spann­te Gewiss­heit, die ihn Abends beru­higt ent­schlum­mern lässt, daß näm­lich am Ende alles ja doch gut wer­den wird, weil man ja auf der Sei­te der soge­nann­ten “Wirk­lich­keit” stün­de, fah­ren las­sen muss. Dem ist in aller Offen­kun­dig­keit nicht so.

Ich indes hof­fe auf etwas ande­res: daß durch fal­sche Ant­wor­ten auf fal­sche Fra­gen nicht län­ger die Aus­ein­an­der­set­zung mit der poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Rea­li­tät ver­stellt wird. Daß nicht im beque­men Glau­ben an einen ver­meint­li­chen poli­ti­schen Gene­ral­schlüs­sel wei­ter­hin Han­deln und Den­ken aller Betei­lig­ten ein­ge­schlä­fert wird. Daß über­haupt erst ein­mal ein ech­tes Den­ken an die Stel­le ober­fläch­li­cher Agi­ta­ti­on tritt. Viel­leicht gilt es auch für eini­ge, dem nai­ven Glau­ben abschwö­ren, es kön­ne in einem offe­nen, demo­kra­ti­schen Dis­kurs ver­läss­li­che “Siegs­tra­te­gien” geben. 

Um mit einer Alle­go­rie zu schlie­ßen: wer als Ver­irr­ter in der Wüs­te einer Fata Mor­ga­na nach­läuft, stirbt genau­so wie der­je­ni­ge, der das nicht tut. Er gewinnt ledig­lich dahin­ge­hend, daß er opti­mis­ti­scher stirbt. Was er sich im Anti­zi­pie­ren einer Illu­si­on aller­dings nimmt, ist die win­zi­ge, rea­le Chan­ce auf eine ech­te Ret­tung. Durch die Fokus­sie­rung auf die Fata Mor­ga­na wird er blind für alle ande­ren Optio­nen, Ideen und Poten­tia­le, die mög­li­cher­wei­se an der Peri­phe­rie auf­schei­nen. Wäh­rend die Fata Mor­ga­na ihn natür­lich fort­wäh­rend narrt: so ver­zwei­felt er ihr auch ent­ge­gen­stürzt und dabei sei­ne letz­ten Kräf­te mobi­li­siert, so vehe­ment ent­zieht sie sich ihm wie­der. Und erkennt er viel­leicht am Ende resi­gnie­rend den Sinn­estrug, so ist es bereits zu spät, noch umzu­keh­ren oder einen neu­en Kurs ein­zu­schla­gen, denn alle Reser­ven sind bereits verbraucht.

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E: ANHÄNGE UND FRAGMENTE

1. Die Ber­tels­mann-Stu­die “Popu­lä­re Wah­len” von 2017

Beschäf­tigt man sich mit der Fra­ge, woher der soli­da­ri­sche Patrio­tis­mus über­haupt sei­ne Begrün­dung nimmt, stößt man auf die Ber­tels­mann-Stu­die “Popu­lä­re Wah­len” von 2017, die Bene­dikt Kai­ser häu­fig als Beleg zitiert.

“Im Jar­gon der Sinus-Geo-Milieus, die der Ber­tels­mann-Stu­die zugrun­de­lie­gen, erziel­te die AfD ins­ge­samt 28 Pro­zent im Lager der “Pre­kä­ren” – also ein­schließ­lich der abstiegs­be­droh­ten unte­ren Mit­tel­schicht, um es umgangs­sprach­lich zu for­mu­lie­ren. Die soge­nann­te Bür­ger­li­che Mit­te (nicht: die Ober­schicht), ein wei­te­res Sinus-Milieu, wähl­te zu 20 Pro­zent AfD. Dar­aus folgt: Pre­kä­re und Bür­ger der (unte­ren) Mit­tel­schich­ten sind das dop­pel­te Stand­bein der AfD — und das sind exakt die Ziel­grup­pen der Wagen­knecht-Grup­pe »Auf­ste­hen«.”

“Zeit-typi­sche Begriffs­nut­zun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen igno­rie­rend, bleibt der Ein­druck zu kor­ri­gie­ren, daß ich nur »Ein­kom­mens­schwa­che als natür­li­che Wäh­ler­kli­en­tel der Rechts­par­tei­en« iden­ti­fi­zie­re. Das sind sie frei­lich auch, aber nicht allei­ne: 28 Pro­zent der »Pre­kä­ren« wähl­ten bei der Bun­des­tags­wahl 2017 AfD, aber eben auch 20 Pro­zent der unte­ren Mit­tel­schicht (wenn man so will: »Klein­bür­ger«), die im Bereich von Selb­stän­di­gen, Arbei­tern und Ange­stell­ten aller Schat­tie­rung zu fin­den sind.”

Die Stu­die selbst ist frei im Inter­net abruf­bar, kann des­halb umstands­los einer eige­nen Betrach­tung unter­zo­gen wer­den. Ihr Ansatz ist durch­aus inter­es­sant — sie unter­teilt im Rah­men einer ethi­schen x‑Achse und einer öko­no­mi­schen y‑Achse die deut­sche Gesell­schaft in 10 “Sinus-Milieus”. Die­sen wird dann eine gewis­se Cha­rak­te­ris­tik (“libe­ral-intel­lek­tu­ell”, “hedo­nis­tisch”, etc.) zuge­spro­chen, und man ana­ly­siert die Beson­der­hei­ten in den jewei­li­gen Wahler­ge­bis­sen. Bei der AfD ist auf­fäl­lig, daß sie in drei Seg­men­ten über­durch­schnitt­lich abschnei­det: bei den Pre­kä­ren erzielt sie 28%, bei der bür­ger­li­chen Mit­te 20% und bei den Tra­di­tio­nel­len 16%.

Nun soll­ten viel­leicht beim Namen “Ber­tels­mann-Stif­tung” gewis­se Alarm­glo­cken schril­len, da die­se Stif­tung bekannt­lich durch­aus eine poli­ti­sche Agen­da ver­folgt. Unter lin­ken Intel­lek­tu­el­len herrscht die Ten­denz, rech­te Bewe­gun­gen ledig­lich als Sub­li­mie­run­gen öko­no­mi­scher Ver­tei­lungs­kon­flik­te, als sub­stanz­lo­se Irr­tü­mer auf­zu­fas­sen. Die Rech­te wird nur dann groß, wenn die Lin­ke ver­sagt. Wes­halb rech­te Erfol­ge nicht mit einem Rechts­ruck in der Poli­tik, son­dern nur mit einer ent­schie­den lin­ken Poli­tik bekämpft wer­den kön­nen. Grund­la­ge die­ser Hal­tung ist zum einen die theo­re­ti­sche Zir­kel­schlüs­sig­keit der mate­ria­lis­ti­schen Auf­fas­sung des Men­schen, wie sie der Mar­xis­mus pos­tu­liert: sofern man den Men­schen als pri­mär öko­no­misch moti­viert defi­niert, ist jedes Ver­hal­ten immer auf öko­no­mi­sche Pro­ble­me zurück­zu­füh­ren, wäh­rend ande­re Aspek­te (Moral, Reli­gi­on, Volk, etc.) auto­ma­tisch als auf­ge­setzt und unei­gent­lich auf­ge­fasst wer­den. Wel­ches Pro­blem sich auch stellt: immer wird lin­ke Poli­tik die rich­ti­ge Lösung sein. 

Zum ande­ren dürf­te das Ziel auch in poli­ti­scher Pro­pa­gan­da bestehen, Hand­rei­chung von und für lin­ke Poli­tik­ak­ti­vis­ten, gerich­tet an die durch eine Denk­zet­tel­wahl wie 2017 poten­ti­ell ver­un­si­cher­ten Eli­ten: nicht die Kon­ser­va­ti­ven haben etwas falsch gemacht, viel­mehr braucht es jetzt ein Mehr an lin­ker Poli­tik, denn es ist ja nur der abge­häng­te Boden­satz, der hier protestwählt. 

In der Pra­xis führt die­se welt­fer­ne Theo­rie zu skur­ri­len Ergeb­nis­sen wie bei­spiels­wei­se den Phan­ta­sie-Repor­ta­gen von Claas Relo­ti­us, der unbe­dingt im ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­wes­ten das dege­ne­rier­te, abge­häng­te “White Trash” Nest schil­dern woll­te, das lin­ke, deut­sche Intel­lek­tu­el­le sich als Bild des Trump-Wäh­lers kon­stru­iert hat­ten. Nur konn­te er das vor Ort zu sei­nem Erstau­nen gar nicht vor­fin­den, also erfand er es ein­fach, und wur­de mit einem Jour­na­lis­mus­preis belohnt. In der Rea­li­tät dage­gen waren, wie bereits 2016 eine Stu­die zeig­te, Trump-Wäh­ler in Bezug auf Ein­kom­men und Bil­dung durch­weg über­durch­schnitt­lich. Da es nicht ins ideo­lo­gi­sche Sche­ma passt, wird das aller­dings igno­riert. Und ähn­lich ist es auch hier. Zwar erfin­den die Ber­tels­mann-Autoren nichts, aber sie geben den Ergeb­nis­sen durch­aus den gewünsch­ten Dreh. 

Zunächst sto­ßen wir in die­ser Stu­die auf eine Begriffs­ver­wir­rung: denn im gän­gi­gen Sprach­ge­brauch wer­den die “Pre­kä­ren” ver­all­ge­mei­nert als die öko­no­misch unters­te Schicht der Gesell­schaft betrach­tet. Im Rah­men der Sinus-Milieus aller­dings setzt die Unter­schicht sich aus 3 Grup­pen zusam­men, neben den “Pre­kä­ren” noch die “Tra­di­tio­nel­len” und die “Hedo­nis­ten”. Die­se Ver­wir­rung nutzt Bene­dikt Kai­ser für sei­ne obi­gen Aus­sa­ge, die auf den Leser den Ein­druck macht, als hät­te die gesam­te Unter­schicht zu 28% AfD gewählt. Das aller­dings ist falsch, das Milieu der “Pre­kä­ren” stellt nur eines von drei Unter­schich­ten-Milieus mit ledig­lich 9% Bevöl­ke­rungs­an­teil. Bereits bei den Tra­di­tio­nel­len fällt der Wahl­er­folg mit 16% deut­lich gerin­ger aus, hier hält man stark an Bewähr­tem (CDU) fest, wäh­rend bei den Hedo­nis­ten — trotz ähn­lich schlech­ter, öko­no­mi­scher Lage — begeis­tert links­grün gewählt wird. 

“Das zeigt, dass Die Lin­ke den Kampf um ihr frü­he­res Kern­mi­lieu der Pre­kä­ren bereits weit­ge­hend [gegen die AfD] ver­lo­ren hat.” heisst es nun im Resü­mee der Stu­die, das wie­der­um von Bene­dikt Kai­ser natür­lich freu­dig auf­ge­grif­fen wird. Und genau hier liegt das poli­ti­sche Framing. Denn tat­säch­lich gilt die­ser Befund nur für die klei­ne Milieu-Bla­se am mitt­le­ren, unte­ren Rand, die nicht mehr als 9% Bevöl­ke­rungs­an­teil stellt. Allei­ne dort — und nir­gend­wo anders — ver­lie­ren SPD und Lin­ke stark, wäh­rend die AfD mit einem 18%-Plus durch die Decke geht. (Zwei­fel­haft ist zudem die Aus­sa­ge, die “Pre­kä­ren” wären das Kern­mi­lieu der Lin­ken. Sie fin­det auch bei den Hedo­nis­ten und eini­gen Top­ver­die­ner-Seg­men­ten über­durch­schnitt­lich Zuspruch.)

Bei kon­ser­va­ti­ven Unter­schicht-Milieu, den “Tra­di­tio­nel­len” dage­gen gewinnt die AfD haupt­säch­lich von der CDU, wäh­rend die Lin­ke in die­sem Seg­ment kei­ne Rol­le spielt. Und beim lin­ken Unter­schicht-Mileu, den “Hedo­nis­ten” ist es umge­kehrt: hier ist die CDU nahe­zu irrele­vant und die AfD bleibt bei unter­durch­schnitt­li­chen 10%, wäh­rend Lin­ke und Grü­ne Spit­zen­er­geb­nis­se erzielen. 

Ähn­lich dif­fe­ren­ziert ver­hält es sich bei den Mit­tel­schicht-Milieus. Aus­schließ­lich in der Ober­schicht ist Wahl der AfD signi­fi­kant sel­te­ner. Drit­telt man die Gesell­schaft ein­fach öko­no­misch, so erhält man am Ende die­ses rela­tiv unspek­ta­ku­lä­re AfD-Ergebnis:

Über ein Inter­vall, das zwei Drit­tel der Gesell­schaft umfasst, erzielt die AfD also ein rela­tiv homo­ge­nes Ergeb­nis. Was im Kon­text eines ande­ren Zahl, näm­lich der weit­ge­hen­den öko­no­mi­schen Zufrie­den­heit sowohl der gesam­ten Gesell­schaft als auch der AfD-Wäh­ler dar­auf hin­weist, daß es nicht die pre­kä­re oder abstiegs­be­droh­te Lage ist, die Bür­ger zu AfD-Wäh­lern macht.

Die eigent­li­che Ano­ma­lie liegt also nicht in der Unter­schicht, wie die Ber­tels­mann­stu­die aus mut­maß­lich poli­tisch moti­vier­ten Grün­den glau­ben machen will, son­dern in der Ober­schicht. Das obe­re Drit­tel der Gesell­schaft wählt nur halb so oft AfD wie der Rest der Gesell­schaft. Wobei die Ober­schicht ähn­lich zer­split­tert wie die ande­ren Schich­ten ist, die kli­schee­haf­ter­wei­se ange­nom­me­ne Grü­nen-Prä­fe­renz zei­gen nur eini­ge Seg­men­te, wäh­rend ratio­nal-leis­tungs­ori­en­tier­te Milieus wie die “Per­for­mer” für die Grü­nen wenig übrig haben und 2017 auch Anzei­chen von Pro­test­wahl zeig­ten. Sowohl CDU als auch SPD ver­lie­ren durch­aus, doch pro­fi­tiert im Ober­schicht-Milieu davon weni­ger die AfD als die FDP. 

Liest man also die Stu­die ohne Klas­sen­kampf-Bril­le, so zeich­net sie gera­de in Bezug auf die inner­par­tei­li­chen Kon­flik­te der AfD ein sehr dif­fu­ses, schwie­ri­ges Bild. Der her­bei­kon­stru­ier­te Kampf zwi­schen AfD und Lin­ker um die Pre­ka­ri­ats-Stim­men spielt jeden­falls auf das Gan­ze bezo­gen nur eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le. Die Unter­schicht ist stark frag­men­tiert, mit einer lin­ken und “grund­sätz­li­chen” (also radi­ka­len) Aus­rich­tung, wie Kai­ser und die soli­da­ri­schen Patrio­ten des AfD-Flü­gels sie wün­schen, könn­te man viel­leicht im pre­kä­ren Milieu tat­säch­lich noch Zuge­win­ne erzie­len, wür­de dabei aber wahr­schein­lich die bei­den ande­ren Erfolgs­mi­lieus, die Tra­di­tio­nel­len und die bür­ger­li­che Mit­te, ver­prel­len. Und die Hedo­nis­ten stel­len ver­mut­lich eher die dezi­diert lin­ke #fck­afd-Frak­ti­on, dürf­ten also trotz tris­ter wirt­schaft­li­cher Lage von rechts kaum ansprech­bar sein. 

Ähn­lich ver­hält es sich in der Mit­tel­schicht. Auch hier ist sicht­bar der öko­no­mi­sche Fak­tor unter­ge­ord­net, die welt­an­schau­lich Beweg­li­che­ren der Mit­te wäh­len über­pro­por­tio­nal AfD, der kon­ser­va­ti­ve Flü­gel hält am Bewähr­ten fest, der pro­gres­si­ve sowie­so, er hat ja aus sei­ner Sicht auch kei­nen Grund zur Beschwerde.

Auch in der Ober­schicht lässt sich Pro­test­wahl-Poten­ti­al aus­ma­chen, nur daß hier die FDP statt der AfD als Pro­test­mit­tel gewählt wird. Eini­ge Milieus wären wahr­schein­lich mit einem libe­ra­lis­ti­schen Lucke-Meu­then-Kurs durch­aus ansprech­bar. Aller­dings mit der Ein­schrän­kung, daß dezi­diert libe­ral­ka­pi­ta­lis­ti­sche Pro­gram­ma­tik und Rhe­to­rik viel­leicht die pre­kä­ren und klein­bür­ger­li­chen Schich­ten (gera­de im kapi­ta­lis­mus­kri­ti­schen Osten), die aktu­ell zu den Kern­mi­lieus der AfD zäh­len, vor den Kopf gesto­ßen würden. 

Unter dem Strich lässt die Ber­tels­mann-Stu­die also schlicht­weg kei­ne ein­fa­chen Ant­wor­ten zu, wenn man sie nüch­tern liest. 

(Die span­nends­te Stel­le ist mei­nes Erach­tens der Über­gang von der “bür­ger­li­chen Mit­te” ins “sozi­al-öko­lo­gi­sche Milieu”. Es gibt an die­ser Stel­le weder eine bedeu­ten­de Wer­te- noch eine bedeu­ten­de Ein­kom­mens-Diver­genz. Und doch fin­det hier ein radi­ka­les, poli­ti­sches Kip­pen statt, des­sen Posi­ti­on im Zen­trum der Gesell­schaft viel­leicht nicht zufäl­lig ist.)

*

2. Wie kom­men die Unter­schie­de zwi­schen Ost und West zustan­de? Spe­ku­la­ti­ve Spurensuche

Nun ist natür­lich noch die Anfangs­fra­ge offen: wenn weder soli­da­risch-patrio­ti­sche Pro­gram­ma­tik noch sozio­öko­no­mi­scher Hin­ter­grund aus­schlag­ge­ben­den Ein­fluß dar­auf haben, wie­so jemand AfD wählt — wie­so ist die AfD im Osten dann so viel erfolg­rei­cher? Zumin­dest die in die­sem Rah­men vor­lie­gen­den Daten kön­nen dar­auf kei­ne Ant­wort geben. Bege­ben wir uns also ins bunt­schil­lern­de Reich der Spekulation. 

Was zunächst ins Auge fällt, ist die mas­si­ve Wahr­neh­mung der AfD als Par­tei, die sich zu wenig von Rechts­ex­tre­mis­mus abgrenzt. Dar­an aller­dings scheint es gar nicht zu lie­gen, eine Dif­fe­renz zwi­schen Ost und West ist zwar erkenn­bar, doch sie ist erstaun­lich gering. Dreht man aber die Fra­ge­stel­lung um, fragt also, wie groß die Zustim­mung zur AfD ist, stößt man auf einen bemer­kens­wer­ten Unter­schied. Die Aus­sa­ge “Ich fin­de es gut, daß die AfD den Zuzug von Flücht­lin­gen und Aus­län­dern stär­ker begren­zen will” als eine der Kern­the­sen der AfD beja­hen im Osten unge­fähr die Hälf­te aller (!) Wäh­ler, im Wes­ten sind es nur 25 — 33%. Anschei­nend stim­men also im Wes­ten schlicht­weg weni­ger Bür­ger dem AfD-Pro­gramm zu. 

Auch über die Grün­de kann hier nur spe­ku­liert wer­den: Es ist seit län­ge­rem fest­stell­bar, daß in Bezug auf links­li­be­ra­le Poli­tik sich EU-weit eine Ost-West-Spal­tung ent­wi­ckelt hat. In den meis­ten ost­eu­ro­päi­schen Län­dern regie­ren heu­te kon­ser­va­ti­ve bis rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en, die eine sta­bi­le Mehr­heit ihrer Bevöl­ke­rung hin­ter sich ver­sam­meln kön­nen, und sich vehe­ment gegen Mas­sen­mi­gra­ti­on, LGBT-Ideo­lo­gie und Auf­ga­be ihrer natio­na­len Sou­ve­rä­ni­tät weh­ren. Was wie­der­um dar­an lie­gen könn­te, daß es hin­ter dem Eiser­nen Vor­hang kei­ne 68er Bewe­gung gab. Denn, und das ist zu beach­ten, die 68er Bewe­gung war nie expli­zit poli­tisch ori­en­tiert, bis in die Gegen­wart hin­ein ver­harr­te ihr poli­ti­sches Pro­jekt, die Grü­nen, zumeist bei Wahl­er­geb­nis­sen im ein­stel­li­gen Bereich. Die 68er waren/sind eine kul­tu­rel­le Bewe­gung, eine Bewe­gung des Bür­ger­tums, eine Bewe­gung der Zivil­ge­sell­schaft bis in loka­le Gemein­de­rä­te hin­ein, wo sie sich gegen den Bau von Umge­hungs­stra­ßen zum Schutz aus­ster­ben­der Sala­man­der­ar­ten enga­gie­ren. Sie sicker­ten ein in die Redak­tio­nen, in die Ver­la­ge, in den aka­de­mi­schen Betrieb. Sie präg­ten das kul­tu­rel­le Kli­ma, den dis­kur­si­ven Stil der letz­ten Jahr­zehn­te, sie schu­fen über­dies weit­ver­floch­te­ne Netz­werk- und Akti­vis­ten­struk­tu­ren, womit sie ihre Wer­te und Pro­jek­te in die Gesell­schaft hin­ein­tra­gen. Viel­leicht also ist die Annah­me nicht ganz absurd, daß im Zuge die­ser Kul­tur­re­vo­lu­ti­on die Zustim­mung zu mul­ti­kul­tu­rel­len Kon­zep­ten in West­deutsch­land ein­fach lang­sam gewach­sen ist, der “com­mon sen­se” sozu­sa­gen um die ent­schei­den­den Pro­zent­wer­te Rich­tung links­grün ver­scho­ben wurde. 

(Par­al­lel­ge­dan­ke: es könn­te auch am höhe­ren Migra­ti­ons­an­teil lie­gen. Doch das ist eine schwer zu beant­wor­ten­de Fra­ge, da Migran­ten ers­tens sel­te­ner zur Wahl gehen, und zwei­tens die AfD gera­de von ost­eu­ro­päi­schen Migran­ten ger­ne gewählt wird. Bereits der Volks­ver­pet­zer muss­te in einem irri­tier­ten Bei­trag damit umge­hen, daß die AfD-Frak­ti­on im Bun­des­tag nach Lin­ken und Grü­nen die meis­ten Migran­ten hat. Die­se The­se klingt also im Kon­text popu­lä­rer “eth­nic vote” Theo­rien ein­leuch­tend, doch wie vie­le popu­lä­re rech­te The­sen zer­brö­selt sie bei nähe­rer Betrachtung.)

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3. Ein wei­te­res Oasen­flim­mern am Hori­zont: Corona.

Wirt­schaft­li­che Ver­wer­fun­gen durch Coro­na wer­den von vie­len Soli­da­ri­schen Patrio­ten — eben gera­de weil sie sich in die­se ideo­lo­gi­sche Sack­gas­se hin­ein­ma­nö­vriert haben und schon lan­ge nichts ande­res mehr den­ken kön­nen — mitt­ler­wei­le gera­de­zu her­bei­ge­sehnt. “Nach dem mit­un­ter schmerz­haf­ten öko­no­mi­schen Erwa­chen in der Post-Coro­na-Zeit wer­den wirt­schaft­li­che The­men expli­zit jene The­men sei­en, mit denen man Leu­te auf­we­cken wird kön­nen.” froh­lockt auch Bene­dikt Kai­ser bereits und legt erneut einen Köder aus, um die Ver­zwei­fel­ten weiterzulocken. 

Doch es sei abschlie­ßend ange­merkt: Coro­na ist kei­ne Sys­tem­kri­se, kei­ne Kri­se des Kapi­ta­lis­mus, des Libe­ra­lis­mus, der Mul­ti­kul­tu­ra­li­sie­rung oder ande­ren rech­ten Kern­the­men. Coro­na ist ledig­lich eine anste­cken­de Krank­heit, zu deren Bekämp­fung der gesell­schaft­li­che und wirt­schaft­li­che Betrieb tem­po­rär dras­tisch her­un­ter­ge­fah­ren wird. Zwei­fel­los wird ein mas­si­ves Kon­junk­tur­pa­ket not­wen­dig sein, um das Sys­tem wie­der hochzufahren. 

Doch ers­tens ist die­ses Paket von den Eli­ten bereits auf den Weg gebracht, mit einer Stra­te­gie in ihrem Sinn (Ver­ei­nig­te Staa­ten von Euro­pa) ver­knüpft wor­den und wird über die ver­bün­de­ten Medi­en den Unzu­frie­de­nen gegen­über recht über­zeu­gend ange­prie­sen wer­den. Die EU wird das Geld auf die Unglück­li­chen reg­nen las­sen, um damit ihr eige­nes Image zu ver­bes­sern und den Zweif­lern end­lich ihre Not­wen­dig­keit in Kri­sen­zei­ten, ihre groß­her­zi­ge pater­na­lis­ti­sche Güte zu bewei­sen. (Daß der Geld­re­gen ins­ge­heim mit Infla­ti­on und schlei­chen­der Ver­ar­mung bezahlt wird, wird wahr­schein­lich nie­man­den inter­es­sie­ren, denn das ist bereits seit Ein­füh­rung des Euros für die rei­chen Nord-EU-Län­der der Fall, und hat den­noch bis­lang kaum poli­ti­sche Mobi­li­sie­rung erzeugt.) 

Zwei­tens wer­den nach Coro­na Bedarf und Kon­sum wie­der das­sel­be Niveau wie vor der Kri­se errei­chen. Denn, wie gesagt: es ist kei­ne Sys­tem­kri­se. Ban­ken und der Staat wer­den des­halb rela­tiv groß­zü­gig sein, um Neu­start-Kre­di­te zu gewäh­ren, der Neu­auf­bau wird mut­maß­lich sehr schnell von­stat­ten gehen. Ledig­lich bereits vor der Kri­se in Schief­la­ge befind­li­che Unter­neh­men oder Spar­ten wer­den viel­leicht nicht zurückkehren. 

Und drit­tens: sogar wenn ich mich täu­schen soll­te und tat­säch­lich eine Wirt­schafts­kri­se wei­ma­ri­schen Aus­ma­ßes ein­tritt, so steht ein umfang­rei­cher, gut orga­ni­sier­ter und theo­re­tisch geschul­ter Appa­rat bereit, um mit­tels eines öko­so­zia­lis­ti­schen “Gre­at Reset” die Frus­tra­ti­ons­en­er­gien auf ein glo­ba­lis­ti­sches, klas­sisch lin­kes Ziel zu rich­ten. Der Rech­te hofft auf die Wirt­schafts­kri­se, doch bes­ser wäre es womög­lich, er wür­de Angst davor ver­spü­ren. Die Pole­mik bezüg­lich der Fixie­rung der “Neu­en Lin­ken” auf iden­ti­täts­po­li­ti­sche The­men über­sieht, daß in den letz­ten Jah­ren eine neue Gar­de aggres­si­ver Jung­lin­ker her­vor­ge­tre­ten ist, die nur zu ger­ne in old­schoo­li­ger Roman­tik von Klas­sen­kampf, Umver­tei­lung und Ent­eig­nung badet. Dabei besitzt sie den Vor­teil einer umfas­sen­den kul­tu­rel­len wie media­len Hege­mo­nie, um ihre Ideen zu popu­la­ri­sie­ren, wäh­rend die AfD (die dann eine ver­gleich­ba­re Anspra­che wäh­len wür­de) für wei­te Tei­le der Bevöl­ke­rung als unwähl­bar gilt. Sofern also 2 Frak­tio­nen mit den­sel­ben Argu­men­ten antre­ten, wobei die eine sozi­al geäch­tet, bekämpft und tot­ge­schwie­gen wird, wäh­rend die ande­re jeden Abend aus dem Fern­se­her grüßt — wel­che wird wohl die Unzu­frie­de­nen weit­ge­hend einsammeln? 

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Posted on 23. April 20218. Juni 2022

3 thoughts on “Sackgasse Solidarischer Patriotismus?”

  1. SO sagt:
    25. April 2021 um 15:39 Uhr

    Inter­es­sant hier­zu fol­gen­de Aus­sa­gen von K&K (SR-pod­cast “Am Ran­de der Gesell­schaft” #16 von Ende März, ab 50:15):

    Kositza: “Ich wür­de auf den Begriff ‘Arbei­ter’ ver­zich­ten, da Klas­sen­kampf­be­griff, der nicht mehr oppor­tun ist.”

    Kubit­schek: “Ich hal­te daher die­sen Krieg gegen das Libe­ra­le bzw. die Libe­ra­len in der AfD kata­stro­phal falsch, weil man sich doch über den Punkt der Nor­ma­li­tät ganz und gar einig sein könn­te. Die­ser anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Reflex, hier der Arbei­ter dort der Aus­beu­ter […], das hal­te ich für einen über­haupt nicht zeit­ge­mä­ßen Kampf. […] Ent­setz­lich, dass die AfD in eine Rich­tung kippt, in der wir noch mehr Bemut­te­rung für den ein­zel­nen Bür­ger brau­chen, noch mehr Sozi­al­staat, noch mehr Aus­gleich usw. Führt dazu, dass kein revo­lu­tio­nä­res Poten­zi­al ent­ste­hen kann und führt zu völ­li­ger Abhän­gig­keit, Ideen­lo­sig­keit etc. Ich wün­sche mir här­te­re Zeiten.”

    https://youtu.be/yiseadeCPoQ

    Antworten
  2. Psychedelic Schlemiel sagt:
    27. Juni 2022 um 19:08 Uhr

    Schüch­tern-auf­rich­tig in ande­rer Sache nach­ge­fragt, weil man beim “Con­tem­pora­ry Odin” (noch) nicht kom­men­tie­ren kann (und die ange­ge­be­ne Email­adres­se “poststelle@…” nicht zu funk­tio­nie­ren scheint):

    Könn­ten Sie mir bit­te kurz bedeu­ten, was am fol­gen­den Satz (etwas) däm­lich sein soll:

    »“Den Glo­ba­lis­ten war der Natio­nal­staat als ein­zi­ger ernst­zu­neh­men­der Gegen­spie­ler mul­ti­na­tio­na­ler Kon­zer­ne und supra­na­tio­na­ler Orga­ni­sa­tio­nen ein Dorn im Auge.”
    Das ist dann sogar der ansons­ten pfle­ge­leich­ten Ali­ce Wei­del ein klein wenig zu dämlich.«

    Daß man sich damit “unnö­tig” als “Ver­schwö­rungs­gläu­bi­ger” angreif­bar macht?

    Daß dar­in nicht zum Aus­druck kommt, daß auch “natio­na­les” Kapi­tal nach Bedarf, also wenn sich’s rech­net, schon immer ein “vater­lands­lo­ser Gesell” war?

    Über­se­he ich etwas?

    Antworten
    1. nigromontanus sagt:
      5. Juli 2022 um 8:07 Uhr

      Es ist ein­fach ein sehr plat­ter, kit­schi­ger Satz, das den öko­no­mi­schen, poli­ti­schen und ideo­lo­gi­schen Aspek­ten nicht gerecht wird, die in den letz­ten Jahr­zehn­ten die Debat­ten und Ent­wick­lun­gen geprägt haben. Statt­des­sen, in der Tat, erschafft man mit “den Glo­ba­lis­ten” nur eine Art neo-anti­se­mi­ti­scher Ver­schwö­rungs­theo­rie, einen unsicht­ba­ren, dämo­ni­schen Feind, in den eine vage, destruk­ti­ve Ener­gie hin­ein­pro­ji­ziert wird. In mei­nem Text “Neu­bau des deut­schen Rei­ches: Gemein­wohl” habe ich mich selbst auch mit die­sem Phä­no­men aus­ein­an­der­ge­setzt. Ich leug­ne also nicht das Vor­han­den­sein von etwas, dem man den Namen “Glo­ba­lis­mus” geben könn­te, und trotz­dem wird eine Oppo­si­ti­on nur dann kon­struk­tiv wir­ken kön­nen, bes­ser sein als das Bestehen­de, wenn Kri­tik und Aus­ein­an­der­set­zung ein ernst­haf­tes Niveau erreichen.

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