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Styler Ornament

Neubau des Deutschen Reiches II: Gemeinwohl

Styler Ornament

1.

Womög­lich gibt es wenig, was für den deut­schen Kon­ser­va­tis­mus so kon­sti­tu­tiv ist wie das Ethos eines par­tei- und inter­es­se­über­grei­fen­den Gemein­wohls. Bereits Bis­marck schreibt ange­sichts der Tumul­te von 1848: “Ich glau­be, die Gesin­nung der gro­ßen Mehr­zahl der Rit­ter­schaft dahin aus­spre­chen zu kön­nen, daß in einer Zeit, wo es sich um das sozia­le und poli­ti­sche Fort­be­stehen Preu­ßens han­delt, wo Deutsch­land von Spal­tun­gen in mehr als einer Rich­tung bedroht ist, wir weder Zeit noch Nei­gung haben, unse­re Kräf­te an reak­tio­nä­re Ver­su­che oder an Ver­tei­di­gung der unbe­deu­ten­den und uns bis­her ver­blie­be­nen gut­herr­li­chen Rech­te zu ver­geu­den, son­dern ger­ne bereit sind, die­se auf Wür­di­ge­re zu über­tra­gen, indem wir die­ses als unter­ge­ord­ne­te Fra­ge, die Her­stel­lung recht­li­cher Ord­nung in Deutsch­land, die Erhal­tung der Ehre und Unver­letz­lich­keit unse­res Vater­lan­des aber als die für jetzt allei­ni­ge Auf­ga­be eines jeden betrach­ten, des­sen Blick auf uns­re poli­ti­sche Lage nicht durch Par­tei­an­sich­ten getrübt ist.” (Bis­marck, Gedan­ken und Erinnerungen)

70 Jah­re spä­ter ist es gera­de der Ver­lust einer über­par­tei­li­chen, auf das Wohl des Vol­kes gerich­te­ten Per­spek­ti­ve, die Oswald Speng­lers Wut ent­facht: “In ihren Sat­zun­gen ist nicht von Volk die Rede, son­dern von Par­tei­en; nicht von Macht, von Ehre und Grö­ße, son­dern von Par­tei­en. Wir haben kein Vater­land mehr, son­dern Par­tei­en; kei­ne Rech­te, son­dern Par­tei­en; kein Ziel, kei­ne Zukunft mehr, son­dern Par­tei­en. […] Sie waren ent­schlos­sen, jeden Grund­satz, jede Idee, jeden Para­gra­phen der eben beschwo­re­nen Ver­fas­sung für ein Lin­sen­ge­richt preis­zu­ge­ben. Sie hat­ten die­se Ver­fas­sung für sich und ihre Gefolg­schaft gemacht, nicht für die Nati­on, und sie began­nen vom Waf­fen­still­stand bis zur Ruhr­ka­pi­tu­la­ti­on eine schmach­vol­le Wirt­schaft mit allem, wor­aus Vor­teil zu zie­hen war, mit den Trüm­mern des Staa­tes, mit den Res­ten unse­res Wohl­stan­des, mit unse­rer Ehre, unse­rer See­le, unse­rer Wil­lens­kraft.” (in: Neu­bau des Deut­schen Reiches)

Und noch ein­mal 100 Jah­re spä­ter fin­det sich die Wahr­neh­mung, der Staat wäre zur Beu­te der Par­tei­en gewor­den, nahe­zu unver­än­dert bei der Rech­ten wie­der, hier bei­spiels­wei­se im Pod­cast “Die Kri­sen­trin­ker #1”, einem Gespräch zwi­schen Götz Kubit­schek und Erik Lehnert.
“[Götz Kubit­schek:] …und: Fin­ger weg von erbeu­te­ten Insti­tu­tio­nen. Die Insti­tu­tio­nen befrei­en, damit sie nicht die Beu­te der Par­tei­en blei­ben, son­dern in ihre gesamt­staat­li­che Wür­de zurück­ge­holt werden. […]
[Erik Leh­nert:] Wir müs­sen den Insti­tu­tio­nen die Wür­de zurück­ge­ben, wir müs­sen dem Staat die Wür­de zurück­ge­ben, und im Grun­de ist die gan­ze Beu­te­ge­mein­schaft gegen uns. Und die Beu­te­ge­mein­schaft sagt eben auch zu den Neu­en: ‘Kommt doch zu uns, seid Mit-Beutegemeinschaft.’
Was soll ich sagen… Aus mei­ner Sicht ist es legi­tim, dar­über zu spre­chen, wie wäre es mög­lich, die­sen gan­zen Miss­brauch der Insti­tu­tio­nen zu been­den? Aber wir wis­sen bei­de: wenn wir das tun, wird der Onkel Hal­den­wang kom­men und sagen: ‘Ah, das ist nicht frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung, weil die frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung, das ist der Parteienstaat.’ ”

Die Kon­ti­nui­tät konservativen/rechten Den­kens über einen Zeit­raum von fast 200 Jah­ren ist bemer­kens­wert, bezeich­nend ist aber auch die Ver­än­de­rung der gesell­schaft­li­chen Position.

Bis­marcks Hal­tung ist offen­kun­dig noch feu­da­lis­tisch geprägt, aus einem rit­ter­lich-aris­to­kra­ti­schen Pflicht­be­griff her­aus, dem das Zurück­stel­len eige­ner Inter­es­sen bis hin zum per­sön­li­chen Opfer im Dienst für das Vater­land, bzw. den es reprä­sen­tie­ren­den Mon­ar­chen, aner­zo­gen wur­de. Als “Preu­ßen­tum”, als von sol­da­ti­schem Pflicht- und Ehr­ge­fühl gelei­te­tes Ethos wur­de es zum poli­ti­schen wie gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Stil des neu­ge­grün­de­ten “Zwei­ten Reichs”. [1]

Aus Speng­ler spricht 75 Jah­re spä­ter bereits der Ver­lust. Sozia­li­siert noch in der Wil­hel­mi­ni­schen Epo­che, fin­det er, der sogar sein Haupt­werk mit “Ich habe nur den Wunsch bei­zu­fü­gen, daß dies Buch neben den mili­tä­ri­schen Leis­tun­gen Deutsch­lands nicht ganz unwür­dig daste­hen möge.” ein­lei­te­te, um die vater­län­di­sche Ver­bun­den­heit sei­nes Wir­kens aus­zu­drü­cken, sich nach dem Welt­krieg plötz­lich in einer ver­zwei­fel­ten, macht­lo­sen Oppo­si­ti­ons­rol­le wie­der. Heu­ti­ge His­to­ri­ker nei­gen dazu, die Anti-Wei­ma­ria­ner der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on als ledig­lich nega­tiv-destruk­ti­ve Ele­men­te auf­zu­fas­sen. Mir dage­gen will es manch­mal schei­nen, als gli­chen sie eher unglück­lich Ver­lieb­ten, betro­ge­nen Lieb­ha­bern, die plötz­lich eines Abends in einer Sei­ten­gas­se die Ange­be­te­te im Arm eines Frem­den erbli­cken. Es ist mehr Her­zens­er­schüt­te­rung als poli­ti­sche Oppo­si­ti­on. Und so sto­chern sie nun, hin­ein­ge­sto­ßen in einen Alp­traum, der ihnen alles genom­men hat, wor­an sie poli­tisch und kul­tu­rell geglaubt haben, in der Asche Wei­mars nach den Über­res­ten einer zusam­men­ge­bro­che­nen Epo­che, um sie irgend­wie zu rekonstruieren. 

2.

Eine gute Wen­dung nimmt die Geschich­te aller­dings nicht. Denn in der Gegen­wart, wie im Gespräch zwi­schen Erik Leh­nert und Götz Kubit­schek sicht­bar wird, wird der Wunsch nach einer par­tei­en­tran­szen­die­ren­den Poli­tik mitt­ler­wei­le als hoch­pro­ble­ma­tisch, gar poten­ti­ell ver­fas­sungs­feind­lich wahrgenommen.

Nicht grund­los: der rosa Ele­fant im Raum zwi­schen 1924 und 2020 heißt natür­lich Natio­nal­so­zia­lis­mus. Es war der Natio­nal­so­zia­lis­mus, der die reak­tio­nä­ren Strö­mun­gen der Wei­ma­rer Zeit bün­deln und in ein destruk­ti­ves Geschoß ver­wan­deln soll­te, um mit einem der bar­ba­rischs­ten Blut­bä­der aller Zei­ten in die Geschich­te der Mensch­heit ein­zu­ge­hen. Und wie die Lin­ke dazu neigt, die Mas­sa­ker und das wirt­schaft­li­che Ver­sa­gen des “real exis­tie­ren­den” Sozia­lis­mus aus­zu­blen­den, so hat die Rech­te es bis­lang ver­säumt, eine eige­ne, kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus zu leis­ten. Man pen­delt statt­des­sen seit 70 Jah­ren zwi­schen phra­sen­haf­ter Distan­zie­rung, ver­schäm­ter Koket­te­rie, Abwie­geln und Rela­ti­vie­ren, zwi­schen rei­nem Aus­blen­den, stra­te­gi­schen Begriffsum­bil­dun­gen und resi­gnier­tem Rück­zug in die eige­ne Sub­kul­tur. Es ist ein trau­ri­ger Anblick. Die Auf­ar­bei­tung wird statt­des­sen vom poli­ti­schen Geg­ner geleis­tet und in das jewei­li­ge Theo­rie­ge­rüst gehüllt: aus libe­ral-kapi­ta­lis­ti­scher Per­spek­ti­ve sam­meln sich auf der Rech­ten ein­fach die Ver­lie­rer, die vom “Fort­schritt über­for­dert” sind, aus mar­xis­ti­scher Per­spek­ti­ve ist rechtes/nationalistisches/traditionalistisches Den­ken nur “Opi­um fürs Volk”, nur Ablen­kungs­ma­nö­ver des kapi­ta­lis­ti­schen Appa­ra­tes, um das Pro­le­ta­ri­at wei­ter­hin in einem Aus­beu­tungs­ver­hält­nis zu hal­ten. In die­ser Per­spek­ti­ve kön­nen rech­te Ideen immer nur als Feh­ler im Sys­tem, als gro­tes­ke Aus­wüch­se, als eine Mischung aus Dumm­heit, Wahn­sinn und dem mensch­ge­wor­de­nen Bösen erschei­nen, und natür­lich ist der Natio­nal­so­zia­lis­mus geeig­net, die­se Vor­stel­lung anschau­lich zu illustrieren.

Wenn also rech­tes Den­ken sich in der Gegen­wart nicht zu intel­lek­tu­el­ler Belang­lo­sig­keit ver­dam­men, nicht als längst über­wun­de­ner, gefähr­li­cher Blöd­sinn abge­tan wer­den will, so muss es sich, statt “Schuldkult!”-schreiend in die Höh­le solip­sis­ti­scher Ideo­lo­gie-Selbst­re­pro­duk­ti­on zurück­zu­flüch­ten, dem kri­ti­schen Dis­kurs stel­len. Wor­in bestehen nun die Vor­wür­fe der­je­ni­gen, die für sich in Anspruch neh­men, aus der Geschich­te gelernt zu haben? Gera­de im Kon­text des Rechts­po­pu­lis­mus ist die Aus­ein­an­der­set­zung in den letz­ten Jah­ren wie­der viru­lent geworden.

“Popu­lis­ten spre­chen in ihren Reden und Medi­en­bei­trä­gen “das Volk”, “die ein­fa­chen Leu­te” oder – häu­fig ganz selbst­ver­ständ­lich auf die männ­li­che Ver­si­on beschränkt – “den klei­nen Mann auf der Stra­ße” an. Dabei wird sug­ge­riert, dass “das Volk” eine Ein­heit sei. Inter­es­sen­ge­gen­sät­ze, die es in moder­nen Gesell­schaf­ten in viel­fa­cher Wei­se gibt, wer­den so impli­zit geleug­net.” (Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bildung)

„Popu­lis­mus zeich­net sich aus durch eine radi­ka­le Kri­tik an den herr­schen­den gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Eli­ten, denen man vor­wirft, dass sie den wah­ren, eigent­li­chen Volks­wil­len nicht ver­tre­ten, ja, sogar sys­te­ma­tisch hin­ter­ge­hen. Wäh­rend Popu­lis­ten von sich sel­ber behaup­ten, dass sie die­sen Volks­wil­len ken­nen. Inso­weit ist der Popu­lis­mus viel­leicht nicht per se anti­de­mo­kra­tisch, aber er steht doch mit bestimm­ten Prin­zi­pi­en auch der Demo­kra­tie auf Kriegs­fuß.“ (Prof. Frank Decker vom Insti­tut für poli­ti­sche Wis­sen­schaft und Sozio­lo­gie der Uni­ver­si­tät Bonn im Deutsch­land­funk)

“Zum Selbst­ver­ständ­nis von Popu­lis­ten gehört es auch, dass sie die ein­zi­gen Ver­tre­ter des „wah­ren Vol­kes“ sein wol­len. Allen ande­ren Par­tei­en spre­chen sie ab, die Inter­es­sen der Bür­ger ver­tre­ten zu kön­nen. Die­se Auf­fas­sung ist zutiefst anti­plu­ra­lis­tisch und wider­spricht unse­rer demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung, in der die Exis­tenz und Kon­kur­renz ver­schie­de­ner Inter­es­sen Leit­ge­dan­ke der Legi­ti­mi­tät ist.” (Johan­nes Hill­je, Poli­tik­be­ra­ter)

Die Über­gän­ge in der Aus­ein­an­der­set­zung des zeit­ge­nös­si­schen Rechts­po­pu­lis­mus zu Faschis­mus- und Rechts­ex­tre­mis­mus­theo­rien sind dabei für die Ver­tei­di­ger der bestehen­den Ord­nung flie­ßend. Im Arti­kel der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung wer­den für Popu­lis­mus die wesent­li­chen Merk­ma­le “Volk”, “Iden­ti­tät”, “cha­ris­ma­ti­sche Füh­rer­schaft” und “Bewe­gungs­cha­rak­ter statt Par­tei” genannt — das ist ein Kern­sche­ma vie­ler Faschis­mus­de­fi­ni­tio­nen. Im die­sem Sinn wer­den die Paro­len des Rechts­po­pu­lis­mus meist nicht als demo­kra­tiein­hä­ren­tes Pro­test­phä­no­men, son­dern als ver­klau­su­lier­ter fascho­ider Angriff gegen die Demo­kra­tie gele­sen, und sei­ne Akteu­re ent­spre­chend harsch bekämpft. 

Im Zen­trum des Sturms trotzt das Gut Schnell­ro­da, doch wie gese­hen ste­hen die dor­ti­gen Akteu­re trotz ihres Eigen­an­spru­ches als intel­lek­tu­el­les Zen­trum der Neu­en Rech­ten den Vor­wür­fen eher über­for­dert gegen­über. Denn wenn Erik Leh­nert einen “Miss­brauch der Insti­tu­tio­nen” beklagt, stellt sich umge­hend die Fra­ge, nach wel­chen Para­me­tern er die­sen Miss­brauch über­haupt mes­sen will, was also der rich­ti­ge Gebrauch sei. Da er die­sen nicht nennt, bleibt die Ver­mu­tung, daß er ledig­lich sei­ne eige­nen, sub­jek­ti­ven poli­ti­schen Vor­stel­lun­gen abso­lut zu set­zen wünscht. Spricht er dann noch von einem “Miss­brauch durch Par­tei­en”, und Kubit­schek von den Insti­tu­tio­nen als “Beu­te der Par­tei­en”, folgt dar­aus die Fra­ge, ob denn die AfD, die sie bei­de unter­stüt­zen, kei­ne Par­tei sei. Ist sie eine Par­tei, setzt der sys­te­mi­sche “Miss­brauch” sich nur unter ande­rem ideo­lo­gi­schem Vor­zei­chen fort. Ist sie dage­gen kei­ne Par­tei, oder soll sie nur als Instru­ment die­nen, um nach einem Wahl­sieg das gesam­te Par­tei­en­sys­tem zu been­den, wird sie zurecht vom Ver­fas­sungs­schutz verfolgt. 

3.

Wie der Hund, der sei­nem eige­nen Schwanz nach­jagt, dreht die Debat­te sich hier im Kreis, weil der ent­schei­den­de Gedan­ken­schritt fehlt. Des­halb will ich im fol­gen­den auf­zei­gen, wie das Gemein­wohl sich als über­par­tei­li­cher Begriff defi­nie­ren lässt und für eine Demo­kra­tie sogar kon­sti­tu­tiv not­wen­dig ist. 

“Dem deut­schen Vol­ke” ist über dem Por­tal des Reichs­tags ein­ge­meis­selt, und der Amts­eid, den jeder Minis­ter bei sei­ner Ernen­nung fei­er­lich ablegt, lau­tet: “Ich schwö­re, daß ich mei­ne Kraft dem Woh­le des deut­schen Vol­kes wid­men, sei­nen Nut­zen meh­ren, Scha­den von ihm wen­den wer­de.” Den Nut­zen des deut­schen Vol­kes meh­ren und Scha­den von ihm abwen­den — das klingt in sei­ner Selbst­ver­ständ­lich­keit pro­fan, öff­net aber auf ganz ent­schei­den­de Wei­se eine Dis­kurs­ebe­ne, die den blo­ßen Mei­nungs­plu­ra­lis­mus tran­szen­diert. Im Par­la­ment wird nicht bloß gere­det, sei­ne Arbeit hat einen Zweck. Den Nut­zen des deut­schen Vol­kes meh­ren und Scha­den von ihm abwen­den — so kann sinn­vol­ler­wei­se der Begriff des “Gemein­wohls” defi­niert wer­den. Und wo im Rah­men unse­rer Ver­fas­sung das Volk den im Par­la­ment reprä­sen­tier­ten Sou­ve­rän dar­stellt, so kann der Aus­druck “Wohl des Vol­kes” als deckungs­gleich mit der Defi­ni­ti­on des Gemein­wohls bezeich­net wer­den: das Volks­wohl ist das spe­zi­fi­sche Gemein­wohl aller Deut­schen. [2]

Sofern wir also das “Wohl des Vol­kes” durch­aus defi­nie­ren und kon­kre­ti­sie­ren kön­nen — was über­ra­schen­der­wei­se nicht schwer fällt, es reicht bereits der Wort­laut des Amts­ei­des -, fällt die Argu­men­ta­ti­on zeit­ge­nös­si­scher Poli­tik­wis­sen­schaft­ler und selbst­er­nann­ter Rechts­ex­tre­mis­mus­ex­per­ten bereits aus­ein­an­der. Das “Wohl des Vol­kes” exis­tiert, es ist ein abso­lut legi­ti­mer Begriff. Es muss im Gegen­teil gefragt wer­den, wie gera­de eine Demo­kra­tie ohne Volks­wohl aus­kom­men soll. Denn wie Kant, der bei sei­ner Kri­tik am Skep­ti­zis­mus Humes (der in die­ser Hin­sicht dem Rela­ti­vis­mus zeit­ge­nös­si­scher Plu­ra­li­täts-Argu­men­ta­tio­nen gleicht) letzt­lich doch auf eine Rei­he von “aprio­ri­schen” Phä­no­me­nen wie die Vor­stel­lung des Rau­mes und der Zeit stößt, ohne die ein Den­ken gar nicht mög­lich ist — kann nicht auf ana­lo­ge Wei­se der Par­tei­en-Plu­ra­lis­mus durch ein Aprio­ri des Volks­wohls über­haupt erst begrün­det und legi­ti­miert werden?

Unser poli­ti­sches Sys­tem, unse­re Insti­tu­tio­nen, unse­re poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen — sie kön­nen nur unter der Prä­mis­se als sinn­voll betrach­tet wer­den, daß sie den Nut­zen des Vol­kes meh­ren, und Scha­den von ihm abwen­den. Ein Han­deln oder ein Sys­tem, von dem objek­tiv gesagt wer­den müss­te, daß es den Scha­den mehrt und den Nut­zen abwen­det, wür­de sich selbst die Exis­tenz­be­rech­ti­gung ent­zie­hen. Auch ein­zel­ne poli­ti­sche Posi­tio­nen — sei es Öko­lo­gie, sei es Sozia­lis­mus, sei es wirt­schaft­li­che Dere­gu­lie­rung, Remi­gra­ti­on oder Gen­der­spra­che: sie alle tra­gen trotz ihrer Ver­schie­den­heit, ihrer gegen­sei­ti­gen Wider­sprüch­lich­keit den impli­zi­ten Anspruch in sich, eine Ver­bes­se­rung bewir­ken zu kön­nen, ansons­ten wären sie als poli­ti­sche Posi­ti­on nicht kommun­zier­bar. Damit ist das Volks­wohl aber gera­de kein demo­kra­tie­feind­li­cher Anti­plu­ra­lis­mus, son­dern die Bedin­gung der Mög­lich­keit demo­kra­ti­scher Poli­tik schlechthin.

Auch der Begriff “Wil­le des Vol­kes”, dem von zeit­ge­nös­si­schen Poli­tik­wis­sen­schaft­lern eine anti­de­mo­kra­ti­sche Ten­denz unter­stellt wird, kann so wie­der eine berech­tig­te Stel­lung erhal­ten: der Volks­wil­le, der sich über wel­che Kon­sti­tu­ti­on auch immer insti­tu­tio­na­li­siert aus­drückt, besteht in der Meh­rung des Volks­woh­les. Nur wenn der Poli­ti­ker tat­säch­lich sei­nem Amts­eid gerecht wird, den Nut­zen des Vol­kes mehrt und Scha­den von ihm abwen­det und damit dem Volks­wohl dient, drückt sich in ihm der Volks­wil­le aus. [3]

Aller­dings, und hier endet die Ana­lo­gie zu Kant bedau­er­li­cher­wei­se: wäh­rend ein Gegen­stand nur unter aprio­ri­scher Vor­aus­set­zung des Rau­mes gedacht wer­den kann, so liegt bekannt­lich ein Gemein­we­sen ohne aprio­ri­sches Gemein­wohl durch­aus im Rah­men des Mög­li­chen. Sei es eine Des­po­tie, bei der das Land vor den Lau­nen eines über­mäch­ti­gen Herr­schers zit­tert, sei es eine Klas­sen­herr­schaft, bei der eine gesell­schaft­li­che Grup­pe eine ande­re quält oder sei es der para­si­tä­re Par­tei­en-Tri­ba­lis­mus im Rah­men einer Demo­kra­tie, den Speng­ler beschreibt — exis­tie­ren kön­nen sol­che Zustän­de durch­aus, nur zur Meh­rung des Volks­woh­les kön­nen sie sich nicht legi­ti­mie­ren. Statt­des­sen pro­fi­tie­ren nur ein­zel­ne Grup­pen auf Kos­ten ande­rer. Eine Des­po­tie oder eine Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats hat indes die Legi­ti­ma­ti­on gegen­über dem eige­nen Volk nicht unbe­dingt nötig — falls die Argu­men­te ver­sa­gen, kann sie auch durch Gewalt und Ein­schüch­te­rung herr­schen. Eine Demo­kra­tie dage­gen bedarf als prin­zi­pi­ell frei­wil­li­ger Zusam­men­schluß einer über­zeu­gen­den Begrün­dung. Gera­de weil sie im Gegen­satz zu auto­ri­tä­ren Sys­te­men kei­ne spe­zi­fi­sche Herr­schafts­schicht kennt, deren Ange­hö­ri­gen ein über­le­ge­nes und damit der Kri­tik ent­ho­be­nes Beur­tei­lungs­ver­mö­gen zuge­spro­chen wür­de, die Mög­lich­keit der Fehl­bar­keit, der Unfä­hig­keit, der Über­for­de­rung damit immer aktu­ell bleibt, muss der Anspruch, daß die Poli­tik dem Wohl des Vol­kes dient, und damit den Volks­wil­len tat­säch­lich reprä­sen­tiert, fort­wäh­rend an die Regie­ren­den gerich­tet wer­den kön­nen. Dar­in besteht nicht das Ende der Demo­kra­tie, es ist ihr Kern.

4.

Die deut­sche Poli­tik ist dem deut­schen Volk ver­pflich­tet, so steht es über dem Por­tal des Reichts­ta­ges, so steht es in der Ver­fas­sung, so ver­si­chern die Minis­ter es wäh­rend ihres Amts­ei­des. Wenn also Demons­tran­ten “Wir sind das Volk” gegen­über ihren gewähl­ten Reprä­sen­tan­ten skan­die­ren, steckt dahin­ter nicht not­wen­di­ger­wei­se anti­plu­ra­lis­ti­sche Demo­kra­tie­feind­lich­keit, son­dern die ganz grund­le­gen­de Fra­ge nach der Legi­ti­ma­ti­on aktu­el­ler Poli­tik. Auch ein Begriff wie “Volks­ver­rä­ter”, so grob er auch sein mag, arti­ku­liert im Kern nichts als den Anspruch, der jedem deut­schen Poli­ti­ker als Maß­stab auf­er­legt ist: daß sein Han­deln als legi­ti­mer Reprä­sen­tant des Volks­wil­lens dem Volk nut­zen und Scha­den vom ihm abwen­den solle.

Daß nun die­se Form pole­mi­scher Grund­satz­kri­tik, so unre­flek­tiert und aggres­siv sie zumeist auch geäu­ßert wird, seit 2015 in Deutsch­land infla­tio­när Ver­brei­tung gefun­den hat, dürf­te indes kein Zufall sein. Mit der soge­nann­ten “Grenz­öff­nung” im Sep­tem­ber 2015 traf die amtie­ren­de Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel eine Ent­schei­dung mit enor­mer Trag­wei­te. “Es gibt kei­ne mora­li­sche Pflicht zur Selbst­zer­stö­rung”, merk­te der Phi­lo­soph Peter Slo­ter­di­jk dies­be­züg­lich im Früh­jahr 2016 an — trotz aller PR-Kam­pa­gnen der Poli­tik, um dem Bür­ger die gesell­schaft­li­che “Berei­che­rung” via Ein­wan­de­rung zu erklä­ren, ist es nüch­tern betrach­tet die Fra­ge nach dem Gemein­wohl, die hier zur Dis­po­si­ti­on steht und zur Eröff­nung von Grund­satz­de­bat­ten zwingt.

Über­se­hen wird dabei, daß der Herbst 2015 nur ein Ober­flä­chen­phä­no­men dar­stellt. Was dahin­ter steht, ist eine Ideo­lo­gie, die als eigen­wil­li­ge Aus­prä­gung eines kapi­ta­lis­tisch domes­ti­zier­ten Wohl­stands-Sozia­lis­mus in den letz­ten Jahr­zehn­ten die kul­tu­rel­le Hege­mo­nie der west­li­chen Kul­tur erlangt hat. “Pro­le­ta­ri­er aller Län­der, ver­ei­nigt euch” — bereits für den klas­si­schen Mar­xis­mus sind Län­der­gren­zen nur irrele­van­te Herr­schafts­be­rei­che, gewalt­sam zusam­men­ge­raubt von einer feu­da­lis­ti­schen Ober­schicht. Maß­geb­lich sind für ihn die öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­se, die Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit ent­we­der zu den Besit­zen­den oder den Besitz­lo­sen. Die Soli­da­ri­tät des deut­schen Sozia­lis­ten gilt weni­ger dem deut­schen Bür­ger als dem fran­zö­si­schen Arbei­ter, da er mit ihm eine gemein­sa­me Klas­sen­per­spek­ti­ve zu tei­len glaubt. Das Volk oder die Nati­on dage­gen sind für ihn Ablen­kungs­ma­nö­ver der herr­schen­den Klas­se: sie schü­ren ein fal­sches Soli­da­ri­täts­ge­fühl — mit den Kapi­ta­lis­ten des eige­nen Lan­des -, sie erzeu­gen einen fal­schen Feind — Frem­de -, um von der Aus­beu­tungs­rea­li­tät kapi­ta­lis­ti­scher Struk­tu­ren abzu­len­ken. Auch wenn der his­to­ri­sche Sozia­lis­mus durch­aus ein prag­ma­ti­sches “Selbst­be­stim­mungs­recht der Völ­ker” aner­kennt, steht sein Den­ken damit immer in einem laten­ten Kon­flikt mit Nationalstaatlichkeit. 

Auf dem Boden der neo­li­be­ral indu­zier­ten Wirt­schafts-Glo­ba­li­sie­rung ent­steht dann seit den 70ern und 80ern ein eigen­wil­li­ger Neo-Sozia­lis­mus, der die theo­re­tisch “inter­na­tio­na­lis­ti­sche” Hal­tung des klas­si­schen Mar­xis­mus zu einer glo­ba­len Mensch­heits-Per­spek­ti­ve wei­tet. Die Klas­sen­theo­rie, vor­mals zumin­dest impli­zit noch inner­halb natio­na­ler Struk­tu­ren gedacht, wird jetzt auf den gan­zen Glo­bus über­tra­gen. Den west­li­chen Län­dern als Ver­mö­gen­den wird damit also die Rol­le des Bür­ger­tums zuge­wie­sen, und der Rest, als soge­nann­te “Peop­le Of Color”, stellt das neue, glo­ba­le Proletariat. 

Der Haken an die­sem Ansatz, natür­lich: wir selbst als gan­zes Land wer­den damit zu den Bösen. Die west­li­chen Gesell­schaf­ten sind im Rah­men die­ses Ansat­zes, glo­bal­ge­schicht­lich betrach­tet, eben­so über­holt wie das Bür­ger­tum im 19. Jahr­hun­dert, wir sind die pri­vi­le­gier­te, aus­beu­te­ri­sche, glo­ba­le Herr­schafts­schicht, die nun von den unge­heu­ren Mas­sen der durch unse­re eige­nen Kapi­tal­ak­ti­vi­tä­ten enstan­den­den Armen, Ver­trie­be­nen und Flücht­lin­gen eben­so heim­ge­sucht wird wie der rei­che Groß­stadt-Kauf­mann im 19. Jahr­hun­dert von den bet­teln­den Kin­dern des von sei­nen eige­nen Getrei­de­spe­ku­la­tio­nen geschaf­fe­nen, städ­ti­schen Armutspro­le­ta­ri­ats. Der Wohl­stand unse­res Lan­des, die gute Infra­struk­tur, die kos­ten­lo­se Bil­dung, die Gesund­heits­ver­sor­gung, die gesell­schaft­li­che Sta­bi­li­tät — alles, was übli­cher­wei­se als posi­ti­ve Errun­gen­schaft betrach­tet wur­de, erscheint in die­sem Licht plötz­lich als mora­lisch frag­wür­dig. “Check your pri­vi­le­ge”: es erscheint als geraubt, als durch die Kumu­la­ti­ons­dy­na­mik des Kapi­tals in unse­re pri­vi­le­gier­ten Neo-Bour­geoi­sie-Län­der gespült, ange­trie­ben von der Aus­beu­tung unge­heu­rer, gesichts­lo­ser Mas­sen, die nun durch glo­ba­le Migra­ti­ons­be­we­gun­gen für uns über­haupt erst sicht­bar wer­den. Expro­pria­ti­on der Expro­pria­teu­re: die nächs­te Sta­ti­on des glo­ba­li­sier­ten Mar­xis­mus muss damit fol­ge­rich­tig die revo­lu­tio­nä­re Destruk­ti­on des Wes­tens durch die von ihm pro­du­zier­ten Hee­re der Armen sein. Erst dadurch wird die Mensch­heit als Gan­zes in das nächs­te, höhe­re, freie­re, gerech­te­re Sta­di­um ein­tre­ten kön­nen. Denn Marx ist Hege­lia­ner, glaubt also den Sinn der Mensch­heit in einem fort­wäh­ren­den Ver­än­de­rungs- und Fort­schritts­pro­zeß zu fin­den, des­sen Ziel schließ­lich die voll­kom­me­ne “Frei­heit” ist. Doch wäh­rend Hegel die­sen Pro­zeß als Anwach­sen der Ver­nunft, Frei­heit durch Ein­sicht in die Not­wen­dig­keit auf­fasst, inter­pre­tiert Marx die­sen ange­nom­me­nen Pro­zeß mate­ria­lis­tisch: frei wird der Mensch (bzw. die Mensch­heit als Gan­zes) durch die Ver­än­de­rung, die Anglei­chung, der öko­no­mi­schen und wirt­schaft­li­chen Verhältnisse. 

Durch­aus spie­len noch eine Rei­he ande­rer Aspek­te hin­ein: der uralte, roman­ti­sche Traum vom “Welt­frie­den” (“alle Men­schen wer­den Brü­der”), den in Ver­gan­gen­heit und Zukunft vie­le in den Sozia­lis­mus hin­ein­pro­ji­zie­ren. Die Aver­si­on gegen­über eth­ni­schen oder natio­na­len Kate­go­rien im Zuge des Holo­caust­trau­mas. Die post­struk­tu­ra­lis­ti­sche Phi­lo­so­phie, wor­in jede west­li­che Wert- und Kul­tur­bil­dung dekon­stru­iert und als Aus­druck unter­drü­cken­der Macht­ver­hält­nis­se ver­stan­den wird. Doch alle die­se Aspek­te bün­deln sich, in die neo­so­zia­lis­ti­sche Theo­rie­bil­dung ein­ge­wo­ben, zum einem grund­le­gen­den, poli­ti­schen Kon­flikt: maß­geb­lich ist nicht län­ger das Gemein­wohl, son­dern das All­ge­mein­wohl. Der so agie­ren­de Poli­ti­ker oder Intel­lek­tu­el­le setzt sich nicht län­ger für eine mög­lichst idea­le Zukunft des eige­nen Lan­des ein, son­dern betrach­tet sich als Anwalt eines uto­pi­schen Mensch­heits­wohls. Ein natio­nal beschränk­tes Gemein­wohl als Reprä­sen­ta­ti­on kon­kre­ter Bür­ger­inter­es­sen wird von ihm viel­mehr als unmo­ra­lisch, reak­tio­när, chau­vi­nis­tisch auf­ge­fasst. Man hal­te an über­kom­me­nen Ver­hält­nis­sen fest, heißt es dann, man sei rück­wärts­ge­wandt, man wol­le die eige­nen Pri­vi­le­gi­en nicht abge­ben — der gesam­mel­te Kanon sozia­lis­ti­scher Pole­mik ergießt sich nun plötz­lich auf die­je­ni­gen Deut­schen, die noch immer glau­ben, daß die Auf­ga­be der von ihnen gewähl­ten Poli­ti­ker dar­in bestün­de, im Sin­ne des Amts­ei­des den Nut­zen des deut­schen Vol­kes zu mehren.

Die Gering­schät­zung des eige­nen Lan­des als poli­ti­sches Ethos ist dabei kein intel­lek­tu­el­ler Spleen, son­dern längst bis in die höchs­ten Krei­se Deutsch­lands vor­ge­drun­gen. Astrid Wall­ra­ben­stein ist Pro­fes­so­rin für Öffent­li­ches Recht in Frank­furt und seit 2020 auf Vor­schlag der Grü­nen Rich­te­rin am Ver­fas­sungs­ge­richt in Karls­ru­he. Auf die Fra­ge, ob IS-Kämp­fer aus­ge­bür­gert wer­den soll­ten, ant­wor­tet sie: “Außer­dem kann ich nicht erken­nen, wie die Aus­bür­ge­rung die Sicher­heits­la­ge ins­ge­samt ver­bes­sert. […] Der Ver­lust der deut­schen Staats­an­ge­hö­rig­keit wür­de dazu füh­ren, dass ein wahr­schein­lich gefähr­li­cher Ter­ro­rist in einem ande­ren Staat zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen oder viel­leicht als “Gefähr­der” über­wacht wer­den müss­te. Da stellt sich die Fra­ge: Sind ande­re Staa­ten wirk­lich bes­ser gerüs­tet, um gegen einen Ter­ro­ris­ten vor­zu­ge­hen, als wir das sind, mit unse­rem Straf­recht und Polizeirecht?”

Hier wird die glo­ba­le Per­spek­ti­ve total, nicht das Gemein­wohl des ver­fas­sungs­ge­ben­den Vol­kes gibt den Aus­schlag, son­dern das der gesam­ten Mensch­heit, wäh­rend die Deut­schen von Frau Wall­ra­ben­stein wegen ihrer bes­se­ren Orga­ni­sa­ti­ons­fä­hig­keit zum Lei­den ver­pflich­tet wer­den. Eine sol­che Aus­sa­ge wird unter lin­ken Intel­lek­tu­el­len gefei­ert, und den­noch stellt sich die Fra­ge, inwie­fern sich die­se Hal­tung als legi­ti­me Reprä­sen­ta­ti­on des Volks­wil­lens ver­ste­hen will, wo sie doch in aller zyni­schen Offen­heit nicht den Nut­zen, son­dern den Scha­den meh­ren will. Der Begriff “Volks­ver­rä­ter” mag meist unre­flek­tiert gebraucht wer­den, aber: er trifft hier objek­tiv durch­aus zu. 2015 war kein Unfall oder Zufall. 

Ver­ein­zelt scheint die­ser Befund auch bereits von eta­blier­ten Poli­tik­wis­sen­schaft­lern geteilt zu wer­den. Phil­ipp Manow, Pro­fes­sor für Poli­tik­wis­sen­schaf­ten in Bre­men, stellt fest, daß in der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit nicht nur rechts- son­dern auch links­po­pu­lis­ti­sche Bewe­gun­gen ent­stan­den sind, bei­spiels­wei­se Pode­mos in Spa­ni­en oder Fran­ce Inso­u­mi­se in Frank­reich. Im Popu­lis­mus äußert sich so ver­stan­den kei­ne Demo­kra­tie­feind­lich­keit, son­dern eine “Kri­se der Reprä­sen­ta­ti­on”, ver­ur­sacht durch eine “Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung der Demo­kra­tie” auf­grund einer als alter­na­tiv­los kom­mu­ni­zier­ten glo­ba­lis­ti­schen Eli­ten­ideo­lo­gie. Die­ser Glo­ba­lis­mus äußert sich laut Manow in zwei Aspek­ten: zum einen neoliberal/ökonomisch in der Frei­zü­gig­keit des Kapi­tals, zum ande­ren neosozialistisch/moralisch im der Frei­zü­gig­keit von Men­schen. Die Dis­kus­si­on dar­über wird von den Eli­ten auf tech­no­kra­ti­sche, juris­ti­sche oder rhe­to­ri­sche Wei­se dem Bereich des demo­kra­tisch Ver­han­del­ba­ren ent­zo­gen. Da weder die eta­blier­ten Par­tei­en noch die eta­blier­ten Medi­en gewillt sind, anti-glo­ba­lis­ti­sche Posi­tio­nen zu ver­tre­ten, kana­li­siert sich das dar­aus ent­ste­hen­de Reprä­sen­ta­ti­ons­de­fi­zit in popu­lis­ti­schen Pro­test­be­we­gun­gen. Steht dabei die Kri­tik an Kapi­tal-Frei­zü­gig­keit im Vor­der­grund, ent­ste­hen links­po­pu­lis­ti­sche Bewe­gun­gen, ist es dage­gen Migra­ti­ons­kri­tik, sind es rechts­po­pu­lis­ti­sche. [4] So daß es viel­leicht gera­de die Neue Rech­te sein könn­te, die mit­tels eines klu­gen “soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus”, wor­in sich die Kri­tik an bei­den Glo­ba­li­sie­rungs-Aspek­ten ver­eint, die ent­schei­den­de Sys­tem-Alter­na­ti­ve schafft und die Völ­ker und Natio­nen die­ser Erde wie­der zu selbst­be­stimm­ten Sub­jek­ten ihrer selbst­ge­wähl­ten Zukunft machen kann, statt län­ger in Ago­nie als Objek­te für intel­lek­tu­el­le Uto­pien zu leiden.

5.

Doch um das Poten­ti­al neu­rech­ter Theo­rie­bil­dung zu nut­zen, darf auf der ande­ren Sei­te nicht geleug­net wer­den, daß bis­lang mit dem Begriff des Gemein­wohls von Rech­ten und Wut­bür­gern reich­lich unre­flek­tiert umge­gan­gen wur­de. Denn die ein­gangs wie­der­ge­ge­be­nen Vor­wür­fe tref­fen ja durch­aus zu: eine Par­tei, die exklu­siv glaubt, den Wil­len des Vol­kes zu ver­tre­ten, ist anti­de­mo­kra­tisch. So wie in Bezug auf die Lin­ke das Gemein­wohl vom All­ge­mein­wohl getrennt wer­den muss­te, ist auch in Bezug auf die Rech­te eine grund­le­gen­de Dif­fe­ren­zie­rung not­wen­dig: das Gemein­wohl ist kein Inhalt, son­dern ein ethi­scher Begriff — also ein Maß­stab, mit dem Inhal­te bewer­tet wer­den können.

Ent­lang der Ach­se der Ver­wechs­lung von Maß­stab und Inhalt kann eine kri­ti­sche Dif­fe­ren­zie­rung rech­ten Den­kens vor­ge­nom­men wer­den. Im klas­si­schen Rechts­ex­tre­mis­mus wer­den Par­tei und Volks­wil­le eins, über­wölbt zumeist von einem reli­gi­ös auf­ge­la­de­nen Füh­rer­kult, wor­in sich in einem ein­zel­nen Cha­ris­ma­ti­ker der Volks­wil­le als Bewußt­sein und Ent­schei­dungs­kom­pe­tenz kana­li­sie­ren soll. Das Pro­blem ist dabei aber weni­ger die Ableh­nung von Demo­kra­tie, son­dern die inhä­ren­te Über­for­de­rung: was sich hin­ter dem Pathos von Dis­zi­plin, Hier­ar­chie und Ord­nung, sei­ner orga­ni­sa­to­ri­schen Über­wäl­ti­gung wie sei­ner emo­tio­na­len Auf­la­dung ver­steckt, ist die offe­ne Fra­ge nach dem kon­kret Umzusetzenden.

Die vom Natio­nal­so­zia­lis­mus geschaf­fe­nen Orga­ni­sa­ti­ons- und Ent­schei­dungs­struk­tu­ren imi­tie­ren auf gera­de­zu rol­len­spiel­ar­ti­ge Wei­se For­ma­tio­nen des 19. Jahr­hun­derts — Aris­to­kra­tie, Mon­ar­chie, Mili­tär. Die Idea­li­sie­rung der Füh­rungs­fi­gur und des Prin­zips des Hier­ar­chi­schen ver­deckt dabei aber, daß die inner­halb die­ser Struk­tu­ri­mi­ta­ti­on zur poli­ti­schen Macht Gekom­me­nen nicht etwa lebens­lang auf ihre Ver­ant­wor­tung vor­be­rei­te­te Ade­li­ge und Offi­zie­re sind, son­dern eine orga­ni­sier­te Grup­pe ver­bit­ter­ter Klein­bür­ger. Nicht das Volks­wohl wird zur Herr­schaft gebracht — denn das ist kein Inhalt, son­dern ein ethi­scher Impe­ra­tiv, der des­halb nur durch Kul­tur und Erzie­hung ver­in­ner­licht wer­den kann. Zur Herr­schaft kommt, was die Rech­te am meis­ten ver­ab­scheut: eine Partei.

Es schließt sich hier auf gera­de­zu iro­ni­sche Wei­se der Zir­kel zur Demo­kra­tie­kri­tik des ers­ten Teils: der Miss­brauch der Insti­tu­tio­nen zuguns­ten einer Par­tei wird durch den Natio­nal­so­zia­lis­mus nicht abge­schafft, son­dern ledig­lich total. Mit allen ein­her­ge­hen­den Begleit­erschei­nun­gen: die Aus­wahl der Füh­rungs­po­si­tio­nen erfolgt nach inter­nen Netz­werk­fä­hig­kei­ten, ideo­lo­gi­scher Zuver­läs­sig­keit oder skru­pel­lo­sem Macht­hun­ger, doch die Fra­ge nach fach­li­cher und cha­rak­ter­li­cher Eig­nung wird zweit­ran­gig. Gleich­zei­tig wird durch die Ver­wechs­lung von Beur­tei­lungs­maß­stab und Inhalt eine fort­wäh­ren­de Radi­ka­li­sie­rung des Appa­rats sehr wahr­schein­lich. Denn ers­tens erzeu­gen unqua­li­fi­zier­te Ent­schei­der, deren Maß­stab nicht die rea­le Fol­ge, son­dern die blind-dog­ma­ti­sche Abar­bei­tung eines ideo­lo­gi­schen Ent­wur­fes ist, zwangs­läu­fig vie­le neue Pro­ble­me. Zwei­tens kön­nen die­se Pro­ble­me in einem geis­ti­gen Rah­men, wor­in Volks­wohl und Ideo­lo­gie axio­ma­tisch ineins gesetzt wird, nur durch immer wei­ter gestei­ger­te, ideo­lo­gi­sche Vehe­menz gelöst wer­den. Da das Sys­tem aus der Ineins­set­zung von Ideo­lo­gie und Volks­wohl ja gera­de sei­ne auto­ri­tä­re Selbst­le­gi­ti­ma­ti­on zieht, kann Kri­tik nicht kon­struk­tiv in den poli­ti­schen Pro­zeß inte­griert, son­dern muss als Sub­ver­si­on aus­ge­schlos­sen und vom okku­pier­ten Rechts- und Jus­tiz­sys­tem ver­folgt wer­den. Par­tei­in­ter­ne Säu­be­run­gen, Geheim­po­li­zei, Angst, Ein­schüch­te­rung — am Ende Sta­gna­ti­on, Resi­gna­ti­on in der Bevöl­ke­rung und welt­frem­de, para­no­ide Iso­la­ti­on bei den Eli­ten sind die Fol­ge: die kom­mu­nis­ti­schen Län­der zei­gen, was wahr­schein­lich auch aus dem Natio­nal­so­zia­lis­mus gewor­den wäre, hät­te er sich nicht bereits im Zwei­ten Welt­krieg selbst zerstört.

Daß umge­kehrt aber ein auto­ri­tä­res Modell durch­aus funk­tio­nal sein kann, sofern es sich imstan­de zeigt, die Gren­zen ideo­lo­gi­scher Dog­ma­tik zu über­win­den, zeigt aktu­ell Chi­na. Die Funk­tio­na­li­tät erweist sich aller­dings dar­in, daß die chi­ne­si­sche Füh­rung gera­de das anti­zi­pie­ren muss­te, was sie ideo­lo­gisch maß­geb­lich bekämpf­te, näm­lich Kapi­ta­lis­mus, Markt­wirt­schaft, Pri­vat­ei­gen­tum. Um dazu imstan­de zu sein, war es not­wen­dig, die offi­zi­el­le Par­teiideo­lo­gie zu tran­szen­die­ren, sozia­lis­ti­sche und kapi­ta­lis­ti­sche Ele­men­te sach­lich in Bezug auf ihre gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Aus­wir­kun­gen hin zu unter­su­chen und in ihren jeweils posi­ti­ven Aspek­ten zu nut­zen. Kurz gesagt: der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Chi­nas ist es gelun­gen, einen Maß­stab des Gemein­wohls zu etablieren.

Nur muss jetzt die Par­tei­or­ga­ni­sa­ti­on, die nur noch dem Namen nach kom­mu­nis­tisch ist, intern das leis­ten, was in einem demo­kra­ti­schen Land das zusam­men­ge­wür­fel­te Par­la­ment leis­tet: alle mög­li­chen Stand­punk­te und Alter­na­ti­ven abzu­bil­den und poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen aus­han­deln. Sie muss Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren schaf­fen, wor­in Infor­ma­tio­nen ver­ar­bei­tet und Ent­schei­dun­gen getrof­fen wer­den, sie muss bei ihren Par­tei­mit­glie­dern einen Geist kul­ti­vie­ren, bei der weni­ger eine kom­mu­nis­ti­sche Par­tei­dok­trin, son­dern der Nut­zen für die Zukunft des Lan­des im Mit­tel­punkt steht. Bzw: sie muss Hier­ar­chien und eine Aus­bil­dung schaf­fen, die eine Aus­wahl von Par­tei­mit­glie­dern ermög­licht, die die­se Cha­rak­ter­merk­ma­le vor­bild­lich ver­kör­pern. (Ich wer­de im drit­ten Teil die­ser Arti­kel­rei­he dann abschlie­ßend auf die Fra­ge nach Orga­ni­sa­ti­on und Erzie­hung, die sich hier nun gegen Ende des zwei­ten Teils lang­sam auf­drängt, näher eingehen.)

Stel­len wir also Chi­na, die DDR und den Natio­nal­so­zia­lis­mus in ihrer orga­ni­sa­to­ri­schen Ver­wandt­schaft neben­ein­an­der, öff­net sich eine inter­es­san­te Betrach­tungs­ebe­ne. Es wird sicht­bar, daß wir nicht aus­schließ­lich unter Struk­tur­ent­schei­dun­gen zu wäh­len haben. Die Schwä­chen der Demo­kra­tie wer­den nicht qua­si-auto­ma­tisch durch eine auto­ri­tä­re Orga­ni­sa­ti­on des Staa­tes beho­ben, wie vie­le Rech­te anneh­men. Umge­kehrt bedeu­ten aber die Schre­cken und Schwä­chen auto­ri­tä­rer Sys­te­me auch nicht, daß Demo­kra­tie ein jeder Kri­tik ent­ho­be­ner Selbst­läu­fer ist, wie der Libe­ra­le glaubt. Weder die hier­ar­chi­sche Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tur des Auto­ri­ta­ris­mus noch die als sich selbst­re­gu­lie­ren­des, frei­es Spiel aller Kräf­te gedach­te Demo­kra­tie garan­tiert strukt­ru­ell-auto­ma­tisch gute Politik.

Funk­tio­na­le Demo­kra­tie und funk­tio­na­ler Auto­ri­ta­ris­mus tei­len viel­mehr ein gemein­sa­mes Merk­mal: die Fähig­keit, einen unab­hän­gi­gen Maß­stab des Gemein­wohls zu eta­blie­ren, dem ideo­lo­gi­sche Dog­men wie auch Klas­sen- und Indi­vi­dual­in­ter­es­sen unter­ge­ord­net wer­den. Bis­marck und der preu­ßi­sche Adel waren dazu imstan­de, wes­halb die­se Zeit trotz ihrer man­geln­den poli­ti­schen Selbst­be­stim­mung bis heu­te als Vor­bild wirk­sam ist.

Im Lau­fe des 20. Jahr­hun­derts aber gerät der Rech­te zuneh­mend in die Müh­le moder­nis­ti­schen Den­kens und unter­wirft sich ihm, ohne das bis­lang selbst zu bemer­ken: statt wei­ter­hin auf sei­nem über­par­tei­li­chen Ethos zu behar­ren, beginnt er im eigent­lich ja abge­lehn­ten demo­kra­tisch-plu­ra­len Rah­men sein Den­ken als Pseu­do-Ideo­lo­gie zu ver­for­men und tritt schließ­lich mit einer eige­nen Pseu­do-Par­tei, die in ihren Idea­len, ihrer Art des Den­kens nur wenig mit den ande­ren Par­tei­en zu tun hat, zum Wett­kampf in der moder­nen Ideen-Are­na an. Damit ver­liert er aber das aus den Augen, was ihn eigent­lich poli­tisch antreibt, wor­in sei­ne inne­re, gefühl­te Wahr­heit besteht: der Wunsch des Wie­der­erste­hens einer tra­di­tio­na­lis­ti­schen, nor­m­in­te­grier­ten Gesell­schaft, die von Zusam­men­halt und Gemein­wohl geprägt ist, dege­ne­riert zu einer Vari­an­te des poli­ti­schen Tota­li­ta­ris­mus, womit einer bereits ethisch und ideo­lo­gisch zer­split­ter­ten Gesell­schaft der Zusam­men­halt als äuße­re, auto­ri­tä­re Struk­tur auf­ge­zwun­gen wer­den soll.

Bis heu­te ist die­ses Schei­tern in sei­nem theo­re­ti­schen Zusam­men­hang nicht auf­ge­ar­bei­tet wor­den. Das hat zur Fol­ge, daß weder die Neue Rech­te als par­ti­el­les Reform­pro­jekt noch der Rechts­po­pu­lis­mus als volks­tüm­lich-instinkt­haft gepräg­te Bewe­gung das Wah­re, das Rich­ti­ge, das im Kon­text einer ver­fal­len­den Neo-Demo­kra­tie für unse­re Zeit Not­wen­di­ge for­mu­lie­ren, ja, noch nicht ein­mal den­ken kön­nen. Statt­des­sen ent­steht hilf­lo­se Aggres­si­vi­tät, ziel­lo­se Wut, die, wie gese­hen, im Kern durch­aus legi­tim ist — bei deren destruk­ti­ver Blind­heit aber immer nach­voll­zieh­bar bleibt, wie­so sie vom Staat bekämpft wird. Mög­li­cher­wei­se kann die Rech­te die west­li­che Kul­tur ret­ten, statt ihr als ihr ewi­ger Idi­ot ins Grab zu fol­gen, doch sie wird sich dafür geis­tig wei­ter­ent­wi­ckeln müs­sen. Was bedeu­tet: um zu ver­hin­dern, daß die All­ge­mein­wohl­ori­en­tie­rung der herr­schen­den, von lin­ker Theo­rie gepräg­ten Eli­ten den Wes­ten zer­stört, muss die Rech­te als ihr Ant­ago­nist begrei­fen, daß das Volks­wohl kein poli­ti­scher Inhalt sein kann, son­dern ein not­wen­di­ger Maß­stab poli­ti­scher Ethik ist, den es neu zu eta­blie­ren gilt.

6.: Ausblick

Natür­lich steht dabei die Rech­te seit 100 Jah­ren vor einem grund­le­gen­den Pro­blem: durch die wach­sen­de Frag­men­tie­rung der Moder­ne wer­den die Bedin­gun­gen für die Mög­lich­keit einer gemein­wohl­ori­en­tier­ten Erzie­hung, bzw. eines gemein­wohl­ori­en­tier­ten poli­ti­schen Kul­tur über­haupt immer gerin­ger. Indi­vi­dua­lis­ti­sche, ratio­na­lis­ti­sche, sozio­lo­gi­sche und öko­no­mis­ti­sche Moti­ve erset­zen das preu­ßi­sche Ethos der Ein- und Unter­ord­nung unter das gemein­schaft­li­che Gan­ze, des Vol­kes, der Nati­on, der Kul­tur, der Reli­gi­on. Die Mas­sen­ge­sell­schaft mit ihrer epi­kurei­schen Mas­sen­mo­ral ersetzt die aris­to­kra­ti­sche Ethik — vie­le rech­te Autoren, von Nietz­sche über Evo­la bis Benoist haben den Befund getrof­fen, doch nie eine über­zeu­gen­de Ant­wort for­mu­lie­ren können.

Wir sind die­je­ni­gen, die in die­ser Sphä­re auf­ge­wach­sen sind und wir fin­den nichts Leben­di­ges, nichts Geleb­tes mehr vor, auf das wir bau­en könn­ten. Im Gegen­teil, wir fin­den uns selbst wie­der als Aus­ge­sto­ße­ne, als vom eige­nen Land Befein­de­te und Beschimpf­te, und alles, wor­an uns liegt, wird ver­höhnt und als wert­los und rück­wärts­ge­wandt ver­lacht. Dem Rech­ten fällt es heu­te schwer, sein eige­nes Volk zu lie­ben, und es nimmt nicht wun­der, daß vie­le sich ins Pri­va­te zurück­zie­hen, oder das gegen­wär­ti­ge Gesche­hen nur noch aus einem ober­fläch­lich zyni­schen, inner­lich aber doch ziem­lich hilf­lo­sen und ver­zwei­fel­ten Akze­le­ra­tio­nis­mus her­aus betrach­ten kön­nen. Ich selbst bin nicht gewillt, mich damit zufrie­den­zu­ge­ben. Wie also inner­halb eines lee­ren Rau­mes, eines kul­tu­rel­len Null­punk­tes ein Sys­tem schaf­fen, das nicht inhalt­li­che Oktroya­ti­on oder struk­tu­rel­len Zwang erzeugt, son­dern Cha­rak­te­re bil­det? Die Fra­ge ver­sucht auch Speng­ler bereits in “Neu­bau des Deut­schen Rei­ches” 1924 zu beant­wor­ten, um sie wird es sich im drit­ten und abschlie­ßen­den Teil mei­ner Arti­kel­rei­he dre­hen. Es lebe das Hei­li­ge Deutschland.

Fußnoten:

[1] Daß das mehr als ein Lip­pen­be­kennt­nis war, illus­triert viel­leicht Bis­marcks Umgang mit den Sozia­lis­ten: er ver­bie­tet einer­seits den Sozia­lis­mus, weil er als zu radi­kal und spal­te­risch auf­tritt, ande­rer­seits aber erfüllt er gleich­zei­tig deren wich­tigs­ten poli­ti­schen For­de­run­gen, da er sie als berech­tigt ansieht, näm­lich gesetz­li­che Kran­ken- und Rentenversicherung. 
“Und nun ging es an die sozia­le Reform­ar­beit. Schon in der Thron­re­de vom 15. Febru­ar 1881 und noch deut­li­cher in der Bot­schaft vom 17. Novem­ber des­sel­ben Jah­res wur­de sie [von Kai­ser Wil­helm I.] ange­kün­digt. Hier hieß es: ‘Schon im Febru­ar die­ses Jah­res haben wir Unse­re Über­zeu­gung aus­spre­chen las­sen, daß die Hei­lung der sozia­len Schä­den nicht aus­schließ­lich auf dem Wege der Repres­si­on sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Aus­schrei­tun­gen, son­dern gleich­mä­ßig auf dem der posi­ti­ven För­de­rung des Woh­les der Arbei­ter zu suchen sein wer­de. Wir hal­ten es für Unse­re Kai­ser­li­che Pflicht, dem Reichs­tag die­se Auf­ga­be von neu­em ans Herz zu legen, und wür­den mit um so grö­ße­rer Befrie­di­gung auf alle Erfol­ge, mit denen Gott Unse­re Regie­rung sicht­lich geseg­net hat, zurück­bli­cken, wenn es Uns gelän­ge, der­einst das Bewußt­sein mit­zu­neh­men, dem Vater­lan­de neue und dau­ern­de Bürg­schaf­ten sei­nes inne­ren Frie­dens und den Hilfs­be­dürf­ti­gen grö­ße­re Sicher­heit und Ergie­big­keit des Bei­stan­des auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen.’ 
Und in der Bot­schaft vom 14. April 1883 wur­de dann noch ein­mal der Über­zeu­gung Aus­druck gege­ben, daß ‘die Gesetz­ge­bung sich nicht auf die poli­zei­li­chen und straf­recht­li­chen Maß­re­geln zur Unter­drü­ckung und Abwehr staats­ge­fähr­li­cher Umtrie­be beschrän­ken dür­fe, son­dern suchen müs­se, zur Hei­lung oder doch zur Min­de­rung des in dem Straß­ge­setz bekämpf­ten Übels Refor­men ein­zu­füh­ren, wel­che das Wohl der Arbei­ter zu för­dern und die Lage der­sel­ben zu bes­sern und zu sichern geeig­net sind.’. Ange­sicht sei­nes hohen Alters mahn­te der Kai­ser aus­drück­lich zur Eile: solan­ge Gott ihm Frist gebe, wol­le er ‘kein in sei­ner Macht ste­hen­des Mit­tel ver­säu­men, um die Bes­se­rung der Lage der Arbei­ter und den Frie­den der Berufs­klas­sen unter­ein­an­der zu för­dern.’ ”
(Theo­bald Zieg­ler, Die geis­ti­gen und sozia­len Strö­mun­gen Deutsch­lands im 19. Jahr­hun­dert, Ber­lin 1911)
Dar­in liegt selbst­ver­ständ­lich ein nicht uner­heb­li­cher Anteil von macht­po­li­ti­schem Kal­kül — unse­re vie­len mar­xis­tisch ori­en­tier­ten His­to­ri­ker beto­nen das nicht ganz zu unrecht. Und den­noch kann wohl zuge­stan­den wer­den, daß hier das Ziel tat­säch­lich dar­in bestand, durch über­par­tei­li­ches, gerech­tes Abwä­gen die Sta­bi­li­tät des Lan­des zu gewährleisten.

[2] “Gemein­wohl” und “Wohl des Vol­kes” sind im Kon­text der deut­schen Ver­fas­sung deckungs­gleich. Der gesell­schaft­li­che Umgang mit den bei­den Begrif­fen unter­schei­det sich aller­dings enorm: wäh­rend “Gemein­wohl” offi­zi­ell auch vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt zur Begrün­dung bei­spiels­wei­se des staat­li­chen Gewalt­mo­no­pols ver­wen­det wird — Zufäl­li­ges Bei­spiel: “Grund­rechts­ge­bun­de­ne staat­li­che Gewalt im Sin­ne des Art. 1 Abs. 3 GG ist danach jedes Han­deln staat­li­cher Orga­ne oder Orga­ni­sa­tio­nen, weil es in Wahr­neh­mung ihres dem Gemein­wohl ver­pflich­te­ten Auf­trags erfolgt.“ — ent­wi­ckelt der Umgang mit dem “Volk” eine eigen­wil­li­ge, aber viel­leicht bezeich­nen­de Schi­zo­phre­nie: zum einen stellt das Volk das offi­zi­el­le, akti­ve Kon­sti­tu­ti­ons­sub­jekt unse­rer Ver­fas­sung und des Staa­tes dar — “Alle Staats­ge­walt geht vom Vol­ke aus” -, zum ande­ren aber ist “Volk” auf­grund sei­ner eth­ni­schen und geschicht­li­chen (“Ein Volk, ein Reich, ein Füh­rer”, “Völ­ki­sche Bewe­gung”) Kon­no­ta­ti­on im Lau­fe der Nach­kriegs­zeit zum Tabu­be­griff gewor­den. So hat es manch­mal den Ein­druck, als ob sowohl Ableh­nung als auch Zustim­mung zur Phra­se “Wohl des Vol­kes” zu einem erheb­li­chen Teil Fol­ge indi­vi­du­el­ler Asso­zia­tio­nen, bzw. poli­ti­scher Anschau­un­gen sind. Es wird kaum eine Dis­kus­si­on im Sin­ne der ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Bedeu­tung von “Volk” geführt, son­dern der Begriff viel­mehr von rechts reak­ti­viert, weil die Rech­te die eth­ni­sche Kon­no­ta­ti­on schätzt, von links dage­gen bekämpft, weil dort die eth­ni­sche Kon­no­ta­ti­on abge­lehnt wird. Damit wird aber mehr über das “Volk” als über das “Wohl” nach­ge­dacht, die Debat­te damit ihres eigent­li­chen Sin­nes entfremdet. 
Ich selbst ver­wen­de den Begriff “Volk” hier in einem völ­lig neu­tra­len Sinn, es macht für die Argu­men­ta­ti­on, die Her­lei­tung des Gemein­wohls kei­nen Unter­schied, ob damit eine rech­te “Abstam­mungs­ge­mein­schaft”, ein libe­ra­ler “civic natio­na­lism”, der sich über den Pass­be­sitz defi­niert oder auch ein neu­lin­kes “alle, die sich zufäl­li­ger­wei­se gera­de inner­halb die­ser zufäl­lig gezo­ge­nen, reak­tio­nä­ren Gren­zen auf­hal­ten” gemeint ist. Maß­geb­lich ist ledig­lich, daß eine wie auch immer gear­te­te Grup­pe einen wie auch immer gear­te­ten Modus ent­wirft, um gemein­sam Ent­schei­dun­gen zu treffen. 

[3] Die Demo­kra­tie kann ihren Plu­ra­lis­mus nicht dadurch recht­fer­ti­gen, daß sie das Prin­zip des Plu­ra­len, bzw. der indi­vi­du­el­len Wahl­frei­heit, ein­fach axio­ma­tisch als höher­wer­tig, oder als “berei­chernd”, wie es im zeit­ge­nös­si­schen Wort­lauf oft heißt, pos­tu­liert. Das wäre ein Zir­kel­schluß, der Plu­ra­lis­mus des­halb vor­zieht, weil er ihn vor­ab ein­fach als “gut” defi­niert hat, ohne das Gute an ihm auf­zu­zei­gen. Der Plu­ra­lis­mus der Demo­kra­tie muss sich viel­mehr über­haupt erst ein­mal selbst gegen­über ande­ren Regie­rungs­for­men legi­ti­mie­ren kön­nen. “Wenn in der gro­ßen Wen­de vom 18. zum 19. Jahr­hun­dert die ‘Fürs­ten­frei­heit’ durch Völ­ker­frei­heit ersetzt wer­den soll­te, so konn­te ein Sinn nur dar­in lie­gen, wenn die Aus­le­se der Regie­ren­den bes­ser, deren Metho­den erfolg­rei­cher, ihre Leis­tun­gen grö­ßer wur­den.”, so drück­te Speng­ler es aus. Um es moder­ner zu for­mu­lie­ren: die Demo­kra­tie, bzw. der Modus eines Par­tei­en-Par­la­men­ta­ris­mus, der ja bereits nur eine mög­li­che Unter­form einer Demo­kra­tie dar­stellt, kann sich nur gegen­über ande­ren Regie­rungs­for­men legi­ti­mie­ren, wenn durch ihn der Volks­wil­le, der iden­tisch mit der Meh­rung des Volks­woh­les ist, in höhe­rem Maße ver­wirk­licht wer­den kann. 

[4] Wobei, was mir als blin­der Fleck sei­ner Theo­rie erscheint, Manow nicht zwi­schen Neo­li­be­ra­lis­mus und Neo­so­zia­lis­mus unter­schei­det, er nennt bei­des “Libe­ra­lis­mus”. Gera­de die Gene­se der EU aber zeigt das Zusam­men­wir­ken die­ser zwei eigent­lich ver­fein­de­ten Ideo­lo­gien: Gegrün­det wird sie als neo­li­be­ral inspi­rier­te Wirt­schafts­ge­mein­schaft, immer bereits struk­tu­rell dar­auf abzie­lend, die Sphä­re der Wirt­schaft tech­no­kra­tisch gegen­über demo­kra­ti­scher Ein­fluß­nah­me abzu­schir­men. Noch TTIP, gegen das 2014/2015 Hun­der­tau­sen­de — meist aus dem lin­ken Spek­trum — demons­trier­ten, woll­te ein Gre­mi­um aus Wirt­schafts­lob­by­is­ten instal­lie­ren, die jen­seits des Par­la­men­tes an Geset­zes­ent­wür­fen hät­ten mit­ar­bei­ten sollen.
Für die Neo­so­zia­lis­ten indes ist der Kapi­ta­lis­mus nicht ein­fach der Feind, son­dern viel­mehr die not­wen­di­ge Vor­stu­fe zum Sozia­lis­mus. Der Kapi­ta­lis­mus hat, ganz im Sin­ne des Kom­mu­nis­ti­schen Mani­fes­tes von Marx und Engels “alle feu­da­len, patri­ar­cha­li­schen, idyl­li­schen Ver­hält­nis­se zer­stört. [Die Bour­geoi­sie] hat die bunt­sche­cki­gen Feu­dal­ban­de, die den Men­schen an sei­nen natür­li­chen Vor­ge­setz­ten knüpf­ten, unbarm­her­zig zer­ris­sen und kein ande­res Band zwi­schen Mensch und Mensch übrig­ge­las­sen als das nack­te Inter­es­se, als die gefühl­lo­se “bare Zah­lung”. […] Sie hat, mit einem Wort, an die Stel­le der mit reli­giö­sen und poli­ti­schen Illu­sio­nen ver­hüll­ten Aus­beu­tung die offe­ne, unver­schäm­te, direk­te, dür­re Aus­beu­tung gesetzt.” Anders gesagt: indem der ent­hemm­te Neo­li­be­ra­lis­mus alle bestehen­den kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Struk­tu­ren ver­nich­tet, alle tra­di­tio­nel­len, wert­in­te­grier­ten Sys­te­me auf­löst, wird die Welt­mensch­heit als sozia­lis­ti­sche Gleich­heits- und Har­mo­nieu­to­pie über­haupt erst mög­lich. Er zer­stört his­to­risch gewach­se­ne Iden­ti­tä­ten, Wer­te und Bin­dun­gen als bloß idea­lis­ti­sche “Illu­sio­nen” und erzeugt so eine aus­ge­beu­te­te, wüten­de Mensch­heits-Mas­se als öko­no­misch-mate­ria­lis­ti­sche Rea­li­tät, die schließ­lich zur Revo­lu­ti­on schrei­tet, um das kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem final zu zer­schla­gen. Unter Schlag­wor­ten wie “Uni­ver­sa­lis­mus”, wie “west­li­che Wer­te”, wie “Frei­heit” oder “Frei­zü­gig­keit” haben im Prin­zip also die Neo­so­zia­lis­ten die in den letz­ten Jahr­zehn­ten ent­stan­de­nen neo­li­be­ra­len Struk­tu­ren unter­wan­dert, nut­zen des­sen demo­kra­ties­kep­ti­sche, tech­no­kra­ti­sche Ent­ho­ben­heit wie auch des­sen nai­ven Fort­schritts-Stumpf­sinn und for­dern nun, nach­dem die neo­li­be­ra­le Trans­for­ma­ti­on des Pla­ne­ten sich der Voll­endung nähert, den Kopf des Wes­tens als fina­le Gerech­tig­keit und geschicht­li­chen Fort­schritt. Nach der Gene­se des Wohl­stands die revo­lu­tio­nä­re Zer­schla­gung und Umver­tei­lung des Wohl­stands, so lau­tet die mate­ria­lis­ti­sche Dia­lek­tik. Und wenn nun beim Tech­no­kra­ten-Tref­fen in Davos mitt­ler­wei­le Gre­ta Thun­berg oder Flücht­lings­ak­ti­vis­ten teil­neh­men — Kräf­te also, für die Wirt­schafts­kri­tik und Umver­tei­lung im Mit­tel­punkt ste­hen -, hat unter der Ober­flä­che ein Wan­del statt­ge­fun­den, der von Phil­ipp Manow in sei­ner Grund­sätz­lich­keit über­haupt nicht erkannt wird. 
Posted on 12. Dezember 20208. Juni 2022

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