1.
“An Liberalismus gehen die Völker zugrunde”, so postulierte Arthur Moeller van den Bruck es in seiner Programmschrift “Das Dritte Reich” und übte damit nicht nur auf den Nationalsozialismus, sondern bis heute auf die Rechte bedeutenden Einfluß aus. Daß das deutsche Volk schließlich nicht am Liberalismus, sondern am Dritten Reich zugrunde ging, scheint dabei manchem nur belangloses Detail. Doch wirkt womöglich nur das eine Gift schnell, das andere dagegen schleichend? Die Problemlagen moderner Gesellschaften treten auch dem weltanschaulich neutralen Beobachter zunehmend ins Auge. Und während mit immer größerer Inbrust, dessen Pathos die Grenze zur Verzweiflung nicht selten überschreitet, von den Wortführern in Politik und Geisteswissenschaft liberale Schlagworte beschworen werden, scheint man doch außerstande, diesen Beschwörungen realpolitische Taten folgen zu lassen, die geeignet wären, diese Problemlagen zu entschärfen und die anwachsende Opposition zu widerlegen.
Gehen unsere Völker also gerade am Liberalismus zugrunde? Diesbezüglich stellt sich zunächst einmal die Frage, was dem Liberalismus überhaupt vorgeworfen wird. In seinem wirkmächtigen Essay “Gegen die Liberalen” formuliert Armin Mohler es folgendermaßen: “Das eigentliche politische Problem des Liberalismus ist, daß eine liberale Praxis nur möglich ist, wenn gewisse Traditionsbestände an Gewohnheiten und tief eingerasteten Sitten noch vorhanden sind, mit deren Hilfe die Gesellschaft ihre Schwierigkeiten meistert. Salopp gesprochen: sechs konservative Jahrhunderte erlauben es zwei Generationen, liberal zu sein, ohne Unfug anzurichten. Sind aber jene Bestände in der permissiven Gesellschaft einmal aufgezehrt, so werden die bestgemeinten liberalen Parolen zu Feuerlunten.”
Bemerkenswert an dieser Diagnose ist, daß der Liberalismus dem nicht notwendigerweise zu widersprechen scheint. Ernst-Wolfgang Böckenförde, einer der maßgeblichen Verfassungsrechtler der Bundesrepublik, drückt es in seinem berühmt gewordenen “Böckenförde-Diktum” so aus: “So stellt sich die Frage nach den bindenden Kräften von neuem und in ihrem eigentlichen Kern: der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heisst mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritären Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und — auf säkularisierter Ebene — in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.”
Man stößt hier auf eine überraschende Übereinstimmung in der Argumentationsstruktur. Mohler wie Böckenförde sind darin einig, daß Liberalismus zunächst einmal eine Mangel-Konstruktion ist. Seine Fokussierung auf den Begriff der Freiheit verdeckt, daß er auf ein unfreiheitliches, überindividuelles Fundament angewiesen ist, einem kulturellen Bestand an Sitten, Moral und gesellschaftlicher Homogenität, die den Bürger gerade nicht freimacht, sondern ihn gemeinwohlorientiert bindet und damit den Staat als Gemeinschaft überhaupt erst konstituiert.
Doch während der eine ihn verwirft, hält der andere an ihm fest. Mohler spricht von einem “Aufzehren”, scheint also davon auszugehen, daß Liberalismus eine schleichende zerstörerische Wirkung ausübt. Böckenförde dagegen begründet sein Dafürhalten negativ, er warnt vor der Gefahr des Bürgerkriegs. Wie kommen diese so unterschiedlichen Wertungen zustande? Das soll nun näher untersucht werden.
In seinem Aufsatz “Die Entstehung des Staates als Vorgang des Säkularisation” leitet Böckenförde das Argument der Bürgerkriegsvermeidung historisch her. Für ihn beginnt die Idee des liberalen Staates bereits im Mittelalter mit dem Investiturstreit. Damals bereits zerbricht im Streit von Papst und König um das Recht zur Einsetzung von Bischöfen die mittelalterliche Idee einer Einheit von Staat und Religion, weltliche und religiöse Sphäre trennen sich auf.
Die nächste Stufe der Liberalisierung seines Staatsverständnisses erfährt Europa durch die politischen Konsequenzen des Protestantismus und der sich daraufhin vollziehenden Kirchenspaltung. Die frühe Moderne ist geprägt von konfessionellen Bürgerkriegen und während Deutschland daran zugrundegeht und durch den 30jährigen Krieg in einen Flickenteppich von Kleinstaaten zerfällt, in denen jeweils eine eigene “Staatsreligion” verpflichtend ist, sind Frankreich und Großbritannien imstande, ihre staatliche Integrität zu erhalten. Doch hat dieser Erhalt einen Preis: die Religionsfreiheit. “Erst dadurch, daß sich die Politik über die Forderungen der streitenden Religionsparteien stellte, sich von ihnen emanzipierte, ließ sich überhaupt eine befriedete politische Ordnung, Ruhe und Sicherheit für die Völker und die einzelnen, wieder herstellen.”
So verstanden ist die abendländische Geschichte eine Geschichte von Krisen, die jeweils mit einem Zuwachs differenzierender Freiheit einzelner Positionen verbunden war, bis schließlich mit der französischen Revolution das Prinzip individueller Freiheit selbst zur Herrschaft kommt. Das wiederum, wie Böckenförde mutmaßt, am Ende durch den wachsenden Freiheitsanspruch des Einzelnen möglicherweise auch den Staat selbst infragestellen wird.
2.
“Gegen die Liberalen” von Mohler dann ist leider in einem essayistischen Stil verfasst, der sich durchaus bei mehrmaligem Lesen als gedankenvoll erweist, einen einfachen, systematischn Zugang aber erschwert. Allerdings stellt er seinem Essay den bereits erwähnten Kern-Satz “An Liberalismus gehen die Völker zugrunde” von Arthur Moeller van den Bruck als Motto voran, was auf einen bedeutenden Einfluß schließen lässt. Und tatsächlich stößt man in Moeller van den Brucks Werk “Das Dritte Reich” auf eine Begründung des angenommenen liberalen Zersetzungscharakters, die sich, wie wir sehen werden, mit Mohlers Sichtweise als weitgehend deckungsgleich herausstellt.
“Die Entstehungsstelle des modernen Liberalismus liegt dort, wo sich das Individuum den mittelalterlichen Bindungen entrang. Der liberale Mensch sagte hernach: wo es sich von ihnen freimachte. Schon diese Freigeisterei war eine Täuschung.
Jene Bindungen waren Leistungen. Es waren die kirchlichen, die staatlichen, und schließlich die gotisch-struktiven Bindungen, durch die der antiken Auflösung für ein Jahrtausend ein Ende gemacht wurde. Es waren die großen Leistungen, die während des Mittelalters das bedeuteten. was später nach einem sehr viel kleineren Maßstabe, den man an sehr viel kleinere Dinge anlegte, der „Fortschritt” genannt worden ist. Die Menschen dieser Leistungen standen fest in den Bindungen, die sie schufen, und sie schufen diese Bindungen, weil sie fest in ihnen standen. Sie steigerten sich an ihnen. Sie hoben sich mit ihnen empor. Die mittelalterlichen Bindungen waren der mächtige Unterbau mächtiger Wirksamkeiten. Die Freiheit jedoch, von der Niemand aufklärerisch sprach, weil Alle sie schöpferisch besaßen, war bei den Menschen solcher Leistungen wunderbar aufgehoben: als Wille in Tätigkeit.
Aber auf diese mächtige Zeit folgte ein auflösendes Geschlecht. Der Individualismus verstärkte zunächst den Mittelpunkt, den der Mensch in seinen Bindungen besaß, durch den Mittelpunkt, den er in sich selbst besitzt. Er bekam durch den Humanismus das Bewußtsein einer besonderen Menschenwürde. Und der Individualismus der Lebensführung erhielt in der Renaissance sein Maß, seine Form, seine klassische Haltung.” (Arthur Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich)
Wir stoßen zunächst auf eine weitere Übereinstimmung von Liberalismus und Liberalismuskritik, denn wie Böckenförde beginnt Moeller van den Bruck seine Analyse mit dem Mittelalter, wo er ebenfalls eine Übereinstimmung von Staat und Religion feststellt. Doch was bei Böckenförde als kultureller Lernprozess durch das Austragen politischer Konflikte aufgefasst wird, stellt sich bei Moeller van den Bruck als geistiges Verhängnis dar. Aus einem nicht näher ausgeführten Grund wird am Ende des Mittelalters die Idee des “Individuums” geboren. Diese geht einher mit einem skeptizistischen Rationalismus, der die Gebundenheit des mittelalterlichen Menschen langsam zersetzt. Doch wieso ist ihm Rationalität und Individualismus Zersetzung, während Böckenförde darin einen positiven Prozess sieht, ihn also als Wissenzuwachs auffasst und damit als “Fortschritt” im eigentlichen Sinn des Wortes?
“Und das Denken vollends wurde aus seinen universalen Bahnen geworfen und in die spezialistischen Geleise gedrängt, an deren schmalem Ende nicht mehr der geschaute Kosmos steht, sondern das Experiment, und womöglich die Statistik. Die Menschen dieser Jahrhunderte brachten es zu ihren mannigfachen chemischen, physikalischen, mathematischen, astronomischen und schließlich soziologischen Ergebnissen. Aber sie brachten die Erkenntniskraft nicht auf, die ihrem verstandesmäßigen Bemühen gesagt hätte, daß alle diese Ergebnisse immer nur Einsichten in ein Teilwesen der Natur bedeuten. Sie machten aus ihnen vielmehr einen Selbstzweck, der immittelbar vom Hirne aus ein vermeintliches Licht auf die vermeinte Wahrheit hinübersandte. Sie nannten dies Aufklärung.
Der Mensch war seiner Vernunft überantwortet. Und die Vernunft war auf sich selbst angewiesen. Sie ersetzte die Offenbarung durch die Erfahrung. Sie vernahm nicht mehr. Sie beobachtete nurnoch. Sie zog nicht mehr dogmatische Schlüsse, wie der Glaube getan hatte. Sie zog auch nicht mehr visionäre Schlüsse, wie der Mystiker. Sie zog auch nicht idealistische Schlüsse, wie der Humanismus. Sie zog jetzt kritische Schlüsse: „es gibt keine angeborenen Ideen” — „es gibt keinen Gott” — „der Mensch ist nicht frei.” Es waren lauter Verneinungen, aber es waren — ha! welche Entdeckungen! Man sah nicht, daß man nur gegen Namen anrannte, während die Erscheinungen bestehen blieben. Man ahnte nicht, daß die Welt um so wunderbarer wird, je mehr man von ihr erkennt. Man sagte sich nicht, daß man sich nur noch in den Vordergründen der Dinge bewegte und aus jeglichen Zugang zu ihrem Hintergründe verzichtete, den man in ein ganz und gar Anfaßliches zurückschob, um das man sich überhaupt nicht mehr kümmerte. Der Mensch dieser Aufklärung aber leitete in einem Hochamte der Vernunft, der für ihn bezeichnend geblieben ist, von ihr das Recht her, sich von seinen letzten Bindungen lösen zu dürfen.”
Hier also liegt die Wurzel von Moeller van den Brucks Liberalismuskritik. Der Zersetzungscharakter des Liberalismus entsteht für ihn dadurch, daß ihm die intellektuelle Methodik der Moderne, Rationalismus und Naturwissenschaft, die Wirklichkeit der Welt und des menschlichen Daseins verfehlt. Der Prozess der Moderne wird zur Entfremdungsgeschichte, eine Schimärenwolke aus Zahlen, Begriffen und skeptizistischer Hinterfragung verliert am Ende die “Erscheinungen” selbst aus dem Blick, statt eines bejahend “geschauten Kosmos” stehen Theoriebildungen, deren intellektualistische Ideen von “Freiheit” oder “Individuum” den Menschen aber schließlich nur in eine destruktive Richtung lenken, ihn vom eigentlichen Reichtum der Wirklichkeit entfremden.
Moeller van der Brucks Aufklärungskritik ist dabei deutlich weniger originell als der heutige Leser möglicherweise annimmt. “Der Geist als Widersacher der Seele”: nachdem im 19. Jahrhundert weitgehend das Programm der Aufklärung vorherrschte, bricht sich an seinem Ende eine breite Gegenbewegung Bahn. Hier finden mannigfaltige Einflüsse zueinander: die Neuentdeckung der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, worin er in steter Kritik an der Ausschließlichkeit von Zahlen und Formeln, womit die Aufklärung die Welt zu beschreiben sucht, eine eigene Erkenntnislehre entwickelt. “Von nun an fügt sich alles nach und nach unter höhere Regeln und Gesetze, die sich aber nicht durch Worte und Hypothesen dem Verstande, sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbaren.” (Goethe, Farbenlehre) Auch die lange geschmähten Romantiker werden neu entdeckt, unter denen beispielsweise Novalis bereits 1802 in “Die Christenheit in Europa” das Mittelalter als goldenes Zeitalter begriff. Was während des fortschrittsaffinen 19. Jahrhunderts noch als Verirrung verlacht wurde, trifft plötzlich wieder den Nerv einer Generation, die nach dem Sinn all dieses Fortschritts, all dieses Immer-Mehr-Wissens und Immer-Mehr-Könnens zu fragen beginnt.
Die zeitweilig äußerst populäre Philosophie Schopenhauers bringt die mittelalterliche Mystik, als Überwindung von Ego und Ratio durch Gottesschau, zurück ins moderne Bewußtsein. Richard Wagners epochale Opern spielen ebenfalls im frühen Mittelalter, während er, beeinflußt sowohl von Schopenhauer als auch Novalis’ “Hymnen an die Nacht”, in seinem “Tristan” eine Vision von Liebe und Tod, von Erlösung und Selbstauslöschung zu einem für den Hörer überwältigenden Ausdruck bringt. Und Wagner geht noch weiter, in seiner letzten Oper, dem “Bühnenweihspiel” Parsifal, sucht er die Erlösung (letztlich: vom modernen Ich) durch Religion mittels Musik auszudrücken und reisst damit die besten Köpfe einer ganzen Generation mit. “Obgleich ich recht skeptisch hinging und das Gefühl hatte, nach Lourdes oder zu einer Wahrsagerin oder an sonst einen Ort suggestiven Schwindels zu pilgern, war ich schließlich tief erschüttert.” schildert beispielsweise Thomas Mann sein Parsifal-Erlebnis, die Auseinandersetzung mit Wagner wird ihn sein ganzes Künstlerleben lang begleiten.
Diese Aspekte schließlich, und es wären derer noch mehr, fließen schließlich im Deutschland des späten 19., frühen 20. Jahrhunderts zusammen. Vom Germanentum der Nibelungen über die Gralsmythen des Mittelalters und die spirituelle Ganzheitlichkeit christlicher Mystik bei Meister Eckhart, über die Aufklärungskritik Goethes und der Romantiker bis hin zur quasi-religiösen Gewalt wagnerscher Opern — ein breites, geschichtliches Panorama entfaltet sich, woraus die im Zuge der Neugründung des Deutschen Reiches von glühendem Nationalstolz angetriebenen Deutschen den Entwurf eines genuin “deutschen Denkens” meisseln. Dieses, als immer schon aufklärungskritisches, religiöses und “tiefes” aufgefasst, stellt man nun als Volkscharakteristik dem der Engländer, Franzosen, Russen oder Italiener entgegen. Ich schildere diese Hintergründe so ausführlich, da sie in der deutschen Gegenwartskultur als Erinnerung vollkommen ausgelöscht sind.
In diesem Sinn also wäre Arthur Moeller van den Bruck, der bis dahin als Verfasser populärwissenschaftlicher Geschichtswerke und Herausgeber Dostojewskis an die Öffentlichkeit getreten war, kaum mehr denn als blasser Epigone aufzufassen. Daß er das allerdings nicht bleibt, sondern zu einem maßgeblichen Ideengeber der später von Armin Mohler als “Konservative Revolution” betitelten Oppositionsströmung gegen die Weimarer Republik wird, liegt an einer so charakteristischen wie folgenschweren Wendung: er wendet eine Aufklärungskritik, die damals unter Intellektuellen weitgehend konventionalisiert war, vom Ideengeschichtlichen ins Politische. Denn die hier zitierten Bruchstücke sind eingewoben in eine akute, drängende Frage, die er sich 1923 in “Das Dritte Reich” zu beantworten versucht: wieso hat Deutschland den Weltkrieg verloren?
“Und dem Liberalismus fiel die Verwirrung der Begriffe zu, die aus dem Westen kam und auf die Deutschland hereinfiel. Wir haben heilig ernst genommen, was unsere Feinde immer nur ausspielten: jene großen Schlagworte, unter denen der Weltkrieg geführt wurde. Unsere Feinde haben sie je nach Bedarf für Sich und gegen Uns ausgespielt. Sie haben ihnen jede Deutung gegeben, die sie brauchten.”
Wesen des Liberalismus ist ihm die Entfremdung des Denkens vom Sein, das liberale Denken ist “welt-fremd” im eigentlichen Sinn des Wortes, wodurch derjenige, der es als wirklich auffasst, Schaden davonträgt. So verliert durch den Liberalismus (der hier immer als Überbegriff für die gesamte Moderne steht) nicht nur der einzelne Mensch seinen spirituellen Halt. Sondern ganzen Völkern geht damit der Halt, also die schicksalshafte Bindung zueinander, verloren, und damit die Fähigkeit zu effektivem, politischem Handeln.
Menschheit, Weltfrieden, Fortschritt — die pathetische Phraseologie des Liberalismus ist in Moeller van den Brucks Augen lediglich leeres Wortgeklüngel, womit die Deutschen auf intellektueller Ebene sabotiert und in die Falle eines fatalen Friedenschlusses hineingelockt wurden. Erst hier dann offenbart sich die Realität, daß nämlich die Kriegsgewinner den Liberalismus lediglich als strategische Rhetorik einsetzten, um die tatsächliche Wirklichkeit, nämlich ihre Interessenspolitik, zu maskieren, der es niemals um “Weltfrieden” ging, sondern um das Vernichten Deutschlands als Konkurrenten. In diesem Sinne rechnet Moeller van den Bruck darauf, daß die sichtbare Ungerechtigkeit des Versailler Vertrages die Falschheit des Liberalismus nunmehr endgültig bloßstellen müsse.
“Wir können die Frage zunächst nur mit der Erwartung beantworten, daß das Verderben, welches uns bereitet wurde, schließlich auf diejenigen zurückfallen wird, die es uns bereiteten. Es ist die Erwartung, daß der letzte, schwierigste, aber auch abgefeimteste Anschlag, den ein immer geflissentlich arbeitender Liberalismus betrieb, als er alle Völker gegen ein Volk zusammenbrachte, auch seine letzte Untat gewesen sein wird. Es ist die Erwartung, daß vom Frieden von Versailles eine Weltbloßstellung des liberalen Menschen ausgeht, die der Liberalismus nicht überleben wird.”
Und es ist dieser Vorwurf der Weltfremdheit, den auch 1988 Armin Mohler in “Gegen die Liberalen” ins Zentrum seiner Liberalismuskritik stellt: “Die Postulate des Liberalismus sind alle unerfüllbar, weil sie auf einer falschen Einschätzung des Menschen und auf einer falschen Sicht der Welt beruhen.” schreibt Mohler und bezeichnet den Liberalismus als “Drei-Uhr-Morgens-Denken”, das nur losgelöst von aller Lebenswirklichkeit existieren könne. “Das Drei-Uhr-Morgens-Denken entwirft mit leichter Hand die Welt neu, denn die vorhandene Welt ist viel zu kompliziert. Also denkt man sich eine einfachere Welt aus, in der alle Gleichungen aufgehen.”
Dabei, und auch hier bleibt er bei Moeller van den Bruck, ist es der Individualismus, der den Gipfel der Verirrung darstellt: “Die Vorstellung eines autonomen “Individuums”, wie sie dem Liberalen so am Herzen liegt, ist die schlimmste aller Abstraktionen. Es ist geradezu banal, das festzustellen: jeder Mensch steht in einem Lebenszusammenhang, von dem aus er denkt und reagiert. Er ist in seiner Familie verwurzelt oder in der Bindung an andere Menschen, er steht in seiner Landschaft (auch wenn es eine Großstadtlandschaft ist).”
So sehr nun auch der tendenziell romantisch veranlagte Leser — wozu der Verfasser dieses Textes sich zählt — mit Moeller van den Brucks Kritik an der Moderne tendenziell sympathisieren mag, so stoßen wir, die wir uns ja nun vorgenommen haben, den liberalen mit dem antiliberalen Standpunkt kritisch zu vergleichen, dennoch auf einen zentralen Selbstwiderspruch. Denn wenn der Vorwurf an den Liberalismus der einer abstrakten, weltfernen Traumwelt sein soll, worin im Gegensatz zur realen Welt “alle Gleichungen aufgehen”, dann trifft dieser Vorwurf genauso auf Moeller van den Brucks Vorstellung des Mittelalters zu.
“Das “Reich” lebte nicht aus römischem Kaisererbe, wenngleich es daran anknüpfte, sondern aus christlicher Geschichtstheologie und Endzeiterwartung, es war das Reich des populus christianus, Erscheinungsform der ecclesia, und als solches ganz einbezogen in den Auftrag, das “regnum dei” auf Erden zu verwirklichen und den Ansturm des Bösen im gegenwärtigen Äon aufzuhalten (kat-echon). Kaiser und Papst waren nicht Repräsentanten einerseits der geistlichen, andererseits der weltlichen Ordnung, beide standen vielmehr innerhalb der einen ecclesia als Inhaber verschiedener Ämter (ordines), der Kaiser als Vogt und Schirmherr der Christenheit ebenso eine geweihte, geheiligte Person (Novus Salomon) wie der Papst: in beiden lebte die res publica christiana als religiös-politische Einheit. Das politische Geschehen war so von vornherein eingebunden in das christliche Geschichtsbild, erhielt von ihm aus seine Richtung und seine Legitimation.”
So schildert Böckenförde die Idee des mittelalterlichen Staates. Doch handelt es sich genau besehen dabei auch nur um ein theoretisches Ideal, eine öffentlich-politische Proklamation, weniger um gelebte Realität. Im Gegenteil zeigt der Investiturstreit, daß die Idee einer religiös-politischen Einheit — genau wie die Weltfriedens-Proklamationen im Ersten Weltkrieg — nicht mit der damaligen politischen Wirklichkeit übereinstimmt, sondern ebenfalls nur den Mantel abstrakter Ideale über die wahre Interessenspolitik wirft. Damit offenbart sie sich als ein nicht weniger weltfernes Ideal als die liberale Vorstellung einer konfliktfrei und vernünftig Richtung Weltfrieden wandernden Menschheitsfamilie. Auch im Mittelalter gehen die Gleichungen nicht auf, und es ist dieses Nicht-Aufgehen, das den Gang der Geschichte aus seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit heraus erzwingt. Das “regnum dei”, die religiös-politische Einheit zerbricht nicht an einem theoretischen “Individualismus”, sondern daran, daß die Theorie-Bindung des mittelalterlichen Staates reale Individualitäten unberücksichtigt liess. Sie zerschellt an den unterschiedlichen Interessenslagen von König und Papst, die beide das Recht auf Ernennung von Bischöfen für sich beanspruchen, um ihren Einfluß, ihre Macht und ihren Wohlstand zu mehren. Nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen muss das politische System angeglichen werden, muss eine Bindung, die deshalb dysfunktional ist, weil sie mit der Realität in Widerspruch steht, aufgelöst werden. Das politische System als abstraktes Gedankengebäude wird an die reale Welt angeglichen, die verschiedenen Interessenslagen theoretisch aufgefangen, und erst damit wird ein friedliches Zusammenleben wieder möglich.
Sehr geehrter Nigromontanus,
Danke für den anregenden Text und die Gelegenheit, diesen lesen zu können.
Ich schreibe diesen Kommentar , um auf eine weitere Facette des Böckenförde Textes hinzuweisen, die meiner persönlichen Literaturerfahrung geschuldet sein mag.
Der Text von Böckenförde (‘Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation’) hatte für mich vor allem immer einen Klang, der war schmittianisch, und das hat sich auch noch mal durch die Lektüre des Briefwechsels Böckenförde / Schmitt (den man für Umme runterladen kann: https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/welch-guetiges-schicksal-id-100820/) bestätigt.
Man könnte dies jetzt am Text — was die eigentlich valide Methode wäre — einzeln nachweisen, dafür ist an dieser Stelle aber wenig Raum, deshalb möchte ich es bei 2 indizienhaften Hinweisen belassen:
— Ein Blick in die Fußnoten von Böckenfördes Text offenbaren eine ideengeschichtlichen Hintergrund, der schmittianischer kaum sein könnte, als Vergleich könnte man z.B. den ‘Nomos der Erde’ heranziehen. Die Verweise in den FN beziehen sich u.a. auf: Brunner, Barion, Schnur, die MA Auseinandersetzung von potestas directa vs indirecta und an mehreren Stellen Schmitt selbst.
— Der Erscheinungsort des Aufsatzes: Ursprünglich erschienen in der Festschrift ‘Säkularisation und Utiopie’ für Ernst Forsthoff, ‘den Ebrachern zugeeignet’. Was der Ebracher Kreis war und was er mit Schmitt zu tun hatte, s. z.B. ‘Gespräche in der Sicherheit des Schweigens’ v. van Laak, S. 200ff.
Für mich war dieser Aufsatz immer ein Beispiel für eine liberale Interpretation (“Es führt kein Weg über die Schwelle von 1789 zurück, ohne den Staat als die Ordnung der Freiheit zu zerstören”: Böckenförde im Aufsatz) von Schmitt, ein Beispiel für viele solcher Interpretationen insbesondere im Ritter Kreis. (s. hierzu: Jens Hacke, ‘Philosophie der Bürgerlichkeit & auch der Briefwechsel Schmitt — Ritter in: Schmittiana Neue Folge Bd. II, S. 201ff.)
Dies sind ein paar Stichpunkte, die wie gesagt, auf meiner ganz persönlichen Literaturerfahrung beruhen und vielleicht auch ein paar Anregungen auslösen können so wie Ihr Text dies bei mir getan hat.
Viele Grüße,
Ihr Fehl‑x.
Vielen Dank für diese gehaltvollen Anmerkungen. Mir war beim Schreiben durchaus der schmittianische Einfluß auf Böckenförde bewusst, allerdings ist mir bei der Arbeit an meinem Text bewusst geworden, dass ich diese für meine Argumentation ignorieren kann. Lediglich in Bezug auf den Agon hätte man fragen können, was diesen zusammenhält, wann das Agonale zum Bürgerkrieg oder zur Sezession zerfällt. Wobei ich tatsächlich gerade dabei bin, mich mit Schmitt zu beschäftigen, auch, weil ich den Eindruck habe, daß er ähnlich wie Mohler von Rechten zumeist sehr oberflächlich und politisch-instrumentalisierend gelesen wird.
Ja, wohl wahr. Die Wenigsten lesen nach der ‘Politischen Theologie’ den Peterson Text ‘Monotheismus als politisches Problem’ oder Blumenberg, um tiefer zu bohren.
Die Arbeit am Text ist dann doch sehr mühselig.
Sola scriptura.
Für EINEN Rechten gilt das übrigens nicht: Günter Maschke hat sich da reingelesen wie kaum ein Zweiter. Jede Zeile vom ihm lesenswert.