5.
Doch muss nun abschließend der bislang recht unbehellig gebliebene Text Böckenfördes ebenfalls einer Kritik unterzogen werden. Die Differenzierung zwischen Universalismus und Nominalismus erlaubt es Armin Mohler, sich von den totalitären Einschlägen rechter Liberalismuskritik zu lösen, ohne ihren Kern aufzugeben. Ist ähnliches vielleicht mit dem Liberalismus selbst auch möglich? In der Tat wird, sofern man eine nominalistische Kritik auf Böckenfördes Text anwendet, eine Bruchlinie sichtbar zwischen einer universalistischen und einer nominalistischen Argumentation, die dem Autor selbst gar nicht bewusst gewesen sein dürfte. Diese Bruchlinie bildet die französische Revolution. Der erste Teil von Böckenfördes Text ist gewissermaßen nominalistisch, er schildert Investiturstreit und Säkularisation als Resultat der schieren, unausweichlichen Realität gesellschaftlicher Konflikte, die nicht anders beigelegt werden können. Ihr Motor ist der Zwang des Realen, während, wie auch Böckenförde selbst bemerkt (“Es mag dahingestellt bleiben, wieweit diese Entwicklung in der Intention der damals Beteiligten lag, …”), diese Beschlüsse zum Zeitpunkt der Proklamation in ihrer staatstheoretischen Tragweite noch gar nicht reflektiert werden.
Doch parallel dazu setzt mit Thomas Hobbes (1588–1679) eine völlig neue Theoriebildung ein. Er geht nicht länger von Gott, der christlichen Offenbarung und der Erwartung auf das Jüngste Gericht aus, sondern vom Individuum und dessen irdischen Eigenschaften und Bedürfnissen, die er verstandesmäßig zu ermitteln versucht. Dieses durch Denker wie Locke, Voltaire und Rousseau in den darauffolgenden Generationen verfeinerte Denken gelangt schließlich durch die französische Revolution zur Herrschaft. “Die französische Revolution brachte den politischen Staat, wie er in den konfessionellen Bürgerkriegen entstanden und von Hobbes vorgedacht worden war, zur Vollendung. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, das »erste Grundgesetz der neuen Gesellschaft«, wie Lorenz von Stein sagt, spricht vom Staat als »corps social«. Der Staat ist politische Herrschaftsorganisation zur Sicherung der natürlichen und vorstaatlichen Rechte und Freiheiten des einzelnen.”
Im Gegensatz zu den vorherigen Ereignissen, bei denen eine bestehendes Theoriesystem in Richtung Wirklichkeit korrigiert wurde, findet im Zuge der französischen Revolution also die vollständige System-Ersetzung durch ein neues, zuvor “vorgedachtes” statt. Beibehalten wird indes das Grundproblem: der Universalismus. Statt des 3‑Uhr-Morgens-Denken des weltfernen Mönchs in seiner Gebetsklause, der eine kosmische Harmonie von Kirche, Staat und Volk entwirft, herrscht nun gewissermaßen das 3‑Uhr-Morgens-Denken des humanistischen Gelehrten in seinem Studierzimmer.
Der Universalismus reicht sich so über die französische Revolution hinweg die Hände: sowohl der Bindungs-Universalismus des mittelalterlichen Gottesstaates als auch der Individuums-Universalismus der nun anbrechenden Moderne sind lediglich zwei entgegengesetzte Varianten eines gleichermaßen Falschen. Aus der Perspektive nominalistischer Kritik stellt die abendländische Ideengeschichte sich weniger als linearer Ablauf dar, die sich entweder als “Fortschritt” oder “Dekadenz” vollzieht, sie muss eher als Schale gedacht werden, worin einander entgegengesetzte Abstraktionen fortwährend blinde Kreisbewegungen erzeugen, um der Falschheit des Aktuellen durch die Falschheit seines Gegenteils zu entkommen in einem so lächerlichen wie brutal-existenziellen Stürmen gegen die verhängnisvollen Schimären des eigenen Menschenkopfes.
Mit der französischen Revolution endet Böckenfördes Interesse an der Wirklichkeit. Es beginnt der universalistische Teil des Textes, eine rein theoretische Argumentation also, die nicht länger real stattfindenden Ereignissen arbeitet, sondern aus dem liberalen Theoriegerüst, der Konsequenz von ins theoretische Extrem getriebenen Definitionen von “Individuum” und “Freiheit”, ein abstraktes Problem entwickelt, das schließlich in der Formulierung seines bekannten “Böckenförde-Diktums” mündet. Wird das Individuum also total indviduell und die Freiheit total frei, so werden am Ende die nationalen Bindungen aufgelöst, ja nicht einmal irgendeine Form von gesellschaftlicher Bindung wird notwendigerweise mehr existieren. (Was dann eine Reihe weiterer theoretischer Probleme erzeugt.) Auf dem Papier klingt das einleuchtend. Doch will der Mensch überhaupt zum total freien Total-Individuum werden? Böckenfördes Fehler ist der klassische Fehler des Universalisten: von der Klarheit seiner eigenen Begriffe, der Stringenz seiner Logik, der Eleganz, womit er ein theoretisches Problem gelöst hat, berauscht, vergisst er ganz die Wirklichkeit — die allerdings nach der französischen Revolution nur sehr bedingt dem liberalen Lehrbuch folgt.
Was Böckenförde ausblendet, wurde hier bereits ausgeführt: mit der Moderne hebt in Wahrheit gleichzeitig der Widerstand gegen sie an. In Deutschland beginnt er mit Goethe und den Romantikern schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts, setzt sich fort mit den neo-religiösen Mittelalter-Opern Richard Wagners, in Großbritannien bespielsweise mit den Prä-Raffaeliten, Ende des 19. Jahrhunderts schließlich mit völkischem Nationalismus, kommunistischen Utopien und Unmengen an esoterischen, theosophischen Strömungen. Dies alles mündet in die große Blüte totalitärer Entwürfe, die die das frühe 20. Jahrhundert weitgehend beherrschen. Doch auch in der Nachkriegszeit wuchern erneut alternative Lebensentwürfe, Aussteiger, Verweigerer, Sozial- und Umweltromantiker, während global betrachtet im arabischen Raum nicht etwa der Liberalismus, sondern der islamische Fundamentalismus Zulauf gewinnt. In der Gegenwart schließlich beobachten wir, wie “liberale Schwellenländer” wie Russland, Polen, die Türkei oder China sich mittlerweile einer weiteren, liberalen Entwicklung zugunsten nationalistischer, autoritärer oder religiöser Strömungen entziehen, während der Westen aufgrund (zumindest von außen) nur schwer übersehbarer Probleme nicht länger als Vorbild, sondern als Negativbeispiel wahrgenommen wird.
Versteht man also die Geschichte der Vormoderne als theorieloses Anwüten des Freiheits-Potentials des wirklichen Menschen gegen das Intellektuellen-Konstrukt eines autoritären Gottesstaates, so setzt die Moderne diese Tendenz nicht etwa fort bis hin zur totalen Atomisierung, wie der liberale Universalismus Böckenfördes das als Opfer der eigenen theoretischen Dynamik einfach annimmt. Vielmehr dreht sich in dem Moment, in dem der Liberalismus zur Herrschaft gekommen ist, das Verhältnis um: nun wütet das Bindungs-Potential des wirklichen Menschen ähnlich theorielos gegen das neue liberale Intellektuellen-Konstrukt an, das ihm unbedingt eine “Freiheit”, einen “Fortschritt” und eine Auffassung von “Vernunft” aufdrängen will, die er von sich aus gar nicht erstrebt.
So ist es vielleicht kein Zufall, daß all diese Gegenbewegungen seit der Romantik sich in einer charakteristischen Unfähigkeit zur Theoriebildung ähneln, die sie zur Zielscheibe intellektuellen Spottes macht. Ihr Antrieb entspringt weniger aus einer Auseinandersetzung mit theoretischen Fragestellungen, sondern wurzelt in dem Teil ihres Ichs, der von der liberalen Auffassung des Menschen nicht abgedeckt wird, in der Wahrheit ihres Selbst (nicht in der Wahrheit ihrer Theorie), das sich instinktiv, wütend, mehr gefühlt als gedacht, gegen eine Falschheit, gegen etwas ihm nicht Gemäßes auflehnt.
Das jüngste Phänomen dieser illustren Reihe wäre somit der Rechtspopulismus. In einem Moment, in dem der liberale Universalismus vermeintlich in die Phase seiner globalen Vollendung tritt, Böckenfördes theoretische Konsequenz, die finale Auflösung aller bestehenden Bindungen zugunsten fluider, frei gewählter Individualität, nun tatsächlich einzutreten scheint, stellt sich heraus, daß immer mehr Menschen gar nicht weiter individualisiert werden wollen. Daß ihnen ihre Heimat gar nicht Hindernis auf dem Weg zur “Freiheit”, sondern vielmehr das Eingebundensein in historisch gewachsene Völker, Staaten und Identitäten unverzichtbarer Teil ihrer Selbstverwirklichung ist, das sie nicht aufgeben wollen. Kein Intellektueller hat den machtvollen Aufschwung des Rechtspopulismus prognostiziert, kein Programm wurde ihm geschrieben, in vielen Fällen scheinen sowohl seine Politiker als auch Anhänger oft selbst kaum imstande, den Antrieb ihres Protestes auszudrücken. Unbeholfen stottern sie Floskeln wie “gesunder Menschenverstand” und wüten so aufrichtig wie ziellos vor sich hin, während eine ganze Armee von Soziologen, Sachbuchautoren und professionellen Erklärkoryphäen sie umgeiert, verlacht, analysiert und die Allgemeinheit vor ihnen warnt.
6.
Damit lässt sich auch in Bezug auf den Liberalismus das Wahre vom Falschen trennen. Wahr bleibt Böckenfördes Schilderung der Entwicklung des modernen Staates dort, wo er sie von der realen Geschichte und deren Konflikten ableitet, hier ist die liberale Schilderung der rechten Moeller van den Brucks, die in einen Großteil der abendländischen Gesichichte nur als fatalen Irrtum ansehen kann, sicherlich überlegen. Problematisch wird der Liberalismus, wo er — im Sinne Hegels, von dem Böckenförde stark geprägt ist — aus einer Reihe zweifellos markanter Ereignisse die Verallgemeinerung einer die gesamte Menschheit umfassende Geschichtsphilosophie folgern zu können glaubt, um daraus eine Neo-Theologie zu entwickeln, worin Schicksal und Erlösung des Menschen ganz aus der Totalisierung abstrakter Begriffe geschöpft werden. Damit auch wird Böckenfördes zentrales Argument in sein Gegenteil verkehrt: ein universalistischer Liberalismus vermeidet den Bürgerkrieg nicht, bereitet nicht den Weg zum ewigen Weltfrieden, sondern erzeugt aus seiner Falschheit heraus stetig neue Konflikte, neue Oppositionen.
Wäre nun ein nominalistischer Liberalismus denkbar? Dort wären Geschichte und Gesellschaft nicht als geschichtsphilosophisches Programm, sondern als offene Struktur aufzufassen, worin nicht eine abstrahiert-totale Freiheit verwirklicht werden muss, sondern tatsächlich angestrebte Freiheiten verwirklicht werden können; worin das Individuum zwar im Mittelpunkt steht, dennoch aber nicht gezwungen wird, bis in alle Ewigkeit nach immer noch mehr Individuation zu streben. Weder Mohler noch Böckenförde denken an so etwas, doch tatsächlich stößt man gerade im frühen 20. Jahrhundert auf eine Reihe liberaler Reformer, die angesichts der damaligen Übermacht anti-liberaler Strömungen die eigene Theorie einer kritischen Sichtung unterziehen.
Ein wichtiger Name hier ist Karl Popper. Sein “Kritischer Rationalismus” stellt, ausgehend von den empirischen Wissenschaften, die induktive Methodik infrage, das Verfahren also, von beobachteten Einzelfällen zu verallgemeinernden Aussagen zu gelangen. In “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” von 1945 kritisiert er aus liberaler Sicht Autoren wie Platon, Marx und Hegel, die teleologische, universalistische Systeme mit Allgemeingeltungsanspruch errichten und damit seines Erachtens dem Totalitarismus den Weg bereiten. Dadurch gelangt er zu einem pluralistischen Skeptizismus, der die optimistische Suche nach Erkenntnis mit kritischer Selbsthinterfragung kombiniert und sowohl in Problemstellung als auch Ergebnis eine bemerkenswerte Nähe zum Nominalismus Mohlers aufweist.
Zudem fällt auf, daß viele Liberale des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zum Pathos der französischen Revolution weniger moralisch und utopisch als ökonomistisch argumentieren, so beispielsweise Ludwig von Mises im 1927 erschienenen Buch “Liberalismus”: “Der Liberalismus ist eine Lehre, die ganz und gar auf das Verhalten der Menschen in dieser Welt gerichtet ist. Er hat in letzter Linie nichts anderes im Auge als die Förderung der äußeren, der materiellen Wohlfahrt der Menschen und kümmert sich unmittelbar nicht um ihre inneren, um ihre seelischen und metaphysischen Bedürfnisse. […] Diese rein äußerliche und materialistische Einstellung auf Irdisches und Vergängliches ist dem Liberalismus vielfach zum Vorwurf gemacht worden. Das Leben des Menschen, meint man, gehe nicht in Essen und Trinken auf. […] Auch der größte, irdische Reichtum könne dem Menschen kein Glück geben, lasse sein Inneres, seine Seele, unbefriedigt und leer. Es sei der schwerste Fehler des Liberalismus gewesen, daß er dem tieferen und edlerem Streben des Menschen nichts zu bieten gewußt habe. Doch die Kritiker, die so sprechen, zeigen damit nur, daß sie von diesem Höheren und Edlen eine sehr unvollkommene und sehr materialistische Vorstellung haben. Mit den Mitteln, die der menschlichen Politik zur Verfügung stehen, kann man sehr wohl die Menschen reich oder arm machen, aber man kann nie dazu gelangen, sie glücklich zu machen und ihr innerstes und tiefstes Sehnen zu befriedigen.”
Hier begegnen wir also einem Liberalismus, der sich nicht länger als Metaphysik oder Geschichtsphilosophie versteht, sondern als Mittel praktischer Politik, um (mittels Kapitalismus) Wohlstand zu erzeugen, während die Frage nach Lebensführung, Moral, dem ganzen Komplex möglicher Bindungen, Identitätsstiftungen, höherer philosophischer Wahrheiten davon ganz bewußt ausgeklammert bleibt.
Auch die Abstraktion von “Gleichheit”, von Mohler explizit als liberalistisch-universalistische Unsinnigkeit hervorgehoben, behandelt Mises bereits 1927 auf überraschend differenzierte Weise: “Nirgends ist der Unterschied, der in der Argumentation zwischen dem älteren Liberalismus und dem neuen Liberalismus besteht, klarer und leichter aufzuweisen als beim Problem der Gleichheit. Die von den Ideen des Naturrechtes und der Aufklärung geleiteten Liberalen des 18. Jahrhunderts forderten Gleichheit der politischen und bürgerlichen Rechte für jedermann, weil sie davon ausgingen, daß die Menschen gleich seien. Gott habe alle Menschen gleich geschaffen, sie mit gleichen Grundkräften und und Anlagen ausgestattet, ihnen den Odem seines Geistes eingeblasen. […] Nun steht aber nichts auf so schwachen Füßen wie die Behauptung von der angeblichen Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt. Die Menschen sind durchaus ungleich. Selbst zwischen Geschwistern bestehen die größten Verschiedenheiten der körperlichen und geistigen Eigenschaften. Die Natur wiederholt sich nicht in ihren Schöpfungen, sie erzeugt keine Dutzendware, sie hat keine Typenfabrikation. Der Mensch, der aus ihrer Werkstatt hervorgeht, trägt den Stempel des Individuellen, des Einzigartigen, des Nichtwiederkehrenden an sich. […] Die Menschen wirklich gleich zu machen, reicht alle menschliche Kraft nicht aus. Die Menschen sind und bleiben ungleich. Nüchterne Zweckmäßigkeitserwägungen, wie die es sind, die wir oben aufgeführt haben, sprechen dafür, sie vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Mehr hat der Liberalismus nicht gewollt.”
Er reflektiert hier sehr klar, daß die Idee der “Gleichheit”, wie sie für Liberalismus und Moderne bis heute so zentral geblieben ist, eigentlich nur eine Ableitung christlicher Theologie ist. Sie entspringt als Ethik dem Mythos der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, doch ermangelt einer rationalen Grundlage, wie sie zur Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene und damit auch politischer Diskurse notwendig wäre.
Gerade im sog. “Neoliberalismus”, wie er sich im frühen 20. Jahrhundert heranbildet, stößt man auf eine äußerst wache, kritische Selbstreflektion, auch wenn der Zugang dazu heute von Negativ-Klischees verstellt wird. Wilhelm Röpke, der Urvater der “Sozialen Marktwirtschaft” , dem wirtschaftspolitischem Kernkonzept der neugegründeten BRD, entwickelt schließlich einen eigenen “Dritten Weg”, eine Kreuzung zwischen Liberalismus und Konservativismus, zwischen rationalistisch-kapitalistischem Individualismus und einer werteorientierten, der atomisierten Massengesellschaft kritisch gegenüberstehenden Kulturkritik. “Die gewaltigen Prozesse der Urbanisierung müssten rückgängig gemacht werden, indem Bedingungen geschaffen werden, unter denen es für den Einzelnen möglich und auch attraktiv erscheint, in überschaubare Lebensumstände in kleinerem Maßstab zurückzukehren, um dort ein vermeintlich glücklicheres Leben zu führen. Hier könnte ‘der Mensch im kleinen und daher mit menschlicher Wärme erfüllten Lebenskreise (Familie, Gemeinde, Kirchengemeinschaften, Nachbarschaft, Klein- und Mittelbetrieb, wissenschaftliche, literarische, künstlerische Zirkel usw.) das verlorengegangene Gleichgewicht zwischen Individualität und Kollektivität zurückgewinnen.’ ” (Thomas Biebricher, Die politische Theorie des Neoliberalismus)
Hier also wäre das Moment des Verwurzelt-Seins, das Mohler dem Liberalismus abspricht, ebenfalls bereits theoretisch als Problem reflektiert. Wobei Röpke die regional-familiäre Verwurzelung als bewußtes Gegenmodell zum völkischen Nationalismus anführt, der ihm ironischerweise bereits eine modernistische “Abstraktion”, eine uneigentliche Bindung also ist, die ideengeschichtlich erst als Substitution erscheint, nachdem die Massengesellschaft die wahren, traditionellen Bindungen zersetzt hatte.
So unterscheiden sich selbstredend weiterhin liberale Ansätze von rechten. Dennoch stößt man bei nur oberflächlicher Beschäftigung auf überraschende Parallelen und Kompaktibilitäten, unbewusst nominalistische Versatzstücke, die Mohlers allzu generische, wohl auch schlicht von Unwissen geprägte Kritik ins Leere laufen lassen. Vielmehr den Verdacht aufdrängen, daß auch Mohler selbst eine ihm verborgen gebliebene Variante des 3‑Uhr-Morgens-Denkens pflegt: statt sich mit dem realen Liberalismus und seinen voneinander durchaus verschiedenen Strömungen auseinanderzusetzen, erdenkt er sich nachts fern der Welt einen eigenen, der ihm dann als ideales Feindbild dienen darf.
Und so öffnet sich in vielfältigen Überschneidungen plötzlich ein offenes Feld des Denkens, worin unter der Oberfläche ideologischer Phänomenologien und Konflikte möglicherweise die Grundfragen des 20. Jahrhunderts sichtbar werden. Fragen, die bis heute unsere eigenen Fragen sind. Um mit den Worten der unglückseligen Zwerge von Moria in Tolkiens “Herrn der Ringe” zu sprechen: Wir können nicht hinaus. Wir können nicht einfach in das Mittelalter zurückkehren, wie Moeller van den Bruck und andere antimoderne Revolutionäre das einmal erträumt haben. Wir stehen innerhalb eines bestimmten Schicksals, das der Verlauf unserer Kultur uns als Problem aus vielleicht nie ganz verständlichen oder fairen Gründen als Problem zugewiesen hat. Wir stehen innerhalb von Fragestellungen, die uns deshalb bedrohen, weil sie auf etwas Unbewältigtes hinweisen, womit wir uns im unentwegten Kreisen unseres Denkens selbst zum Problem geworden sind. Im Vollzug unserer eigenen Ideengeschichte haben wir uns angewöhnt, die Klasse der universalistischen Antworten mit einer Assoziation von “Wahrheit” zu versehen, die gleichbedeutend mit “Wirklichkeit” zu sein scheint, doch gebiert der Universalismus aus seiner Falschheit heraus immer auch sein Gegenteil und mündet deshalb unausweichlich entweder in totalitären Terror oder einer egalitären, nihilistischen Form von Pluralität, die Indifferenz zum totalen Wert erhebt.
Doch ermöglicht diese Einsicht etwas ganz Elementares: wir können die Frage stellen, überhaupt erst als Frage denken, ob der abendländische Mensch, der theorie- und abstraktionsaffinste Mensch, den unsere Gattung bisher hervorgebracht hat, schließlich an seiner eigenen Geistigkeit zugrundegehen muss. Oder macht die eigenwillig schiefe Weise des Nominalismus, die Welt zu betrachten, noch einmal einen neuen Typus des Denkens möglich? Vielleicht sogar den neuen Typus einer politischen Theorie, worin vermeintliche Antagonisten wie Moeller van den Bruck, Karl Popper und Michel Foucault, Armin Mohler und Hannah Arendt unversehens ein Gemeinsames entwickeln, kein “Gleiches” zwar im alten universalistischen Sinn, aber doch ein Geteiltes. Eine Theorie, die am Ende weder als “rechte” Theorie antreten noch den oberflächlichen Beifall anderer etablierter Ideologie-Zirkel erhalten wird, aber jenseits aller zu leistender Synthesen, Brüche und Übersteigungen möglicherweise dann doch eine alte, rechte Ur-Sehnsucht erfüllt: die Überwindung der Moderne.
*
“Also begann Zarathustras Untergang.”
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Sehr geehrter Nigromontanus,
Danke für den anregenden Text und die Gelegenheit, diesen lesen zu können.
Ich schreibe diesen Kommentar , um auf eine weitere Facette des Böckenförde Textes hinzuweisen, die meiner persönlichen Literaturerfahrung geschuldet sein mag.
Der Text von Böckenförde (‘Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation’) hatte für mich vor allem immer einen Klang, der war schmittianisch, und das hat sich auch noch mal durch die Lektüre des Briefwechsels Böckenförde / Schmitt (den man für Umme runterladen kann: https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/welch-guetiges-schicksal-id-100820/) bestätigt.
Man könnte dies jetzt am Text — was die eigentlich valide Methode wäre — einzeln nachweisen, dafür ist an dieser Stelle aber wenig Raum, deshalb möchte ich es bei 2 indizienhaften Hinweisen belassen:
— Ein Blick in die Fußnoten von Böckenfördes Text offenbaren eine ideengeschichtlichen Hintergrund, der schmittianischer kaum sein könnte, als Vergleich könnte man z.B. den ‘Nomos der Erde’ heranziehen. Die Verweise in den FN beziehen sich u.a. auf: Brunner, Barion, Schnur, die MA Auseinandersetzung von potestas directa vs indirecta und an mehreren Stellen Schmitt selbst.
— Der Erscheinungsort des Aufsatzes: Ursprünglich erschienen in der Festschrift ‘Säkularisation und Utiopie’ für Ernst Forsthoff, ‘den Ebrachern zugeeignet’. Was der Ebracher Kreis war und was er mit Schmitt zu tun hatte, s. z.B. ‘Gespräche in der Sicherheit des Schweigens’ v. van Laak, S. 200ff.
Für mich war dieser Aufsatz immer ein Beispiel für eine liberale Interpretation (“Es führt kein Weg über die Schwelle von 1789 zurück, ohne den Staat als die Ordnung der Freiheit zu zerstören”: Böckenförde im Aufsatz) von Schmitt, ein Beispiel für viele solcher Interpretationen insbesondere im Ritter Kreis. (s. hierzu: Jens Hacke, ‘Philosophie der Bürgerlichkeit & auch der Briefwechsel Schmitt — Ritter in: Schmittiana Neue Folge Bd. II, S. 201ff.)
Dies sind ein paar Stichpunkte, die wie gesagt, auf meiner ganz persönlichen Literaturerfahrung beruhen und vielleicht auch ein paar Anregungen auslösen können so wie Ihr Text dies bei mir getan hat.
Viele Grüße,
Ihr Fehl‑x.
Vielen Dank für diese gehaltvollen Anmerkungen. Mir war beim Schreiben durchaus der schmittianische Einfluß auf Böckenförde bewusst, allerdings ist mir bei der Arbeit an meinem Text bewusst geworden, dass ich diese für meine Argumentation ignorieren kann. Lediglich in Bezug auf den Agon hätte man fragen können, was diesen zusammenhält, wann das Agonale zum Bürgerkrieg oder zur Sezession zerfällt. Wobei ich tatsächlich gerade dabei bin, mich mit Schmitt zu beschäftigen, auch, weil ich den Eindruck habe, daß er ähnlich wie Mohler von Rechten zumeist sehr oberflächlich und politisch-instrumentalisierend gelesen wird.
Ja, wohl wahr. Die Wenigsten lesen nach der ‘Politischen Theologie’ den Peterson Text ‘Monotheismus als politisches Problem’ oder Blumenberg, um tiefer zu bohren.
Die Arbeit am Text ist dann doch sehr mühselig.
Sola scriptura.
Für EINEN Rechten gilt das übrigens nicht: Günter Maschke hat sich da reingelesen wie kaum ein Zweiter. Jede Zeile vom ihm lesenswert.