3.
“Spätere Beobachter jener Zeit, die selbst inmitten der satten Selbstgewissheit demokratischer Prosperität leben, sind vielfach auf ein merkwürdiges, ihnen rätselhaft scheinendes Phänomen gestoßen. Kaum ein Schriftsteller, Künstler, Denker von Rang hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem angeblich so selbstverständlichen Status quo von parlamentarischer Demokratie, Kapitalismus und bürgerlicher Kultur sympathisiert.” (Rolf Peter Sieferle, Epochenwechsel)
Moeller van den Brucks Verhängnis natürlich ist ein historisches, wie auch sein Leiden an der Moderne. Denn im Begriff der “Bindung” west eine spannungsvolle Doppelbedeutung, wovon der Liberale zumeist nur die Hälfte wahrnimmt: die Fessel. Jede Bindung fixiert den Menschen, schränkt ihn ein, macht ihn unfrei in seinen Entscheidungen und Handlungen. Wie in Abenteuerfilmen, in denen zwei aneinandergefesselte Sträflinge sich an einer gemeinsamen Flucht versuchen: Gebundene sind jederzeit gezwungen, die Bewegungen, die Ziele und Wünsche des anderen mitzuvollziehen, sie sind voneinander abhängig und fortwährend zu Kompromissen gezwungen. Dabei aber, und möglicherweise ist es das, woraus ein Text wie Moeller van den Brucks „Das Dritte Reich“ trotz aller historischer Ungenauigkeit seine innere Wahrheit, seine politische Wirksamkeit zieht, ist die Bindung immer auch ein Zweites: die Verbundenheit, also das authentische, emotional aufgeladene Verhältnis zur Welt da draußen, zu Menschen und Ideen, zu Heimaten und Ursprüngen, zu Vorbildern und Utopien. Einige dieser Bindungen sind Schicksal, sie sind nicht gewählt, sondern gegeben, andere das Resultat bewusster Entscheidung, manche werden geschaffen im Zuge kultureller Prozesse. Doch was diese Verbundenheiten im Kern ausmacht, ist, daß sie dem Dasein des Betreffenden wesentlich Sinn und Identität spenden, sie binden ihn ein in einen Weltzusammenhang, geben seinem Denken und Handeln Richtung, Form, Ansporn. Bereits wer seine Eltern liebt und deshalb bestrebt ist, ihren Vorstellungen gerecht zu werden, gibt einen Teil seiner Freiheit auf, gewinnt dabei aber auch Gemeinschaft, Stabilität, Herkunft, emotionale Wärme und Rückhalt. Finden wir Freunde, andere Menschen und Gruppen, richten wir uns zugunsten der Gemeinschaft mit ihnen nicht mehr nach uns alleine aus. Beziehung und Ehe binden umso stärker, je tiefer die Liebe ist, manch einer liebt bis zur Selbstaufgabe und durchlebt dabei doch die erfüllteste, intensivste Phase seines Lebens, so sehr dabei jede individuelle Freiheit verloren geht. Und für die eigenen Kinder schließlich ist die Bindung so tief, daß Eltern manchmal das eigene Glück, sogar die eigene Gesundheit geben, um Schaden von ihnen abzuwenden.
Auch in unserer vermeintlich so individualistisch geprägten Gegenwart werden uns diejenigen zu Helden, Vorbildern und Inspirationsquellen, die ihr eigenes Leben in den Dienst einer höheren Sache stellen. Wir finden sie zwar heute nur noch verwässert, kommerzialisiert in Unterhaltungsliteratur oder Hollywood-Blockbustern vor — doch sind diese Motive nur deshalb so erfolgreich, weil die dort gezeigte Übersteigung des Egos einen tiefen, emotionalen Widerhall in uns auslöst.
Im Kontrast dazu kann ein Mensch, der nur um seiner selbst und seines Vorteils Willen lebt, kaum anders denn als halb bemitleidenswerte, halb abstoßende Figur gedacht werden. Wirklich frei wäre nur derjenige, der nichts liebt, dem nichts und niemand etwas bedeutet, der völlig gleichgültig gegenüber allem Bestehenden dieser Welt wäre. Wir können ihn uns kaum anders denn als bösartigen, manipulativen Egoisten vorstellen, oder als suizidale, vereinsamte Existenz.
Betrachten wir also Liberalisierung als Prozess, der zum einen den Grad an Individualität und Freiheit in einer Gesellschaft sukzessive erhöht und gleichzeitig die Steigerung in die letzte, theoretische Konseqenz, bis hin zu absoluter Freiheit, absoluter Atomisierung, absoluter Individuation als vermeintliche Utopie verspricht, so entwickelt das Programm des Liberalismus einen untergründigen Horror. Der Nihilismus zieht herauf, die Bindungslosigkeit als Sinnlosigkeit, nicht lediglich als philosophisches Problem, sondern als Gestimmtheit einer ganzen Epoche. Kein Zufall dürfte es sein, daß die beiden Konkurrenten des Liberalismus beiderseits “kollektivistisch” denken, dem bloßen “Ich” der liberal-kapitalistischen Welt gegenüber das harmonische Eingebundensein in einen höheren, überindividuellen Kontext versprechen.[1]
Womöglich ist nicht zuletzt deshalb der Sozialismus trotz seines geschichtlichen Scheiterns bei vielen Heutigen, denen es ironischerweise dank Kapitalismus auf ökonomischer Ebene meist relativ gut geht, als Utopie und Sehnsuchtsort so lebendig geblieben. Weniger die proklamierte „Wissenschaftlichkeit“ der marxististisch-leninistischen Weltanschauung oder der von ihm adaptierte Katalog liberaler Werte machen ihn anziehend, sondern das Verprechen, eine als existenziell gefühlte Entfremdung, ein tiefinnerliches Leiden des modernen Menschen zu heilen, ihn aus der Hölle des Nichts, aus einer Idee von Selbstverwirklichung, die seinem Selbst überhaupt nicht entspricht, zu erlösen.
So nimmt es rückblickend kaum Wunder, daß Arthur Moeller van den Brucks Interpretation der Zeit auf fruchtbaren Boden fällt, sich mit einer Unzahl anderer, innerlich verwandter Ideen vermengt und zur revolutionären, politischen Kraft heranreift. Rückeroberung der sinnhaft-schöpferisch gebundenen Welt, verwirklicht mittels einer nationalistischen Revolution, die Parlamentarismus und Liberalismus als Ausdruck modernistischer Selbstentfremdung hinwegfegen soll. Mythos, Heldentum, Glaube, Deutschland, die elementaren Bindungen des Schicksals, tief eingewurzelt in der jahrtausendealten Seele des eigenen Volkes, verwachsen mit der Natur, den Bergen, Wäldern und Flüssen der Heimat. Man müsste ein sehr stumpfer Mensch sein, um von der berückenden Schönheit solcher Entwürfe nicht ergriffen zu werden. Doch natürlich stößt die Verwirklichung auf ein mittlerweile bekanntes Verhängnis: im Versuch, in bereits atomisierten Massengesellschaften Gebundenheit zu rekonstruieren, die, wo sie nicht von vornherein lediglich Produkt eskapistischer, romantischer Idealisierung war, auch als gelebte Traditions- und Moralbestände längst abgebaut ist, entsteht statt des anvisierten Glückes etwas, das wir heute als “Totalitarismus” fürchten.
Doch was soll in unserem Zusammenhang Totalitarismus bedeuten? Noch einmal: Moeller van den Bruck schildert mitnichten die geschichtliche Wirklichkeit. “Die Freiheit jedoch, von der Niemand aufklärerisch sprach, weil Alle sie schöpferisch besaßen, war bei den Menschen solcher Leistungen wunderbar aufgehoben: als Wille in Tätigkeit.” — Was er ausdrückt, ist seine höchstpersönliche Sehnsucht, geboren aus seinem eigenen Leiden an der Zeit. Nicht die Schilderung des historischen Mittelalters ist sein Ziel, sondern der Entwurf eines verlorenen Paradieses am Anfang der Zeit, das die Heilung der eigenen, inneren Wunden verspricht. Wo der linke Totalitarismus das Paradies an das Ende eines geschichtlichen Fortschrittsprozesses legt, so legt der rechte Totalitarismus ihn in die Vergangenheit, an einen verlorenen, zu erneuernden Ursprung. Vertreibung aus dem Paradies oder Himmelreich auf Erden am Ende der Zeit — eschatologische Urbilder, die noch tiefer hinabreichen als das Christentum, aus dem sie sich implizit speisen. Totalitarismus will den Menschen noch einmal in seinem Innersten ergreifen, mitreissen, verwandeln, erlösen. Vielleicht sollten wir Moeller van den Bruck zumindest die Ehre erweisen, ihn als Romantiker in einer unromantischen Zeit zu verstehen, als eine verheerte, wütende Seele in einem verheerten, wütenden Land, die dem gigantisch aufklaffenden Maul des Nichts in ihm selbst noch einmal alles entgegenschleudert um schließlich doch davon aufgefressen zu werden. Von Alkoholmissbrauch gezeichnet wird er bereits zwei Jahre nach Abfassung von “Das Dritte Reich” einen Nervenzusammenbruch erleiden und Selbstmord begehen; das gewissermaßen selbe Schicksal wird schließlich auch Deutschland zuteil.
4.
Auch der Versuch, den Horror der Moderne, des Nichts des bloßen Individuums zu überwinden, scheitert also an der Wirklichkeit, und mündet bloß in einem neuen Horror, dem des Totalitarismus. Und das ist nun der Punkt, an dem Mohler über Moeller van den Bruck hinausgeht in dem Wunsch, aus der Geschichte zu lernen. “Gegen die Liberalen” versucht, was meines Erachtens bislang gerade von zeitgenössischen Rechten kaum reflektiert wurde: Liberalismuskritik jenseits des bloßen Rückfalls in altrechts-totalitäre Lösungsmuster zu denken.
Mohler sagt: daß auch der Totalitarismus als Anti-Individualismus kein allseits beglückendes Erfolgsmodell wird, hat seinen Grund darin, daß er dem einen abstrakten Extrem lediglich ein gegenteiliges abstraktes Extrem entgegenstellt und damit nur eine neue Variante des “3‑Uhr-Morgens-Denkens” gebiert. Wo der Liberalismus die Idee des Individuums total setzt und daraufhin so sehr übersteigert, daß sie der Wirklichkeit des Menschseins nicht länger entspricht, so setzt der Totalitarismus die Idee der Bindung (an Volk, Nation, Klasse, Arbeit) total, wodurch sein ursprünglich so idealistisches Programm angesichts des ihm nicht entsprechenden Menschen zu Überwachung, Propaganda, Straflager und Terror ausartet.
Moeller van den Bruck als Vertreter des rechten Totalitarismus hängt damit noch in einer Dichotomie zwischen “Individualismus” und “Bindung” fest, über die er nicht hinauskommt, während Mohler (mit Moeller van den Bruck, also im Sinne dessen eigener Argumentation) über Moeller van den Bruck hinauszugehen versucht, um die ebenfalls gescheiterte Gegensatz-Utopie des Nationalsozialismus als Problem zu integrieren. Diese Überwindung unternimmt er mittels einer Differenzierung zwischen Universalismus und Nominalismus. Diese Position, die Mohler aus dem Universalienstreit des Mittelalters entwickelt und damit eine grundsätzliche Kritik abendländischer Ideengeschichte vornimmt, hoffe ich in Kürze in einem gesonderten Text noch ausführlicher darzustellen. Im Kontext unserer Liberalismuskritik genügt es, den Universalismus als “abstraktes”, den Nominalismus dagegen als “konkretes” Denken aufzufassen. Der Universalist denkt von der Theorie, dem Ideal, von der Verallgemeinerung her, während er dem konkreten Einzelding nur geringen Wert beimisst. Für den Nominalisten dagegen ist allein das konkrete Einzelding wirklich, während er die mittels Sprache gebildeten Allgemeinbegriffe (“DER Mensch” oder “DER Fluß” oder “DAS Gute”) lediglich als mangelhafte Hilfsmittel auffasst.
“Der Mensch ist unvollkommen, unfertig, Arnold Gehlen definierte ihn als Mängelwesen, und wenn der Christ ihn “sündig” nennt, so meint er dasselbe, aber mit anderer Wertung. Der Mensch bringt nur Stückwerk fertig, nie das Ganze. Er hat gute Seiten wie schlechte (“böse” sagt der Christ). Man kann das laufen lassen, sich aufs Durchwursteln innerhalb hautnaher Bindungen beschränken und auf seinen persönlichen Nutzen achten, nichts sonst. Das ist der Weg der Mafia. Man kann die Fehlerhaftigkeit des Menschen auf andere Weise, die totalitäre, zu unterlaufen suchen: durch stures Festhalten an einem Prinzip, an einem Idealbild. Das führt, auch beim besten Willen, früher oder später zur Installierung eines Gulag für all diejenigen, die das Prinzip nicht anerkennen, sicht nicht nicht dem Idealbild richten. Die Wohlfahrtsaussschüsse sind dann nicht fern, die Straflager, die Spritzen der Psychiater, die Guillotine.” (Gegen die Liberalen)
So stellt Mohler am Ende von „Gegen die Liberalen“ zunächst zwei Negativmöglichkeiten vor: Gulag und Mafia. Der Gulag steht für den Universalismus – ein intellektuell perfekt ausgearbeitetes System wird umgesetzt, doch aufgrund der Nicht-Übereinstimmung von abstrakter Vernunft und Welt taucht dabei immer ein unerwarteter, widerständiger Rest auf, der zurechtgezwungen, isoliert oder ausgemerzt werden muss. Die Mafia dagegen ist der totale Nominalismus als Gesellschaftsentwurf: völliges Fehlen von Idealen und übergeordneten Prinzipien, einzig der konkrete Nutzen konkreter Personen errichtet hier Ordnungsstrukturen und seine spezifische Ausprägung gesellschaftlicher Bindung. Die Mafia zelebriert den sündigen, unfertigen, nicht-idealen Menschen, der Gulag bringt ihn um.
Doch wie könnten wir auf eine gute Weise mit unserer menschlichen Konstitution umgehen, die uns weder zu skrupellosen Kriminellen noch zu utopistischen Massenmördern macht? Wie können wir den tiefverwurzelten Wunsch, unsere Welt auf eine möglichst gute Weise einzurichten, übergeordnete Bindungen zu schaffen und damit dem Leben einen erstrebenswerten Sinn zu verleihen, mit dem Umstand unseres eigenen Ungenügens vereinbaren? Letztlich ist es so: Da die Welt nie auf ein Prinzip zu bringen ist, da keine Gleichung jemals aufgehen wird, existieren unweigerlich immer mehrere Prinzipien, verschiedene Gleichungen mit verschiedenen Antworten und Lösungsansatze nebeneinander. Die gesellschaftliche und damit auch politische Konsequenz des Nominalismus ist Pluralität, nebeneinander, miteinander und gegeneinander existierende Verschiedenheit. Doch natürlich soll daraus bei Mohler kein egalitär-nihilistischer Pluralismus im Sinne des verfemten Liberalismus entstehen. Er sucht nach anderen Lösungen, um das Individuelle, Vielgestaltige mit dem Überindividuellen, Gemeinsamen zu versöhnen und stellt drei Möglichkeiten vor.
I: Der Ritus
„Seit es den Menschen gibt, verfügte er immer über ein Mittel, sich mit der eigenen Unzulänglichkeit und Gebrechlichkeit zu versöhnen; in Ritualen verschiedener Ausprägung. Bei den Ritualen, die sich tief einprägen, stoßen wir allerdings stets auf das gleiche Grundmuster: in sich gleichmäßig wiederholenden Gebärden, Worten, Klängen, Bildwerken wird das rätselhafte Ineinander von Vernichtung und Geburt, mit dem wir konfrontiert sind und an dem wir nichts zu ändern vermögen, in überhöhtem, den Einzelnen überschreitenden und zugleich einbeziehenden Stil dargestellt – von der Geburtsfeier über Initiationen aller Art bis zum Begräbnis. Wenn das Dritte Reich, bei all seinen Schatten, in so vielen Menschen einen positiven Nachhall hinterlassen hat, so liegt das daran, dass es diese tiefe Bedürfnis des Menschen zu befriedigen suchte.“
Im Ritual, in der gemeinsamen Zelebration des Symbolischen ist es dem Menschen möglich, sich selbst zu überschreiten, seine eigene qualvolle Unzulänglichkeit nicht durch intellektualistische Systembildung, sondern durch Einbindung in ein großes, kosmisches Ganzes zu bewältigen. Während die intellektuelle Theorie die Dinge zersägt und abtötet, fügt das Symbol das Dasein lebendig zusammen. Im gemeinsamen Ritual vollziehen die Einzelwesen ihre Gemeinschaft als Gelebtes, und im Symbolismus des Rituals vermögen sie eine höhere Fühlung mit dem Kosmos und seinen Gesetzen aufzunehmen, seine rätselhafte Grausamkeit mithin im gemeinschaftlichen Halt bewältigen.
Traditionellerweise liegt hier die Domäne der Religion, doch als Versuche, den verloren gefühlten Daseinssinn wiederzugewinnen, entwickeln auch Nationalsozialismus und Kommunismus eine ausgeprägte politisch-utopische Ikonographie, eigene Riten, Feste, Mythen und Märtyrer – nicht ohne Grund fällt in Bezug auf Totalitarismus oft der Begriff der „politischen Religion“.
So befremdet der heutige Mensch vor solchen Phänomenen steht, die ihm im Rahmen seiner individualistisch-liberalen Erziehung zumeist als überholt, als “irrational”, möglicherweise gar als “brandgefährlich” erscheinen werden, so wenig ist der Ritus letztlich aus der menschlichen Gesellschaft verschwunden. Fridays For Future, Refugees Welcome, Solidarität für die Ukraine, Fuck AfD — auch unsere zeitgenössischen Gesellschaften sind voller gemeinschaftsstiftender Rituale von rätselhafter Intensität. Und dennoch, eingebunden in die Mentalität unserer Gegenwart wirken sie oberflächlich, ziellos. “I support the current thing” — ein bloß erratisches Formwandeln, Herumirren im Bereich des potentiell Sinnstiftenden, der Ritus als Saisonmode, als Konsumartikel, der doch die innere Leere nie wirklich füllen kann und immer bereits Ausschau hält nach dem nächsten Ding, das sich zur Verbrüderung anbietet. [2]
II: Der Agon
Mit dem Begriff des “Agon” hat die Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts versucht, den Charakter des antiken griechischen Gemeinwesens auszudrücken. Das philosophische Streitgespräch, wie sie die Dialoge Platons schildern, die alle vier Jahre von den griechischen Staatstaaten abgehaltenen Olympischen Spiele, in denen junge Männer ihre körperliche Exzellenz bewiesen, die legendären Wettstreite der Rhapsoden oder der Umstand, daß in Athen jedes Jahr zu den Dionysien nicht lediglich eine Tragödie aufgeführt, sondern ein Tragödienwettbewerb zwischen drei Dichtern abgehalten wurde: der Grieche liebt den Wettkampf. Und im Sinne des Wettkampfes, dem Streben danach, sich den Altergenossen und der ganzen Polis als der Beste zu beweisen, ist die ganze griechische Erziehung ausgerichtet.
Der Wettkampf ist einer der Individuen gegeneinander, und dennoch eint er die um die Ehre des Sieges Ringenden in einer Kameradschaft gegenseitigen Respektes, gegenseitigen Ansporns. So kann die überströmende Kraft der Jugend, ihr Streben nach Sieg und Ruhm, sich auf veredelnde Weise äußern und gleichermaßen der Gemeinschaft dienen, statt sie durch Streit zu zerrütten. “Für die Alten aber war das Ziel der agonalen Erziehung die Wohlfahrt des Ganzen, der staatlichen Gesellschaft. Jeder Athener z. B. sollte sein Selbst im Wettkampfe so weit entwickeln, als es Athen vom höchsten Nutzen sei und am wenigsten Schaden bringe. Es war kein Ehrgeiz ins Ungemessene und Unzumessende wie meistens der moderne Ehrgeiz: an das Wohl seiner Mutterstadt dachte der Jüngling, wenn er um die Wette lief oder warf oder sang; ihren Ruhm wollte er in dem seinigen mehren; seinen Stadtgöttern weihte er die Kränze, die die Kampfrichter ehrend auf sein Haupt setzten. Jeder Grieche empfand in sich von Kindheit an den brennenden Wunsch, im Wettkampf der Städte ein Werkzeug zum Heile seiner Stadt zu sein: darin war seine Selbstsucht entflammt, darin war sie gezügelt und umschränkt. Deshalb waren die Individuen im Altertume freier, weil ihre Ziele näher und greifbarer waren. Der moderne Mensch ist dagegen überall gekreuzt von der Unendlichkeit wie der schnellfüßige Achill im Gleichnisse des Eleaten Zeno: die Unendlichkeit hemmt ihn, er holt nicht einmal die Schildkröte ein. (Friedrich Nietzsche, Homers Wettkampf)
Was von der Polis im Einzelnen, das gilt ebenfalls für die Griechen als ganzes Kulturvolk. Die Kriege, die von den griechischen Städten gegeneinander geführt werden, bringen ihren Kriegern ebenfalls Ruhm, doch sie stiften auch Zerstörung und werden schließlich, im endlosen Bürgerkrieg zwischen Sparta und Athen, das Ende der griechischen Blütezeit bedeuten. Im Wettstreit der Olympischen Spiele dagegen verwirklicht sich eine Dialektik zwischen Konkurrenz und Ehrgeiz der einzelnen Stadtstaaten und eines sich im Rahmen des Wettkampfes aufspannenden Gemeinschaftsgefühls.
“Fragen wir, was dieses Olympia über die Festzeit war, so haben wir uns vor allem nicht eine Stadt vorzustellen, die über ein paar Tage die Läden schließt und das Philisterleben stillstellt, um mit anonymen auswärtigen Scharen in Saus und Braus zu schwärmen; ein »Hüttenleben« im Sinne unserer modernen Feste gab es hier nicht; vielmehr war es ein Ort, wo man sich große Entbehrungen auferlegte. Schon die geographische Lage war für die ganze östliche Seite der griechischen Welt nicht bequem; sodann war der Ort nicht besonders gut eingerichtet; man war enge zusammengedrängt und übernachtete im Freien oder unter Zelten – Wohnungen hatten nur die Iamiden – bei Tage war man oft den Sonnenstrahlen schutzlos preisgegeben; auch dürstete man viel; das Wasser des Alpheios scheint bisweilen kaum zu trinken gewesen sein. Aber das alles wurde durch die enorme Gemütsstimmung aufgewogen, die an dieser Stätte herrschte. Ein riesiges, fünftägiges Fest wurde da gefeiert, und zwar zur Vollmondszeit. Pindar, der im elften olympischen Gesang zwar nicht das Fest, wie es war, sondern die ursprüngliche mythische Gründung schildern will, dabei aber doch die Farben aus der Wirklichkeit nimmt, läßt, nachdem die einzelnen Kämpfe vorbei sind, das liebliche Licht des freundlichen Mondes abendlich erglänzen, worauf dann der ganze Bezirk von Liedern zum Ruhme der Sieger erschallt. Ehe es aber zu diesem friedlichen Abschlusse kam, kostete man eine Spannung durch, die über alles geht, was z.B. bei modernen Wettrennen empfunden wird, und das inmitten einer Zuschauermenge, die von gleich heftigen Gefühlen bewegt war und für die einzelnen Vorgänge eine große Kennerschaft an den Tag legte. Dabei befand man sich an der prächtigsten Stätte, die voll von Kunstwerken war; vor und nach den Kämpfen nahm eine enorme Fülle von Gebräuchen und Opfern die Aufmerksamkeit in Anspruch.” (Jacob Burkhardt, Kulturgeschichte Griechenlands)
III: Heroischer Realismus
Dieser Begriff wurde von Denkern wie Walter Best, den Gebrüdern Jünger und Alfred Baeumler in den 20er Jahren im Umfeld der Konservativen Revolution geprägt. Auch Begriffe wie „tapferer Pessimismus“, „heroischer Nihilismus“ oder „skeptischer Enthusiasmus“ tauchen hier auf, um eine Gestimmtheit auszudrücken, die sich wesentlich auf Nietzsche und dessen „amor fati“, der Liebe zum Schicksal also, bezieht. „Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen – so werde ich einer von denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe!“ (Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 276) Im nächsten Aphorismus vertieft Nietzsche den Gedanken: „Es gibt einen gewissen hohen Punkt des Lebens: haben wir den erreicht, so sind wir mit all unsrer Freiheit, und so sehr wir dem schönen Chaos des Daseins alle fürsorgende Vernunft und Güte abgestritten haben, noch einmal in der größten Gefahr der geistigen Unfreiheit und haben unsere schwerste Probe abzulegen. Jetzt nämlich stellt sich erst der Gedanke an eine persönliche Providenz mit der eindringlichsten Gewalt vor uns hin und hat den besten Fürsprecher, den Augenschein, für sich, jetzt wo wir mit Händen greifen, daß uns alle, alle Dinge, die uns treffen, fortwährend zum Besten gereichen. Das Leben jedes Tags und jeder Stunde scheint nichts mehr zu wollen, als immer nur diesen Satz neu beweisen; sei es was es sei, böses wie gutes Wetter, der Verlust eines Freundes, eine Krankheit, eine Verleumdung, das Ausbleiben eines Briefs, die Verstauchung eines Fußes, ein Blick in einen Verkaufsladen, ein Gegenargument, das Aufschlagen eines Buches, ein Traum, ein Betrug: es erweist sich sofort oder sehr bald nachher als ein Ding, das »nicht fehlen durfte« – es ist voll tiefen Sinns und Nutzens gerade für uns!“
Das alles besitzt eine existenzielle Dringlichkeit, denn was sowohl Nietzsches „amor fati“ als auch den „heroischen Realismus“ antreibt, ist der Nihilismus, der Tod Gottes. Womit nicht lediglich Atheismus gemeint ist, sondern der Tod der Vernunft, des Sinnes, der Wahrnehmung einer höheren Ordnung. Nichts anderes auch spricht 1966 Martin Heidegger in seinem berühmten Gespräch mit dem Spiegel aus: „Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang; dass wir im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen.“ Gott ist uns abwesend geworden, die ganze Welt ist uns abwesend geworden, sie zerrinnt dem Menschen wie feiner Sand zwischen seinen Fingern, atomisiert und ihrer Bindungen beraubt.
Amor Fati ist eine Antwort darauf, die Bejahung des Wirklichen, die Bejahung dessen, was als konkretes Geschehen sich gerade im Zuge von tausenden, oft belanglos und zufällig empfundener Kleinigkeiten im Leben als Schicksal manifestiert. Die große Erzählung bleibt aus, Jesus steigt nicht erneut vom Himmel herab und spendet ewiges Leben, doch man verstaucht sich den Fuß und entdeckt, da man nun bewegungsunfähig einige Tage lang zuhause sitzt, ein vergessenes, großartiges Buch im Regal. Amor Fati bedeutet, dass in der Philosophie des Abendlandes zum ersten Mal das Wirkliche als Bedeutsames sichtbar wird.
Doch auch hier schlägt Mohler schließlich einen anderen Weg ein als seine Vorgänger. Rücksichtsvoll verschweigt er, dass bedeutende Vertreter des heroischen Realismus wie Werner Best oder Alfred Baeumler in den 30ern zu führenden Nationalsozialisten werden. Der heroische Realismus bejaht die Konkretion des eigenen Daseins in individueller und geschichtlicher Hinsicht als Schicksal, das er auf eine soldatische Weise annimmt und kämpferisch zu bewältigen versucht. Nicht zuletzt dürfte hier Nietzsches Figur des “Übermenschen” wirksam sein, des Menschen also, der selbst “Gott” wird, die Welt also aus seinem eigenen, vor Kraft überströmenden Vermögen heraus zu schaffen vermag. Durch die Tat, durch den Kampf, durch Politik und Revolution soll im Vollzug des Wirklichen die Sinnhaftigkeit wieder in die Welt hereingezwungen werden.
Nachkriegsdenker wie Mohler und auch Heidegger reflektieren den Umstand, daß dieser Versuch im Gemetzel endet, auch wenn sie als tendenziell „Rechte“ das lautstarke Moralisieren vermeiden. Bei Heidegger beginnt eine sperrige Sprachlosigkeit, die weder zur überwundenen Metaphysik noch zur Idealisierung der Tat neigt – die er nun der „Technik“, also dem bloß Gemachten, Uneigentlichen zurechnet. (Lesenswert dazu: “Tatkult und Revolution von rechts” von Martin Sellner) Das Warten auf etwas, das von sich aus ohne Zwang eintreten soll, als “Lichtung”, Welterfahrung als “Gelassenheit”. Damit nähert er sich dem fernöstlichen Denken, speziell dem Zen-Buddhismus an, doch bleibt bei uns weitgehend unverstanden.
Bei Mohler wird der „heroische Realismus“ nun, allen politischen Überschwanges entkleidet, streng nominalistisch gedeutet: als ein durch die eigene Bedingtheit motiviertes Handeln. Daß also gerade im Bewußtsein der letzthinnigen Mangelhaftigkeit der Welt und des Menschen, im Bewußtsein des Beschränktseins der eigenen Wirksamkeit der Mensch zur einer sinvollen Auffassung des Tätigseins gelangt. Daß er gerade das, was ihm jeweils schicksalshaft zukommt, seine eigenen Fähigkeiten, seine Umgebung, seine geschichtliche Position in seiner Schönheit als Wirkliches bejaht und in dieser Beschränkung mittels den ihm gegebenen Fähigkeiten konstruktiv zu gestalten versucht, ohne größenwahnsinnig, zynisch oder verbrecherisch zu werden. „Nun gibt es einen Menschentypus, der weden den einen noch den anderen dieser beiden Wege [Gulag und Mafia] geht und mit dieser Andersartigkeit die Pfeile aller Gut-Denkenden und aller Abstrakt-Denkenden auf sich zieht. Wie reagiert er auf die Sterblichkeit, die Unvollkommenheit des Menschen? Der Mensch, der sich der conditio humana sowohl im Kopf wie in Herz und Eingeweiden bewußt ist, weiß, daß er die Welt nicht geschaffen hat und sie in ihrer Grundstruktur nicht verändern kann. Er spürt aber auch, daß das kein Anlass zur Resignation ist – im Gegenteil. Das unterscheidet ihn vom Liberalen, den es lähmt, dass seine im Intelligibitäts-Rausch entworfenen Utopien sich nie verwirklichen lassen. […] Was mich bei diesen Leuten am meisten beeindruckte, war eine skeptische Lebenszuversicht, die meist mit einer handfesten Lebenstüchtigkeit einherging. Eine weder begeisterte noch entmutigte Bejahung „der Welt, wie sie ist“ – ganz ohne Illusionen. Das Leid, das Unglück, die menschlichen Schwächen gehörten für sie ganz selbstverständlich dazu.“
Mohler ersetzt die politische, nationalrevolutionäre Ausrichtung durch eine zivile, er entwirft gewissermaßen die bürgerliche Version des “heroischen Realisten”, einer Figur, für die es, wie er sagt “noch keinen Namen” gibt. Er ist kein Krieger, kein Arbeiter, kein Revolutionär und auch kein Rechter — wie Mohler betont, findet man ihn in jedem weltanschaulichen Lager. Stattdessen verweist er auf den Stoizismus der Antike. An die Stelle eines radikalen, politischen Wirkens tritt eine gelassene, “lebenstüchtige” Auseinandersetzung mit dem Realen, seine Akzeptanz auch dort, wo es sich übermächtig, destruktiv oder amoralisch zeigt. Statt Gleichgültigkeit (Mafia) oder Utopie (Gulag) verwirklicht sich ein höheres “Verstehen”, das sich — fast insgeheim — wieder dem Originaltext von Moeller van den Bruck annähert, dessen an Goethe und die Romantiker angelehnte Auffassung, daß sich erst jenseits rationalistischer Zergliederung der wahre Reichtum, die unauslotbare Fülle der Wirklichkeit im Erleben öffne.
Die drei Möglichkeiten eint, daß sie eine offene Dialektik von Individuum und Gemeinschaft zu entwerfen versuchen, die ohne den Zwang normierender Abstraktionen auskommt. Die Menschen werden weder als “Individuen” gleichgemacht und entwurzelt, noch zu Arbeitsameisen eines totalitären Utopieprojekts degradiert. Durch das Ritual, durch den Agon, durch den “heroischen Realismus” will Mohler dem heutigen Menschen einen Weg aus dem Nihilismus zeigen, Möglichkeiten eines sinnhaften, über-individuell gebundenen Daseins, das ohne den autoritären Zwang totalitärer Entwürfe auskommt. Meines Erachtens wird jede Kritik an der Moderne, sofern sie nicht in überkommene Muster zurückzufallen wünscht, hier ansetzen müssen.
Dabei allerdings ist schwer zu übersehen, daß seine Typisierungen nicht mehr so weit entfernt sind von einigen Erscheinungsformen des Liberalismus. So nähert sich Mohlers “heroischer Realist”, der kriegerischen Übermenschen-Esoterik der 20er und 30er Jahre zugunsten stoizistischer Pragmatik entledigt, dem Ethos des liberalen Bürgertums des 19. Jahrhunderts an, das auf ähnliche Weise tatsachen- und tatorientiert, von einer praktischen Moral und gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein getrieben war. Von der zivilen Seite der Säkularisation gewissermaßen, dem Bewußtsein, daß der Mensch selbst für den Zustand der Welt verantwortlich ist, ihn weder Gott noch König retten werden.
Auch der Agon begegnet uns in der Nachkriegszeit nicht nur bei Mohler: er wird ebenfalls aufgegriffen von linksliberalen Denkern wie Michel Foucault, Jean-Francois Lyotard, Hannah Arendt und Chantal Mouffe, eingebettet in moderne Konzepte pluralistischer Demokratie. Er ist überdies nicht weit entfernt von der Argumentationsstruktur des Kapitalismus, worin der Wettbewerb der Einzelnen schließlich der Weiterentwicklung des Ganzen dient — wenngleich auch der Kapitalismus universalistisch argumentiert, während der Agon immer schon einen durch regionale, kulturelle oder ethnische Bindungen konkret begrenzte Räume bildet.
***
Dieses Motiv wird letztlich auch von Moeller van den Bruck wahrgenommen, der es so ohne größere Probleme in seine traditionalistische Auffassung des zu errichtenden deutschen Idealstaates integrieren und mit mittelalterlichen Versatzstücken verschmelzen kann: “Wir verstehen unter deutschem Sozialismus vielmehr eine körperschaftliche Auffassung von Staat und Wirtschaft, die vielleicht revolutionär durchgesetzt werden muß, aber alsdann konservativ gebunden sein wird. Wir nennen Friedrich List einen deutschen Sozialisten, weil sein außenpolitisches Denken so durchaus ein Wirtschaftspolitisches war. Und im innenpolitischen Umkreise weist der Berufsständegedanke auf den Freiherrn vom Stein zurück, wie der Rätegedanke auf das Zunftwesen des Mittelalters zurückweist. Gedanken aus ältester Überlieferung und Gedanken der jüngsten Zielerfassung weisen auf diesen deutschen Sozialismus hin. Der Gedanke der Gemeinwirtschaft weist auf ihn hin, der das Leben in der Zelle erfaßte. Und der Führergedanke einer neuen Jugend weist auf ihn hin, der das Leben nicht dem Menschen überläßt, welcher folgt, sondern demjenigen, welcher vorangeht. Dieser deutsche Sozialisinus ist nicht atomistisch. Er ist organisch. Und er ist durchaus dualistisch und polar, wie dies einem Lande entspricht, das in jeder Beziehung, von der geographischen bis zu der transzendenten, selbst dualistisch ist und in dem das Leben von seinen Gegensätzen her im Gleichgewichte gehalten werden muß. Er setzt einen Menschen voraus, der zu unterscheiden weiß, und nicht, wie der Mensch des Westens, immer nur summiert. Wir wollen nicht, daß die Unterschiede trennen. Wir wollen, dah sie verbinden. Sozialismus ist für uns: Verwurzelung, Staffelung, Gliederung.” — die eigenwilligen Transformationsbewegungen sozialistischer Ideen der Weimar-Rechten sind bislang geisteswissenschaftlich kaum näher analysiert worden. Vielleicht deshalb, weil sie der innerhalb der linksgeprägten Nachkriegshegemonie herrschenden These, wonach der Nationalsozialismus nichts mit Sozialismus zu tun hätte, zu eklatant widersprechen.
Sehr geehrter Nigromontanus,
Danke für den anregenden Text und die Gelegenheit, diesen lesen zu können.
Ich schreibe diesen Kommentar , um auf eine weitere Facette des Böckenförde Textes hinzuweisen, die meiner persönlichen Literaturerfahrung geschuldet sein mag.
Der Text von Böckenförde (‘Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation’) hatte für mich vor allem immer einen Klang, der war schmittianisch, und das hat sich auch noch mal durch die Lektüre des Briefwechsels Böckenförde / Schmitt (den man für Umme runterladen kann: https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/welch-guetiges-schicksal-id-100820/) bestätigt.
Man könnte dies jetzt am Text — was die eigentlich valide Methode wäre — einzeln nachweisen, dafür ist an dieser Stelle aber wenig Raum, deshalb möchte ich es bei 2 indizienhaften Hinweisen belassen:
— Ein Blick in die Fußnoten von Böckenfördes Text offenbaren eine ideengeschichtlichen Hintergrund, der schmittianischer kaum sein könnte, als Vergleich könnte man z.B. den ‘Nomos der Erde’ heranziehen. Die Verweise in den FN beziehen sich u.a. auf: Brunner, Barion, Schnur, die MA Auseinandersetzung von potestas directa vs indirecta und an mehreren Stellen Schmitt selbst.
— Der Erscheinungsort des Aufsatzes: Ursprünglich erschienen in der Festschrift ‘Säkularisation und Utiopie’ für Ernst Forsthoff, ‘den Ebrachern zugeeignet’. Was der Ebracher Kreis war und was er mit Schmitt zu tun hatte, s. z.B. ‘Gespräche in der Sicherheit des Schweigens’ v. van Laak, S. 200ff.
Für mich war dieser Aufsatz immer ein Beispiel für eine liberale Interpretation (“Es führt kein Weg über die Schwelle von 1789 zurück, ohne den Staat als die Ordnung der Freiheit zu zerstören”: Böckenförde im Aufsatz) von Schmitt, ein Beispiel für viele solcher Interpretationen insbesondere im Ritter Kreis. (s. hierzu: Jens Hacke, ‘Philosophie der Bürgerlichkeit & auch der Briefwechsel Schmitt — Ritter in: Schmittiana Neue Folge Bd. II, S. 201ff.)
Dies sind ein paar Stichpunkte, die wie gesagt, auf meiner ganz persönlichen Literaturerfahrung beruhen und vielleicht auch ein paar Anregungen auslösen können so wie Ihr Text dies bei mir getan hat.
Viele Grüße,
Ihr Fehl‑x.
Vielen Dank für diese gehaltvollen Anmerkungen. Mir war beim Schreiben durchaus der schmittianische Einfluß auf Böckenförde bewusst, allerdings ist mir bei der Arbeit an meinem Text bewusst geworden, dass ich diese für meine Argumentation ignorieren kann. Lediglich in Bezug auf den Agon hätte man fragen können, was diesen zusammenhält, wann das Agonale zum Bürgerkrieg oder zur Sezession zerfällt. Wobei ich tatsächlich gerade dabei bin, mich mit Schmitt zu beschäftigen, auch, weil ich den Eindruck habe, daß er ähnlich wie Mohler von Rechten zumeist sehr oberflächlich und politisch-instrumentalisierend gelesen wird.
Ja, wohl wahr. Die Wenigsten lesen nach der ‘Politischen Theologie’ den Peterson Text ‘Monotheismus als politisches Problem’ oder Blumenberg, um tiefer zu bohren.
Die Arbeit am Text ist dann doch sehr mühselig.
Sola scriptura.
Für EINEN Rechten gilt das übrigens nicht: Günter Maschke hat sich da reingelesen wie kaum ein Zweiter. Jede Zeile vom ihm lesenswert.