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Styler Ornament

Mohler gegen Böckenförde: zur Liberalismuskritik

Styler Ornament

3.

“Spä­te­re Beob­ach­ter jener Zeit, die selbst inmit­ten der sat­ten Selbst­ge­wiss­heit demo­kra­ti­scher Pro­spe­ri­tät leben, sind viel­fach auf ein merk­wür­di­ges, ihnen rät­sel­haft schei­nen­des Phä­no­men gesto­ßen. Kaum ein Schrift­stel­ler, Künst­ler, Den­ker von Rang hat in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts mit dem angeb­lich so selbst­ver­ständ­li­chen Sta­tus quo von par­la­men­ta­ri­scher Demo­kra­tie, Kapi­ta­lis­mus und bür­ger­li­cher Kul­tur sym­pa­thi­siert.” (Rolf Peter Sie­fer­le, Epochenwechsel)

Moel­ler van den Brucks Ver­häng­nis natür­lich ist ein his­to­ri­sches, wie auch sein Lei­den an der Moder­ne. Denn im Begriff der “Bin­dung” west eine span­nungs­vol­le Dop­pel­be­deu­tung, wovon der Libe­ra­le zumeist nur die Hälf­te wahr­nimmt: die Fes­sel. Jede Bin­dung fixiert den Men­schen, schränkt ihn ein, macht ihn unfrei in sei­nen Ent­schei­dun­gen und Hand­lun­gen. Wie in Aben­teu­er­fil­men, in denen zwei anein­an­der­ge­fes­sel­te Sträf­lin­ge sich an einer gemein­sa­men Flucht ver­su­chen: Gebun­de­ne sind jeder­zeit gezwun­gen, die Bewe­gun­gen, die Zie­le und Wün­sche des ande­ren mit­zu­voll­zie­hen, sie sind von­ein­an­der abhän­gig und fort­wäh­rend zu Kom­pro­mis­sen gezwun­gen. Dabei aber, und mög­li­cher­wei­se ist es das, wor­aus ein Text wie Moel­ler van den Brucks „Das Drit­te Reich“ trotz aller his­to­ri­scher Unge­nau­ig­keit sei­ne inne­re Wahr­heit, sei­ne poli­ti­sche Wirk­sam­keit zieht, ist die Bin­dung immer auch ein Zwei­tes: die Ver­bun­den­heit, also das authen­ti­sche, emo­tio­nal auf­ge­la­de­ne Ver­hält­nis zur Welt da drau­ßen, zu Men­schen und Ideen, zu Hei­ma­ten und Ursprün­gen, zu Vor­bil­dern und Uto­pien. Eini­ge die­ser Bin­dun­gen sind Schick­sal, sie sind nicht gewählt, son­dern gege­ben, ande­re das Resul­tat bewuss­ter Ent­schei­dung, man­che wer­den geschaf­fen im Zuge kul­tu­rel­ler Pro­zes­se. Doch was die­se Ver­bun­den­hei­ten im Kern aus­macht, ist, daß sie dem Dasein des Betref­fen­den wesent­lich Sinn und Iden­ti­tät spen­den, sie bin­den ihn ein in einen Welt­zu­sam­men­hang, geben sei­nem Den­ken und Han­deln Rich­tung, Form, Ansporn. Bereits wer sei­ne Eltern liebt und des­halb bestrebt ist, ihren Vor­stel­lun­gen gerecht zu wer­den, gibt einen Teil sei­ner Frei­heit auf, gewinnt dabei aber auch Gemein­schaft, Sta­bi­li­tät, Her­kunft, emo­tio­na­le Wär­me und Rück­halt. Fin­den wir Freun­de, ande­re Men­schen und Grup­pen, rich­ten wir uns zuguns­ten der Gemein­schaft mit ihnen nicht mehr nach uns allei­ne aus. Bezie­hung und Ehe bin­den umso stär­ker, je tie­fer die Lie­be ist, manch einer liebt bis zur Selbst­auf­ga­be und durch­lebt dabei doch die erfüll­tes­te, inten­sivs­te Pha­se sei­nes Lebens, so sehr dabei jede indi­vi­du­el­le Frei­heit ver­lo­ren geht. Und für die eige­nen Kin­der schließ­lich ist die Bin­dung so tief, daß Eltern manch­mal das eige­ne Glück, sogar die eige­ne Gesund­heit geben, um Scha­den von ihnen abzuwenden. 

Auch in unse­rer ver­meint­lich so indi­vi­dua­lis­tisch gepräg­ten Gegen­wart wer­den uns die­je­ni­gen zu Hel­den, Vor­bil­dern und Inspi­ra­ti­ons­quel­len, die ihr eige­nes Leben in den Dienst einer höhe­ren Sache stel­len. Wir fin­den sie zwar heu­te nur noch ver­wäs­sert, kom­mer­zia­li­siert in Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur oder Hol­ly­wood-Block­bus­tern vor — doch sind die­se Moti­ve nur des­halb so erfolg­reich, weil die dort gezeig­te Über­stei­gung des Egos einen tie­fen, emo­tio­na­len Wider­hall in uns auslöst.

Im Kon­trast dazu kann ein Mensch, der nur um sei­ner selbst und sei­nes Vor­teils Wil­len lebt, kaum anders denn als halb bemit­lei­dens­wer­te, halb absto­ßen­de Figur gedacht wer­den. Wirk­lich frei wäre nur der­je­ni­ge, der nichts liebt, dem nichts und nie­mand etwas bedeu­tet, der völ­lig gleich­gül­tig gegen­über allem Bestehen­den die­ser Welt wäre. Wir kön­nen ihn uns kaum anders denn als bös­ar­ti­gen, mani­pu­la­ti­ven Ego­is­ten vor­stel­len, oder als sui­zi­da­le, ver­ein­sam­te Existenz.

Betrach­ten wir also Libe­ra­li­sie­rung als Pro­zess, der zum einen den Grad an Indi­vi­dua­li­tät und Frei­heit in einer Gesell­schaft suk­zes­si­ve erhöht und gleich­zei­tig die Stei­ge­rung in die letz­te, theo­re­ti­sche Kon­se­qenz, bis hin zu abso­lu­ter Frei­heit, abso­lu­ter Ato­mi­sie­rung, abso­lu­ter Indi­vi­dua­ti­on als ver­meint­li­che Uto­pie ver­spricht, so ent­wi­ckelt das Pro­gramm des Libe­ra­lis­mus einen unter­grün­di­gen Hor­ror. Der Nihi­lis­mus zieht her­auf, die Bin­dungs­lo­sig­keit als Sinn­lo­sig­keit, nicht ledig­lich als phi­lo­so­phi­sches Pro­blem, son­dern als Gestimmt­heit einer gan­zen Epo­che. Kein Zufall dürf­te es sein, daß die bei­den Kon­kur­ren­ten des Libe­ra­lis­mus bei­der­seits “kol­lek­ti­vis­tisch” den­ken, dem blo­ßen “Ich” der libe­ral-kapi­ta­lis­ti­schen Welt gegen­über das har­mo­ni­sche Ein­ge­bun­den­sein in einen höhe­ren, über­in­di­vi­du­el­len Kon­text ver­spre­chen.[1]

Womög­lich ist nicht zuletzt des­halb der Sozia­lis­mus trotz sei­nes geschicht­li­chen Schei­terns bei vie­len Heu­ti­gen, denen es iro­ni­scher­wei­se dank Kapi­ta­lis­mus auf öko­no­mi­scher Ebe­ne meist rela­tiv gut geht, als Uto­pie und Sehn­suchts­ort so leben­dig geblie­ben. Weni­ger die pro­kla­mier­te „Wis­sen­schaft­lich­keit“ der mar­xis­tis­tisch-leni­nis­ti­schen Welt­an­schau­ung oder der von ihm adap­tier­te Kata­log libe­ra­ler Wer­te machen ihn anzie­hend, son­dern das Ver­pre­chen, eine als exis­ten­zi­ell gefühl­te Ent­frem­dung, ein tie­fin­ner­li­ches Lei­den des moder­nen Men­schen zu hei­len, ihn aus der Höl­le des Nichts, aus einer Idee von Selbst­ver­wirk­li­chung, die sei­nem Selbst über­haupt nicht ent­spricht, zu erlösen. 

So nimmt es rück­bli­ckend kaum Wun­der, daß Arthur Moel­ler van den Brucks Inter­pre­ta­ti­on der Zeit auf frucht­ba­ren Boden fällt, sich mit einer Unzahl ande­rer, inner­lich ver­wand­ter Ideen ver­mengt und zur revo­lu­tio­nä­ren, poli­ti­schen Kraft her­an­reift. Rück­erobe­rung der sinn­haft-schöp­fe­risch gebun­de­nen Welt, ver­wirk­licht mit­tels einer natio­na­lis­ti­schen Revo­lu­ti­on, die Par­la­men­ta­ris­mus und Libe­ra­lis­mus als Aus­druck moder­nis­ti­scher Selbst­ent­frem­dung hin­weg­fe­gen soll. Mythos, Hel­den­tum, Glau­be, Deutsch­land, die ele­men­ta­ren Bin­dun­gen des Schick­sals, tief ein­ge­wur­zelt in der jahr­tau­sen­de­al­ten See­le des eige­nen Vol­kes, ver­wach­sen mit der Natur, den Ber­gen, Wäl­dern und Flüs­sen der Hei­mat. Man müss­te ein sehr stump­fer Mensch sein, um von der berü­cken­den Schön­heit sol­cher Ent­wür­fe nicht ergrif­fen zu wer­den. Doch natür­lich stößt die Ver­wirk­li­chung auf ein mitt­ler­wei­le bekann­tes Ver­häng­nis: im Ver­such, in bereits ato­mi­sier­ten Mas­sen­ge­sell­schaf­ten Gebun­den­heit zu rekon­stru­ie­ren, die, wo sie nicht von vorn­her­ein ledig­lich Pro­dukt eska­pis­ti­scher, roman­ti­scher Idea­li­sie­rung war, auch als geleb­te Tra­di­ti­ons- und Moral­be­stän­de längst abge­baut ist, ent­steht statt des anvi­sier­ten Glü­ckes etwas, das wir heu­te als “Tota­li­ta­ris­mus” fürchten. 

Doch was soll in unse­rem Zusam­men­hang Tota­li­ta­ris­mus bedeu­ten? Noch ein­mal: Moel­ler van den Bruck schil­dert mit­nich­ten die geschicht­li­che Wirk­lich­keit. “Die Frei­heit jedoch, von der Nie­mand auf­klä­re­risch sprach, weil Alle sie schöp­fe­risch besa­ßen, war bei den Men­schen sol­cher Leis­tun­gen wun­der­bar auf­ge­ho­ben: als Wil­le in Tätig­keit.” — Was er aus­drückt, ist sei­ne höchst­per­sön­li­che Sehn­sucht, gebo­ren aus sei­nem eige­nen Lei­den an der Zeit. Nicht die Schil­de­rung des his­to­ri­schen Mit­tel­al­ters ist sein Ziel, son­dern der Ent­wurf eines ver­lo­re­nen Para­die­ses am Anfang der Zeit, das die Hei­lung der eige­nen, inne­ren Wun­den ver­spricht. Wo der lin­ke Tota­li­ta­ris­mus das Para­dies an das Ende eines geschicht­li­chen Fort­schritts­pro­zes­ses legt, so legt der rech­te Tota­li­ta­ris­mus ihn in die Ver­gan­gen­heit, an einen ver­lo­re­nen, zu erneu­ern­den Ursprung. Ver­trei­bung aus dem Para­dies oder Him­mel­reich auf Erden am Ende der Zeit — escha­to­lo­gi­sche Urbil­der, die noch tie­fer hin­ab­rei­chen als das Chris­ten­tum, aus dem sie sich impli­zit spei­sen. Tota­li­ta­ris­mus will den Men­schen noch ein­mal in sei­nem Inners­ten ergrei­fen, mit­reis­sen, ver­wan­deln, erlö­sen. Viel­leicht soll­ten wir Moel­ler van den Bruck zumin­dest die Ehre erwei­sen, ihn als Roman­ti­ker in einer unro­man­ti­schen Zeit zu ver­ste­hen, als eine ver­heer­te, wüten­de See­le in einem ver­heer­ten, wüten­den Land, die dem gigan­tisch auf­klaf­fen­den Maul des Nichts in ihm selbst noch ein­mal alles ent­ge­gen­schleu­dert um schließ­lich doch davon auf­ge­fres­sen zu wer­den. Von Alko­hol­miss­brauch gezeich­net wird er bereits zwei Jah­re nach Abfas­sung von “Das Drit­te Reich” einen Ner­ven­zu­sam­men­bruch erlei­den und Selbst­mord bege­hen; das gewis­ser­ma­ßen sel­be Schick­sal wird schließ­lich auch Deutsch­land zuteil. 

4.

Auch der Ver­such, den Hor­ror der Moder­ne, des Nichts des blo­ßen Indi­vi­du­ums zu über­win­den, schei­tert also an der Wirk­lich­keit, und mün­det bloß in einem neu­en Hor­ror, dem des Tota­li­ta­ris­mus. Und das ist nun der Punkt, an dem Moh­ler über Moel­ler van den Bruck hin­aus­geht in dem Wunsch, aus der Geschich­te zu ler­nen. “Gegen die Libe­ra­len” ver­sucht, was mei­nes Erach­tens bis­lang gera­de von zeit­ge­nös­si­schen Rech­ten kaum reflek­tiert wur­de: Libe­ra­lis­mus­kri­tik jen­seits des blo­ßen Rück­falls in alt­rechts-tota­li­tä­re Lösungs­mus­ter zu denken. 

Moh­ler sagt: daß auch der Tota­li­ta­ris­mus als Anti-Indi­vi­dua­lis­mus kein all­seits beglü­cken­des Erfolgs­mo­dell wird, hat sei­nen Grund dar­in, daß er dem einen abs­trak­ten Extrem ledig­lich ein gegen­tei­li­ges abs­trak­tes Extrem ent­ge­gen­stellt und damit nur eine neue Vari­an­te des “3‑Uhr-Mor­gens-Den­kens” gebiert. Wo der Libe­ra­lis­mus die Idee des Indi­vi­du­ums total setzt und dar­auf­hin so sehr über­stei­gert, daß sie der Wirk­lich­keit des Mensch­seins nicht län­ger ent­spricht, so setzt der Tota­li­ta­ris­mus die Idee der Bin­dung (an Volk, Nati­on, Klas­se, Arbeit) total, wodurch sein ursprüng­lich so idea­lis­ti­sches Pro­gramm ange­sichts des ihm nicht ent­spre­chen­den Men­schen zu Über­wa­chung, Pro­pa­gan­da, Straf­la­ger und Ter­ror ausartet.

Moel­ler van den Bruck als Ver­tre­ter des rech­ten Tota­li­ta­ris­mus hängt damit noch in einer Dicho­to­mie zwi­schen “Indi­vi­dua­lis­mus” und “Bin­dung” fest, über die er nicht hin­aus­kommt, wäh­rend Moh­ler (mit Moel­ler van den Bruck, also im Sin­ne des­sen eige­ner Argu­men­ta­ti­on) über Moel­ler van den Bruck hin­aus­zu­ge­hen ver­sucht, um die eben­falls geschei­ter­te Gegen­satz-Uto­pie des Natio­nal­so­zia­lis­mus als Pro­blem zu inte­grie­ren. Die­se Über­win­dung unter­nimmt er mit­tels einer Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen Uni­ver­sa­lis­mus und Nomi­na­lis­mus. Die­se Posi­ti­on, die Moh­ler aus dem Uni­ver­sa­li­en­streit des Mit­tel­al­ters ent­wi­ckelt und damit eine grund­sätz­li­che Kri­tik abend­län­di­scher Ideen­ge­schich­te vor­nimmt, hof­fe ich in Kür­ze in einem geson­der­ten Text noch aus­führ­li­cher dar­zu­stel­len. Im Kon­text unse­rer Libe­ra­lis­mus­kri­tik genügt es, den Uni­ver­sa­lis­mus als “abs­trak­tes”, den Nomi­na­lis­mus dage­gen als “kon­kre­tes” Den­ken auf­zu­fas­sen. Der Uni­ver­sa­list denkt von der Theo­rie, dem Ide­al, von der Ver­all­ge­mei­ne­rung her, wäh­rend er dem kon­kre­ten Ein­zel­ding nur gerin­gen Wert bei­misst. Für den Nomi­na­lis­ten dage­gen ist allein das kon­kre­te Ein­zel­ding wirk­lich, wäh­rend er die mit­tels Spra­che gebil­de­ten All­ge­mein­be­grif­fe (“DER Mensch” oder “DER Fluß” oder “DAS Gute”) ledig­lich als man­gel­haf­te Hilfs­mit­tel auffasst.

“Der Mensch ist unvoll­kom­men, unfer­tig, Arnold Geh­len defi­nier­te ihn als Män­gel­we­sen, und wenn der Christ ihn “sün­dig” nennt, so meint er das­sel­be, aber mit ande­rer Wer­tung. Der Mensch bringt nur Stück­werk fer­tig, nie das Gan­ze. Er hat gute Sei­ten wie schlech­te (“böse” sagt der Christ). Man kann das lau­fen las­sen, sich aufs Durch­wurs­teln inner­halb haut­na­her Bin­dun­gen beschrän­ken und auf sei­nen per­sön­li­chen Nut­zen ach­ten, nichts sonst. Das ist der Weg der Mafia. Man kann die Feh­ler­haf­tig­keit des Men­schen auf ande­re Wei­se, die tota­li­tä­re, zu unter­lau­fen suchen: durch stu­res Fest­hal­ten an einem Prin­zip, an einem Ide­al­bild. Das führt, auch beim bes­ten Wil­len, frü­her oder spä­ter zur Instal­lie­rung eines Gulag für all die­je­ni­gen, die das Prin­zip nicht aner­ken­nen, sicht nicht nicht dem Ide­al­bild rich­ten. Die Wohl­fahrts­auss­schüs­se sind dann nicht fern, die Straf­la­ger, die Sprit­zen der Psych­ia­ter, die Guil­lo­ti­ne.” (Gegen die Liberalen)

So stellt Moh­ler am Ende von „Gegen die Libe­ra­len“ zunächst zwei Nega­tiv­mög­lich­kei­ten vor: Gulag und Mafia. Der Gulag steht für den Uni­ver­sa­lis­mus – ein intel­lek­tu­ell per­fekt aus­ge­ar­bei­te­tes Sys­tem wird umge­setzt, doch auf­grund der Nicht-Über­ein­stim­mung von abs­trak­ter Ver­nunft und Welt taucht dabei immer ein uner­war­te­ter, wider­stän­di­ger Rest auf, der zurecht­ge­zwun­gen, iso­liert oder aus­ge­merzt wer­den muss. Die Mafia dage­gen ist der tota­le Nomi­na­lis­mus als Gesell­schafts­ent­wurf: völ­li­ges Feh­len von Idea­len und über­ge­ord­ne­ten Prin­zi­pi­en, ein­zig der kon­kre­te Nut­zen kon­kre­ter Per­so­nen errich­tet hier Ord­nungs­struk­tu­ren und sei­ne spe­zi­fi­sche Aus­prä­gung gesell­schaft­li­cher Bin­dung. Die Mafia zele­briert den sün­di­gen, unfer­ti­gen, nicht-idea­len Men­schen, der Gulag bringt ihn um.

Doch wie könn­ten wir auf eine gute Wei­se mit unse­rer mensch­li­chen Kon­sti­tu­ti­on umge­hen, die uns weder zu skru­pel­lo­sen Kri­mi­nel­len noch zu uto­pis­ti­schen Mas­sen­mör­dern macht? Wie kön­nen wir den tief­ver­wur­zel­ten Wunsch, unse­re Welt auf eine mög­lichst gute Wei­se ein­zu­rich­ten, über­ge­ord­ne­te Bin­dun­gen zu schaf­fen und damit dem Leben einen erstre­bens­wer­ten Sinn zu ver­lei­hen, mit dem Umstand unse­res eige­nen Unge­nü­gens ver­ein­ba­ren? Letzt­lich ist es so: Da die Welt nie auf ein Prin­zip zu brin­gen ist, da kei­ne Glei­chung jemals auf­ge­hen wird, exis­tie­ren unwei­ger­lich immer meh­re­re Prin­zi­pi­en, ver­schie­de­ne Glei­chun­gen mit ver­schie­de­nen Ant­wor­ten und Lösungs­an­sat­ze neben­ein­an­der. Die gesell­schaft­li­che und damit auch poli­ti­sche Kon­se­quenz des Nomi­na­lis­mus ist Plu­ra­li­tät, neben­ein­an­der, mit­ein­an­der und gegen­ein­an­der exis­tie­ren­de Ver­schie­den­heit. Doch natür­lich soll dar­aus bei Moh­ler kein ega­li­tär-nihi­lis­ti­scher Plu­ra­lis­mus im Sin­ne des ver­fem­ten Libe­ra­lis­mus ent­ste­hen. Er sucht nach ande­ren Lösun­gen, um das Indi­vi­du­el­le, Viel­ge­stal­ti­ge mit dem Über­in­di­vi­du­el­len, Gemein­sa­men zu ver­söh­nen und stellt drei Mög­lich­kei­ten vor.

I: Der Ritus

„Seit es den Men­schen gibt, ver­füg­te er immer über ein Mit­tel, sich mit der eige­nen Unzu­läng­lich­keit und Gebrech­lich­keit zu ver­söh­nen; in Ritua­len ver­schie­de­ner Aus­prä­gung. Bei den Ritua­len, die sich tief ein­prä­gen, sto­ßen wir aller­dings stets auf das glei­che Grund­mus­ter: in sich gleich­mä­ßig wie­der­ho­len­den Gebär­den, Wor­ten, Klän­gen, Bild­wer­ken wird das rät­sel­haf­te Inein­an­der von Ver­nich­tung und Geburt, mit dem wir kon­fron­tiert sind und an dem wir nichts zu ändern ver­mö­gen, in über­höh­tem, den Ein­zel­nen über­schrei­ten­den und zugleich ein­be­zie­hen­den Stil dar­ge­stellt – von der Geburts­fei­er über Initia­tio­nen aller Art bis zum Begräb­nis. Wenn das Drit­te Reich, bei all sei­nen Schat­ten, in so vie­len Men­schen einen posi­ti­ven Nach­hall hin­ter­las­sen hat, so liegt das dar­an, dass es die­se tie­fe Bedürf­nis des Men­schen zu befrie­di­gen suchte.“

Im Ritu­al, in der gemein­sa­men Zele­bra­ti­on des Sym­bo­li­schen ist es dem Men­schen mög­lich, sich selbst zu über­schrei­ten, sei­ne eige­ne qual­vol­le Unzu­läng­lich­keit nicht durch intel­lek­tua­lis­ti­sche Sys­tem­bil­dung, son­dern durch Ein­bin­dung in ein gro­ßes, kos­mi­sches Gan­zes zu bewäl­ti­gen. Wäh­rend die intel­lek­tu­el­le Theo­rie die Din­ge zer­sägt und abtö­tet, fügt das Sym­bol das Dasein leben­dig zusam­men. Im gemein­sa­men Ritu­al voll­zie­hen die Ein­zel­we­sen ihre Gemein­schaft als Geleb­tes, und im Sym­bo­lis­mus des Ritu­als ver­mö­gen sie eine höhe­re Füh­lung mit dem Kos­mos und sei­nen Geset­zen auf­zu­neh­men, sei­ne rät­sel­haf­te Grau­sam­keit mit­hin im gemein­schaft­li­chen Halt bewältigen.

Tra­di­tio­nel­ler­wei­se liegt hier die Domä­ne der Reli­gi­on, doch als Ver­su­che, den ver­lo­ren gefühl­ten Daseins­sinn wie­der­zu­ge­win­nen, ent­wi­ckeln auch Natio­nal­so­zia­lis­mus und Kom­mu­nis­mus eine aus­ge­präg­te poli­tisch-uto­pi­sche Iko­no­gra­phie, eige­ne Riten, Fes­te, Mythen und Mär­ty­rer – nicht ohne Grund fällt in Bezug auf Tota­li­ta­ris­mus oft der Begriff der „poli­ti­schen Religion“. 

So befrem­det der heu­ti­ge Mensch vor sol­chen Phä­no­me­nen steht, die ihm im Rah­men sei­ner indi­vi­dua­lis­tisch-libe­ra­len Erzie­hung zumeist als über­holt, als “irra­tio­nal”, mög­li­cher­wei­se gar als “brand­ge­fähr­lich” erschei­nen wer­den, so wenig ist der Ritus letzt­lich aus der mensch­li­chen Gesell­schaft ver­schwun­den. Fri­days For Future, Refu­gees Wel­co­me, Soli­da­ri­tät für die Ukrai­ne, Fuck AfD — auch unse­re zeit­ge­nös­si­schen Gesell­schaf­ten sind vol­ler gemein­schafts­stif­ten­der Ritua­le von rät­sel­haf­ter Inten­si­tät. Und den­noch, ein­ge­bun­den in die Men­ta­li­tät unse­rer Gegen­wart wir­ken sie ober­fläch­lich, ziel­los. “I sup­port the cur­rent thing” — ein bloß erra­ti­sches Form­wan­deln, Her­um­ir­ren im Bereich des poten­ti­ell Sinn­stif­ten­den, der Ritus als Sai­son­mo­de, als Kon­sum­ar­ti­kel, der doch die inne­re Lee­re nie wirk­lich fül­len kann und immer bereits Aus­schau hält nach dem nächs­ten Ding, das sich zur Ver­brü­de­rung anbie­tet. [2]

II: Der Agon

Mit dem Begriff des “Agon” hat die Alter­tums­wis­sen­schaft des 19. Jahr­hun­derts ver­sucht, den Cha­rak­ter des anti­ken grie­chi­schen Gemein­we­sens aus­zu­drü­cken. Das phi­lo­so­phi­sche Streit­ge­spräch, wie sie die Dia­lo­ge Pla­tons schil­dern, die alle vier Jah­re von den grie­chi­schen Staat­staa­ten abge­hal­te­nen Olym­pi­schen Spie­le, in denen jun­ge Män­ner ihre kör­per­li­che Exzel­lenz bewie­sen, die legen­dä­ren Wett­strei­te der Rhap­so­den oder der Umstand, daß in Athen jedes Jahr zu den Dio­ny­si­en nicht ledig­lich eine Tra­gö­die auf­ge­führt, son­dern ein Tra­gö­di­en­wett­be­werb zwi­schen drei Dich­tern abge­hal­ten wur­de: der Grie­che liebt den Wett­kampf. Und im Sin­ne des Wett­kamp­fes, dem Stre­ben danach, sich den Alter­ge­nos­sen und der gan­zen Polis als der Bes­te zu bewei­sen, ist die gan­ze grie­chi­sche Erzie­hung ausgerichtet. 

Der Wett­kampf ist einer der Indi­vi­du­en gegen­ein­an­der, und den­noch eint er die um die Ehre des Sie­ges Rin­gen­den in einer Kame­rad­schaft gegen­sei­ti­gen Respek­tes, gegen­sei­ti­gen Ansporns. So kann die über­strö­men­de Kraft der Jugend, ihr Stre­ben nach Sieg und Ruhm, sich auf ver­edeln­de Wei­se äußern und glei­cher­ma­ßen der Gemein­schaft die­nen, statt sie durch Streit zu zer­rüt­ten. “Für die Alten aber war das Ziel der ago­na­len Erzie­hung die Wohl­fahrt des Gan­zen, der staat­li­chen Gesell­schaft. Jeder Athe­ner z. B. soll­te sein Selbst im Wett­kamp­fe so weit ent­wi­ckeln, als es Athen vom höchs­ten Nut­zen sei und am wenigs­ten Scha­den brin­ge. Es war kein Ehr­geiz ins Unge­mes­se­ne und Unzu­mes­sen­de wie meis­tens der moder­ne Ehr­geiz: an das Wohl sei­ner Mut­ter­stadt dach­te der Jüng­ling, wenn er um die Wet­te lief oder warf oder sang; ihren Ruhm woll­te er in dem sei­ni­gen meh­ren; sei­nen Stadt­göt­tern weih­te er die Krän­ze, die die Kampf­rich­ter ehrend auf sein Haupt setz­ten. Jeder Grie­che emp­fand in sich von Kind­heit an den bren­nen­den Wunsch, im Wett­kampf der Städ­te ein Werk­zeug zum Hei­le sei­ner Stadt zu sein: dar­in war sei­ne Selbst­sucht ent­flammt, dar­in war sie gezü­gelt und umschränkt. Des­halb waren die Indi­vi­du­en im Alter­tu­me frei­er, weil ihre Zie­le näher und greif­ba­rer waren. Der moder­ne Mensch ist dage­gen über­all gekreuzt von der Unend­lich­keit wie der schnell­fü­ßi­ge Achill im Gleich­nis­se des Elea­ten Zeno: die Unend­lich­keit hemmt ihn, er holt nicht ein­mal die Schild­krö­te ein. (Fried­rich Nietz­sche, Homers Wettkampf)

Was von der Polis im Ein­zel­nen, das gilt eben­falls für die Grie­chen als gan­zes Kul­tur­volk. Die Krie­ge, die von den grie­chi­schen Städ­ten gegen­ein­an­der geführt wer­den, brin­gen ihren Krie­gern eben­falls Ruhm, doch sie stif­ten auch Zer­stö­rung und wer­den schließ­lich, im end­lo­sen Bür­ger­krieg zwi­schen Spar­ta und Athen, das Ende der grie­chi­schen Blü­te­zeit bedeu­ten. Im Wett­streit der Olym­pi­schen Spie­le dage­gen ver­wirk­licht sich eine Dia­lek­tik zwi­schen Kon­kur­renz und Ehr­geiz der ein­zel­nen Stadt­staa­ten und eines sich im Rah­men des Wett­kamp­fes auf­span­nen­den Gemeinschaftsgefühls. 

“Fra­gen wir, was die­ses Olym­pia über die Fest­zeit war, so haben wir uns vor allem nicht eine Stadt vor­zu­stel­len, die über ein paar Tage die Läden schließt und das Phi­lis­ter­le­ben still­stellt, um mit anony­men aus­wär­ti­gen Scha­ren in Saus und Braus zu schwär­men; ein »Hüt­ten­le­ben« im Sin­ne unse­rer moder­nen Fes­te gab es hier nicht; viel­mehr war es ein Ort, wo man sich gro­ße Ent­beh­run­gen auf­er­leg­te. Schon die geo­gra­phi­sche Lage war für die gan­ze öst­li­che Sei­te der grie­chi­schen Welt nicht bequem; sodann war der Ort nicht beson­ders gut ein­ge­rich­tet; man war enge zusam­men­ge­drängt und über­nach­te­te im Frei­en oder unter Zel­ten – Woh­nun­gen hat­ten nur die Iami­den – bei Tage war man oft den Son­nen­strah­len schutz­los preis­ge­ge­ben; auch dürs­te­te man viel; das Was­ser des Alphei­os scheint bis­wei­len kaum zu trin­ken gewe­sen sein. Aber das alles wur­de durch die enor­me Gemüts­stim­mung auf­ge­wo­gen, die an die­ser Stät­te herrsch­te. Ein rie­si­ges, fünf­tä­gi­ges Fest wur­de da gefei­ert, und zwar zur Voll­monds­zeit. Pin­dar, der im elf­ten olym­pi­schen Gesang zwar nicht das Fest, wie es war, son­dern die ursprüng­li­che mythi­sche Grün­dung schil­dern will, dabei aber doch die Far­ben aus der Wirk­lich­keit nimmt, läßt, nach­dem die ein­zel­nen Kämp­fe vor­bei sind, das lieb­li­che Licht des freund­li­chen Mon­des abend­lich erglän­zen, wor­auf dann der gan­ze Bezirk von Lie­dern zum Ruh­me der Sie­ger erschallt. Ehe es aber zu die­sem fried­li­chen Abschlus­se kam, kos­te­te man eine Span­nung durch, die über alles geht, was z.B. bei moder­nen Wett­ren­nen emp­fun­den wird, und das inmit­ten einer Zuschau­er­men­ge, die von gleich hef­ti­gen Gefüh­len bewegt war und für die ein­zel­nen Vor­gän­ge eine gro­ße Ken­ner­schaft an den Tag leg­te. Dabei befand man sich an der präch­tigs­ten Stät­te, die voll von Kunst­wer­ken war; vor und nach den Kämp­fen nahm eine enor­me Fül­le von Gebräu­chen und Opfern die Auf­merk­sam­keit in Anspruch.” (Jacob Burk­hardt, Kul­tur­ge­schich­te Griechenlands)

III: Heroi­scher Realismus

Die­ser Begriff wur­de von Den­kern wie Wal­ter Best, den Gebrü­dern Jün­ger und Alfred Baeum­ler in den 20er Jah­ren im Umfeld der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on geprägt. Auch Begrif­fe wie „tap­fe­rer Pes­si­mis­mus“, „heroi­scher Nihi­lis­mus“ oder „skep­ti­scher Enthu­si­as­mus“ tau­chen hier auf, um eine Gestimmt­heit aus­zu­drü­cken, die sich wesent­lich auf Nietz­sche und des­sen „amor fati“, der Lie­be zum Schick­sal also, bezieht. „Ich will immer mehr ler­nen, das Not­wen­di­ge an den Din­gen als das Schö­ne sehen – so wer­de ich einer von denen sein, wel­che die Din­ge schön machen. Amor fati: das sei von nun an mei­ne Lie­be!“ (Nietz­sche, Die fröh­li­che Wis­sen­schaft, 276) Im nächs­ten Apho­ris­mus ver­tieft Nietz­sche den Gedan­ken: „Es gibt einen gewis­sen hohen Punkt des Lebens: haben wir den erreicht, so sind wir mit all uns­rer Frei­heit, und so sehr wir dem schö­nen Cha­os des Daseins alle für­sor­gen­de Ver­nunft und Güte abge­strit­ten haben, noch ein­mal in der größ­ten Gefahr der geis­ti­gen Unfrei­heit und haben unse­re schwers­te Pro­be abzu­le­gen. Jetzt näm­lich stellt sich erst der Gedan­ke an eine per­sön­li­che Pro­vi­denz mit der ein­dring­lichs­ten Gewalt vor uns hin und hat den bes­ten Für­spre­cher, den Augen­schein, für sich, jetzt wo wir mit Hän­den grei­fen, daß uns alle, alle Din­ge, die uns tref­fen, fort­wäh­rend zum Bes­ten gerei­chen. Das Leben jedes Tags und jeder Stun­de scheint nichts mehr zu wol­len, als immer nur die­sen Satz neu bewei­sen; sei es was es sei, böses wie gutes Wet­ter, der Ver­lust eines Freun­des, eine Krank­heit, eine Ver­leum­dung, das Aus­blei­ben eines Briefs, die Ver­stau­chung eines Fußes, ein Blick in einen Ver­kaufs­la­den, ein Gegen­ar­gu­ment, das Auf­schla­gen eines Buches, ein Traum, ein Betrug: es erweist sich sofort oder sehr bald nach­her als ein Ding, das »nicht feh­len durf­te« – es ist voll tie­fen Sinns und Nut­zens gera­de für uns!“

Das alles besitzt eine exis­ten­zi­el­le Dring­lich­keit, denn was sowohl Nietz­sches „amor fati“ als auch den „heroi­schen Rea­lis­mus“ antreibt, ist der Nihi­lis­mus, der Tod Got­tes. Womit nicht ledig­lich Athe­is­mus gemeint ist, son­dern der Tod der Ver­nunft, des Sin­nes, der Wahr­neh­mung einer höhe­ren Ord­nung. Nichts ande­res auch spricht 1966 Mar­tin Heid­eg­ger in sei­nem berühm­ten Gespräch mit dem Spie­gel aus: „Uns bleibt die ein­zi­ge Mög­lich­keit, im Den­ken und Dich­ten eine Bereit­schaft vor­zu­be­rei­ten für die Erschei­nung des Got­tes oder für die Abwe­sen­heit des Got­tes im Unter­gang; dass wir im Ange­sicht des abwe­sen­den Got­tes unter­ge­hen.“ Gott ist uns abwe­send gewor­den, die gan­ze Welt ist uns abwe­send gewor­den, sie zer­rinnt dem Men­schen wie fei­ner Sand zwi­schen sei­nen Fin­gern, ato­mi­siert und ihrer Bin­dun­gen beraubt.

Amor Fati ist eine Ant­wort dar­auf, die Beja­hung des Wirk­li­chen, die Beja­hung des­sen, was als kon­kre­tes Gesche­hen sich gera­de im Zuge von tau­sen­den, oft belang­los und zufäl­lig emp­fun­de­ner Klei­nig­kei­ten im Leben als Schick­sal mani­fes­tiert. Die gro­ße Erzäh­lung bleibt aus, Jesus steigt nicht erneut vom Him­mel her­ab und spen­det ewi­ges Leben, doch man ver­staucht sich den Fuß und ent­deckt, da man nun bewe­gungs­un­fä­hig eini­ge Tage lang zuhau­se sitzt, ein ver­ges­se­nes, groß­ar­ti­ges Buch im Regal. Amor Fati bedeu­tet, dass in der Phi­lo­so­phie des Abend­lan­des zum ers­ten Mal das Wirk­li­che als Bedeut­sa­mes sicht­bar wird.

Doch auch hier schlägt Moh­ler schließ­lich einen ande­ren Weg ein als sei­ne Vor­gän­ger. Rück­sichts­voll ver­schweigt er, dass bedeu­ten­de Ver­tre­ter des heroi­schen Rea­lis­mus wie Wer­ner Best oder Alfred Baeum­ler in den 30ern zu füh­ren­den Natio­nal­so­zia­lis­ten wer­den. Der heroi­sche Rea­lis­mus bejaht die Kon­kre­ti­on des eige­nen Daseins in indi­vi­du­el­ler und geschicht­li­cher Hin­sicht als Schick­sal, das er auf eine sol­da­ti­sche Wei­se annimmt und kämp­fe­risch zu bewäl­ti­gen ver­sucht. Nicht zuletzt dürf­te hier Nietz­sches Figur des “Über­men­schen” wirk­sam sein, des Men­schen also, der selbst “Gott” wird, die Welt also aus sei­nem eige­nen, vor Kraft über­strö­men­den Ver­mö­gen her­aus zu schaf­fen ver­mag. Durch die Tat, durch den Kampf, durch Poli­tik und Revo­lu­ti­on soll im Voll­zug des Wirk­li­chen die Sinn­haf­tig­keit wie­der in die Welt her­ein­ge­zwun­gen werden.

Nach­kriegs­den­ker wie Moh­ler und auch Heid­eg­ger reflek­tie­ren den Umstand, daß die­ser Ver­such im Gemet­zel endet, auch wenn sie als ten­den­zi­ell „Rech­te“ das laut­star­ke Mora­li­sie­ren ver­mei­den. Bei Heid­eg­ger beginnt eine sper­ri­ge Sprach­lo­sig­keit, die weder zur über­wun­de­nen Meta­phy­sik noch zur Idea­li­sie­rung der Tat neigt – die er nun der „Tech­nik“, also dem bloß Gemach­ten, Unei­gent­li­chen zurech­net. (Lesens­wert dazu: “Tat­kult und Revo­lu­ti­on von rechts” von Mar­tin Sell­ner) Das War­ten auf etwas, das von sich aus ohne Zwang ein­tre­ten soll, als “Lich­tung”, Welt­erfah­rung als “Gelas­sen­heit”. Damit nähert er sich dem fern­öst­li­chen Den­ken, spe­zi­ell dem Zen-Bud­dhis­mus an, doch bleibt bei uns weit­ge­hend unverstanden.

Bei Moh­ler wird der „heroi­sche Rea­lis­mus“ nun, allen poli­ti­schen Über­schwan­ges ent­klei­det, streng nomi­na­lis­tisch gedeu­tet: als ein durch die eige­ne Bedingt­heit moti­vier­tes Han­deln. Daß also gera­de im Bewußt­sein der letzt­hin­ni­gen Man­gel­haf­tig­keit der Welt und des Men­schen, im Bewußt­sein des Beschränkt­seins der eige­nen Wirk­sam­keit der Mensch zur einer sin­vol­len Auf­fas­sung des Tätig­seins gelangt. Daß er gera­de das, was ihm jeweils schick­sals­haft zukommt, sei­ne eige­nen Fähig­kei­ten, sei­ne Umge­bung, sei­ne geschicht­li­che Posi­ti­on in sei­ner Schön­heit als Wirk­li­ches bejaht und in die­ser Beschrän­kung mit­tels den ihm gege­be­nen Fähig­kei­ten kon­struk­tiv zu gestal­ten ver­sucht, ohne grö­ßen­wahn­sin­nig, zynisch oder ver­bre­che­risch zu wer­den. „Nun gibt es einen Men­schen­ty­pus, der weden den einen noch den ande­ren die­ser bei­den Wege [Gulag und Mafia] geht und mit die­ser Anders­ar­tig­keit die Pfei­le aller Gut-Den­ken­den und aller Abs­trakt-Den­ken­den auf sich zieht. Wie reagiert er auf die Sterb­lich­keit, die Unvoll­kom­men­heit des Men­schen? Der Mensch, der sich der con­di­tio huma­na sowohl im Kopf wie in Herz und Ein­ge­wei­den bewußt ist, weiß, daß er die Welt nicht geschaf­fen hat und sie in ihrer Grund­struk­tur nicht ver­än­dern kann. Er spürt aber auch, daß das kein Anlass zur Resi­gna­ti­on ist – im Gegen­teil. Das unter­schei­det ihn vom Libe­ra­len, den es lähmt, dass sei­ne im Intel­li­gi­bi­täts-Rausch ent­wor­fe­nen Uto­pien sich nie ver­wirk­li­chen las­sen. […] Was mich bei die­sen Leu­ten am meis­ten beein­druck­te, war eine skep­ti­sche Lebens­zu­ver­sicht, die meist mit einer hand­fes­ten Lebens­tüch­tig­keit ein­her­ging. Eine weder begeis­ter­te noch ent­mu­tig­te Beja­hung „der Welt, wie sie ist“ – ganz ohne Illu­sio­nen. Das Leid, das Unglück, die mensch­li­chen Schwä­chen gehör­ten für sie ganz selbst­ver­ständ­lich dazu.“

Moh­ler ersetzt die poli­ti­sche, natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re Aus­rich­tung durch eine zivi­le, er ent­wirft gewis­ser­ma­ßen die bür­ger­li­che Ver­si­on des “heroi­schen Rea­lis­ten”, einer Figur, für die es, wie er sagt “noch kei­nen Namen” gibt. Er ist kein Krie­ger, kein Arbei­ter, kein Revo­lu­tio­när und auch kein Rech­ter — wie Moh­ler betont, fin­det man ihn in jedem welt­an­schau­li­chen Lager. Statt­des­sen ver­weist er auf den Stoi­zis­mus der Anti­ke. An die Stel­le eines radi­ka­len, poli­ti­schen Wir­kens tritt eine gelas­se­ne, “lebens­tüch­ti­ge” Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Rea­len, sei­ne Akzep­tanz auch dort, wo es sich über­mäch­tig, destruk­tiv oder amo­ra­lisch zeigt. Statt Gleich­gül­tig­keit (Mafia) oder Uto­pie (Gulag) ver­wirk­licht sich ein höhe­res “Ver­ste­hen”, das sich — fast ins­ge­heim — wie­der dem Ori­gi­nal­text von Moel­ler van den Bruck annä­hert, des­sen an Goe­the und die Roman­ti­ker ange­lehn­te Auf­fas­sung, daß sich erst jen­seits ratio­na­lis­ti­scher Zer­glie­de­rung der wah­re Reich­tum, die unaus­lot­ba­re Fül­le der Wirk­lich­keit im Erle­ben öffne.

Die drei Mög­lich­kei­ten eint, daß sie eine offe­ne Dia­lek­tik von Indi­vi­du­um und Gemein­schaft zu ent­wer­fen ver­su­chen, die ohne den Zwang nor­mie­ren­der Abs­trak­tio­nen aus­kommt. Die Men­schen wer­den weder als “Indi­vi­du­en” gleich­ge­macht und ent­wur­zelt, noch zu Arbeits­amei­sen eines tota­li­tä­ren Uto­pie­pro­jekts degra­diert. Durch das Ritu­al, durch den Agon, durch den “heroi­schen Rea­lis­mus” will Moh­ler dem heu­ti­gen Men­schen einen Weg aus dem Nihi­lis­mus zei­gen, Mög­lich­kei­ten eines sinn­haf­ten, über-indi­vi­du­ell gebun­de­nen Daseins, das ohne den auto­ri­tä­ren Zwang tota­li­tä­rer Ent­wür­fe aus­kommt. Mei­nes Erach­tens wird jede Kri­tik an der Moder­ne, sofern sie nicht in über­kom­me­ne Mus­ter zurück­zu­fal­len wünscht, hier anset­zen müssen.

Dabei aller­dings ist schwer zu über­se­hen, daß sei­ne Typi­sie­run­gen nicht mehr so weit ent­fernt sind von eini­gen Erschei­nungs­for­men des Libe­ra­lis­mus. So nähert sich Moh­lers “heroi­scher Rea­list”, der krie­ge­ri­schen Über­men­schen-Eso­te­rik der 20er und 30er Jah­re zuguns­ten stoi­zis­ti­scher Prag­ma­tik ent­le­digt, dem Ethos des libe­ra­len Bür­ger­tums des 19. Jahr­hun­derts an, das auf ähn­li­che Wei­se tat­sa­chen- und tat­ori­en­tiert, von einer prak­ti­schen Moral und gesell­schaft­li­chem Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein getrie­ben war. Von der zivi­len Sei­te der Säku­la­ri­sa­ti­on gewis­ser­ma­ßen, dem Bewußt­sein, daß der Mensch selbst für den Zustand der Welt ver­ant­wort­lich ist, ihn weder Gott noch König ret­ten werden.

Auch der Agon begeg­net uns in der Nach­kriegs­zeit nicht nur bei Moh­ler: er wird eben­falls auf­ge­grif­fen von links­li­be­ra­len Den­kern wie Michel Fou­cault, Jean-Fran­cois Lyo­tard, Han­nah Are­ndt und Chan­tal Mouf­fe, ein­ge­bet­tet in moder­ne Kon­zep­te plu­ra­lis­ti­scher Demo­kra­tie. Er ist über­dies nicht weit ent­fernt von der Argu­men­ta­ti­ons­struk­tur des Kapi­ta­lis­mus, wor­in der Wett­be­werb der Ein­zel­nen schließ­lich der Wei­ter­ent­wick­lung des Gan­zen dient — wenn­gleich auch der Kapi­ta­lis­mus uni­ver­sa­lis­tisch argu­men­tiert, wäh­rend der Agon immer schon einen durch regio­na­le, kul­tu­rel­le oder eth­ni­sche Bin­dun­gen kon­kret begrenz­te Räu­me bildet.

***

[1] Es will mir immer schei­nen, als hät­te das Phä­no­men des Sozia­lis­mus meh­re­re Asso­zia­ti­ons­ebe­nen und sei­ne eige­ne, gehei­me Psy­cho­lo­gie. Doch wäh­rend die rech­te Psy­cho­lo­gie (“Ver­hal­tens­wei­sen der Käl­te”, “auto­ri­tä­rer Cha­rak­ter” usw. usf.) in den Nach­kriegs­jahr­zehn­ten bis in die letz­te unter­be­wuß­te Fines­se hin­ein von lin­ken Intel­lek­tu­el­len ana­ly­siert und auf­ge­schlüs­selt wur­de, harrt die­sel­be Ana­ly­se lin­ker Psy­cho­lo­gie noch immer sei­ner Ent­de­ckung. Exem­pla­risch sei hier bloß ein Zitat aus Vol­ker Brauns “Das unge­zwung­ne Leben Kasts”, 1971 in der DDR erschie­nen, auf­ge­führt: “Oder auf dem Eisen­bie­ge­platz. Ein Hau­fen krum­mer Stä­be lag da, er wur­de immer grö­ßer. Ich sage, Kerl, du bescheißt dich sel­ber. Das Geld, das hier liegt, da könn­ten die Ren­ten, da könn­ten die Prei­se, Kuren, Löh­ne. Mensch, das Gelum­pe gehört doch nicht den Schlot­gra­fen. Du baust doch den Sozia­lis­mus, das heißt, so nicht. Aber ich allein, sagt er. Du und ich und die ande­ren auch, sage ich. Da kannst du die krum­men Stä­be nicht lie­gen las­sen, zieh sie durch und hämm­re, das macht kei­ne drei Pro­zent weni­ger. Aber das macht: bes­ser leben. Dazu musst du erst bes­ser sein. Du kannst mir, sagt er, hier denkt jeder an sich. Aber in der nächs­ten Zeit, das sah ich, nahm der Hau­fen nicht mehr zu.” — die Plan­wirt­schaft ist nicht ledig­lich ein wirt­schafts­po­li­ti­sches Modell, das in Leis­tungs-Kon­kur­renz zum Kapi­ta­lis­mus tritt, es besitzt eben­falls eine psy­cho­lo­gi­sche Ebe­ne: daß in der Plan­wirt­schaft alle zusam­men als Gemein­schaft die Zukunft schaf­fen, Und die­ser Gemein­schafts­ge­dan­ke ist es, der idea­ler­wei­se auch den Ein­zel­nen bes­sert, an das Bes­se­re in ihm appel­liert um das Schlech­te­re, näm­lich den blo­ßen Ego­is­mus, zu überwinden.
Die­ses Motiv wird letzt­lich auch von Moel­ler van den Bruck wahr­ge­nom­men, der es so ohne grö­ße­re Pro­ble­me in sei­ne tra­di­tio­na­lis­ti­sche Auf­fas­sung des zu errich­ten­den deut­schen Ide­al­staa­tes inte­grie­ren und mit mit­tel­al­ter­li­chen Ver­satz­stü­cken ver­schmel­zen kann: “Wir ver­ste­hen unter deut­schem Sozia­lis­mus viel­mehr eine kör­per­schaft­li­che Auf­fas­sung von Staat und Wirt­schaft, die viel­leicht revo­lu­tio­när durch­ge­setzt wer­den muß, aber als­dann kon­ser­va­tiv gebun­den sein wird. Wir nen­nen Fried­rich List einen deut­schen Sozia­lis­ten, weil sein außen­po­li­ti­sches Den­ken so durch­aus ein Wirt­schafts­po­li­ti­sches war. Und im innen­po­li­ti­schen Umkrei­se weist der Berufs­stän­de­ge­dan­ke auf den Frei­herrn vom Stein zurück, wie der Räte­ge­dan­ke auf das Zunft­we­sen des Mit­tel­al­ters zurück­weist. Gedan­ken aus ältes­ter Über­lie­fe­rung und Gedan­ken der jüngs­ten Ziel­er­fas­sung wei­sen auf die­sen deut­schen Sozia­lis­mus hin. Der Gedan­ke der Gemein­wirt­schaft weist auf ihn hin, der das Leben in der Zel­le erfaß­te. Und der Füh­rer­ge­dan­ke einer neu­en Jugend weist auf ihn hin, der das Leben nicht dem Men­schen über­läßt, wel­cher folgt, son­dern dem­je­ni­gen, wel­cher vor­an­geht. Die­ser deut­sche Sozia­li­si­nus ist nicht ato­mis­tisch. Er ist orga­nisch. Und er ist durch­aus dua­lis­tisch und polar, wie dies einem Lan­de ent­spricht, das in jeder Bezie­hung, von der geo­gra­phi­schen bis zu der tran­szen­den­ten, selbst dua­lis­tisch ist und in dem das Leben von sei­nen Gegen­sät­zen her im Gleich­ge­wich­te gehal­ten wer­den muß. Er setzt einen Men­schen vor­aus, der zu unter­schei­den weiß, und nicht, wie der Mensch des Wes­tens, immer nur sum­miert. Wir wol­len nicht, daß die Unter­schie­de tren­nen. Wir wol­len, dah sie ver­bin­den. Sozia­lis­mus ist für uns: Ver­wur­ze­lung, Staf­fe­lung, Glie­de­rung.” — die eigen­wil­li­gen Trans­for­ma­ti­ons­be­we­gun­gen sozia­lis­ti­scher Ideen der Wei­mar-Rech­ten sind bis­lang geis­tes­wis­sen­schaft­lich kaum näher ana­ly­siert wor­den. Viel­leicht des­halb, weil sie der inner­halb der links­ge­präg­ten Nach­kriegs­he­ge­mo­nie herr­schen­den The­se, wonach der Natio­nal­so­zia­lis­mus nichts mit Sozia­lis­mus zu tun hät­te, zu ekla­tant widersprechen.

[2]Gera­de auch im Deutsch­land der Nach­kriegs­zeit sto­ßen wir auf das eigen­tüm­li­che Phä­no­men – von mir bereits ein­mal im Text „Der Fall von Roger Hal­lam“ aus­führ­li­cher unter­sucht -, dass die Holo­caust­be­wäl­ti­gung eben­falls kol­lek­tiv sinn­stif­ten­de, reli­giö­se Züge ange­nom­men hat, des­sen Inten­si­tät mit wach­sen­der geschicht­li­cher Ent­fer­nung sogar zu stei­gen scheint. Vom „Natio­nal­ma­so­chis­mus“ spricht hier der Rech­te gern abfäl­lig, ver­kennt dabei aber viel­leicht die tie­fe, iden­ti­täts­bil­den­de Kraft des BRD-Ritu­als, die sich mani­fes­tiert, schlicht des­halb, weil Men­schen eines Ritu­als bedürf­tig sind, weil sie auch heu­te noch dem Hor­ror blo­ßer „Selbst­ver­wirk­li­chung“ irgend­wie zu ent­kom­men suchen, ihrem Leben im gemein­schaft­li­chen Selbst­op­fer einen über­ge­ord­ne­ten Sinn geben wol­len. Die Kli­schee­ge­stalt der 50jährigen, kin­der­lo­sen, grün-wäh­len­den Stu­di­en­rä­tin, die sich ehren­amt­lich für Flücht­lin­ge ein­setzt, kann leicht ver­lacht wer­den — doch ist nicht ver­ständ­lich, wie­so sie selbst sich dem sich bloß grei­nend-ego­is­ti­schen Wut­bür­ger inner­lich völ­lig über­le­gen fühlt? Sie hat eine Auf­ga­be im Rah­men einer grö­ße­ren Erzäh­lung gefun­den, in der Über­win­dung blo­ßer “Selbst­ver­wirk­li­chung” arbei­tet sie Sei­te an Sei­te mit der gan­zen Mensch­heit für ein bes­se­res Morgen.

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Posted on 30. Juli 20228. Januar 2024

3 thoughts on “Mohler gegen Böckenförde: zur Liberalismuskritik”

  1. Fehl-x sagt:
    14. Oktober 2022 um 13:49 Uhr

    Sehr geehr­ter Nigromontanus,
    Dan­ke für den anre­gen­den Text und die Gele­gen­heit, die­sen lesen zu können.
    Ich schrei­be die­sen Kom­men­tar , um auf eine wei­te­re Facet­te des Böcken­för­de Tex­tes hin­zu­wei­sen, die mei­ner per­sön­li­chen Lite­ra­tur­er­fah­rung geschul­det sein mag.
    Der Text von Böcken­för­de (‘Die Ent­ste­hung des Staa­tes als Vor­gang der Säku­la­ri­sa­ti­on’) hat­te für mich vor allem immer einen Klang, der war schmit­tia­nisch, und das hat sich auch noch mal durch die Lek­tü­re des Brief­wech­sels Böcken­för­de / Schmitt (den man für Umme run­ter­la­den kann: https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/welch-guetiges-schicksal-id-100820/) bestä­tigt.
    Man könn­te dies jetzt am Text — was die eigent­lich vali­de Metho­de wäre — ein­zeln nach­wei­sen, dafür ist an die­ser Stel­le aber wenig Raum, des­halb möch­te ich es bei 2 indi­zi­en­haf­ten Hin­wei­sen belassen:
    — Ein Blick in die Fuß­no­ten von Böcken­för­des Text offen­ba­ren eine ideen­ge­schicht­li­chen Hin­ter­grund, der schmit­tia­ni­scher kaum sein könn­te, als Ver­gleich könn­te man z.B. den ‘Nomos der Erde’ her­an­zie­hen. Die Ver­wei­se in den FN bezie­hen sich u.a. auf: Brun­ner, Bari­on, Schnur, die MA Aus­ein­an­der­set­zung von potes­tas direc­ta vs indi­rec­ta und an meh­re­ren Stel­len Schmitt selbst.
    — Der Erschei­nungs­ort des Auf­sat­zes: Ursprüng­lich erschie­nen in der Fest­schrift ‘Säku­la­ri­sa­ti­on und Utio­pie’ für Ernst Forst­hoff, ‘den Ebra­chern zuge­eig­net’. Was der Ebra­cher Kreis war und was er mit Schmitt zu tun hat­te, s. z.B. ‘Gesprä­che in der Sicher­heit des Schwei­gens’ v. van Laak, S. 200ff.
    Für mich war die­ser Auf­satz immer ein Bei­spiel für eine libe­ra­le Inter­pre­ta­ti­on (“Es führt kein Weg über die Schwel­le von 1789 zurück, ohne den Staat als die Ord­nung der Frei­heit zu zer­stö­ren”: Böcken­för­de im Auf­satz) von Schmitt, ein Bei­spiel für vie­le sol­cher Inter­pre­ta­tio­nen ins­be­son­de­re im Rit­ter Kreis. (s. hier­zu: Jens Hacke, ‘Phi­lo­so­phie der Bür­ger­lich­keit & auch der Brief­wech­sel Schmitt — Rit­ter in: Schmit­tia­na Neue Fol­ge Bd. II, S. 201ff.)
    Dies sind ein paar Stich­punk­te, die wie gesagt, auf mei­ner ganz per­sön­li­chen Lite­ra­tur­er­fah­rung beru­hen und viel­leicht auch ein paar Anre­gun­gen aus­lö­sen kön­nen so wie Ihr Text dies bei mir getan hat.
    Vie­le Grüße,
    Ihr Fehl‑x.

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    1. nigromontanus sagt:
      20. Oktober 2022 um 18:16 Uhr

      Vie­len Dank für die­se gehalt­vol­len Anmer­kun­gen. Mir war beim Schrei­ben durch­aus der schmit­tia­ni­sche Ein­fluß auf Böcken­för­de bewusst, aller­dings ist mir bei der Arbeit an mei­nem Text bewusst gewor­den, dass ich die­se für mei­ne Argu­men­ta­ti­on igno­rie­ren kann. Ledig­lich in Bezug auf den Agon hät­te man fra­gen kön­nen, was die­sen zusam­men­hält, wann das Ago­na­le zum Bür­ger­krieg oder zur Sezes­si­on zer­fällt. Wobei ich tat­säch­lich gera­de dabei bin, mich mit Schmitt zu beschäf­ti­gen, auch, weil ich den Ein­druck habe, daß er ähn­lich wie Moh­ler von Rech­ten zumeist sehr ober­fläch­lich und poli­tisch-instru­men­ta­li­sie­rend gele­sen wird.

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      1. Fehl-x sagt:
        31. Oktober 2022 um 9:49 Uhr

        Ja, wohl wahr. Die Wenigs­ten lesen nach der ‘Poli­ti­schen Theo­lo­gie’ den Peter­son Text ‘Mono­the­is­mus als poli­ti­sches Pro­blem’ oder Blu­men­berg, um tie­fer zu bohren.
        Die Arbeit am Text ist dann doch sehr mühselig.
        Sola scriptura.
        Für EINEN Rech­ten gilt das übri­gens nicht: Gün­ter Maschke hat sich da rein­ge­le­sen wie kaum ein Zwei­ter. Jede Zei­le vom ihm lesenswert.

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